Die juristische Presseschau vom 20. Oktober 2020: Wer hat das Sagen gegen Corona?  / Wire­card-Folgen für Prüfer? / Der­zeit keine Miet­ober­gren­ze bei Hartz IV

20.10.2020

Gesundheitsminister Spahn und die Opposition im Bundestag wollen mehr Einfluss auf die Corona-Politik. Finanzminister Scholz will Wirtschaftsprüfer in die Pflicht nehmen. Das LSG Niedersachsen legt Corona-Ausnahmen bei Hartz IV weit aus.

Thema des Tages

Corona – Infektionsschutzgesetz: Die FAZ (Heike Schmoll/Timo Frasch) berichtet über einen Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums, mit dem dessen Corona-Sonderbefugnisse über die Frist des 31. März 2021 hinaus verlängert und ausgeweitet werden sollen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) habe dabei die Rückendeckung aus Bayern. Die Opposition wolle dagegen den Bundestag stärker ins Spiel bringen. spiegel.de (Timo Lehmann/Christian Teevs) schildert die Debatte ebenfalls und weiß, dass Spahns Gesetzentwurf auf Regierungsebene vorerst von der SPD gestoppt wurde. Die taz (Christian Rath) erläutert, dass im Infektionsschutzrecht bisher fast alle wesentlichen Beschränkungen der Bürger von den Landesregierungen per Verordnung beschlossen wurden. Spahns Sonderbefugnisse beträfen bisher nur Randthemen. 

Die SZ (Daniel Brössler/Boris Herrmann) stellt Vorstöße der Opposition auf Stärkung des Bundestags in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung. Im Interview mit der taz (Daniel Godeck) erläutert Jan Korte (Linke) konkrete Vorschläge. So könne die Kanzlerin vor jeder Ministerpräsidentenkonferenz eine Regierungserklärung abgeben. Thorsten Frei (CDU) widerspricht den Vorstößen im Interview mit der SZ (Boris Hermann). Der Bundestag könne jederzeit Corona-Fragen diskutieren. Die Opposition müsse aber akzeptieren, dass sie nicht die Mehrheit habe. 

Gudula Geuther (deutschlandfunk.de) und Felix Zimmermann (zdf.de) fordern die Parlamente auf, ihre Möglichkeiten zu nutzen. Der Bundestag könne die Eingriffsbefugnisse im Infektionsschutzgesetz und deren Voraussetzungen konkretisieren, so dass die Landesregierungen weniger auf die Generalklausel des Gesetzes zurückgreifen können. Die Landtage könnten die Entscheidungen ihrer Landesregierungen an sich ziehen und steuern.

Rechtspolitik

Wirtschaftsprüfer: Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) gab jetzt den Entwurf eines Gesetzes "zur Stärkung der Finanzmarktintegrität" in die Ressortabstimmung der Bundesregierung, berichtet die SZ (Cerstin Gammelin). Das Gesetz sieht als Reaktion auf den Wirecard-Skandal striktere Pflichten und Auflagen für Wirtschaftsprüfer und ein härteres Durchgreifen der Finanzaufsicht bei Verdacht auf kriminelle Machenschaften vor. Bilanzprüfer sollen alle zehn Jahre das Unternehmen wechseln und stärker für ihre Ergebnisse haften. 

Das Institut der Wirtschaftsprüfer lehnt laut FAZ (Georg Giersberg) die Vorschläge von Scholz ab. Bei krimineller Energie komme die private Governance an ihre Grenzen. Die Wirtschaftsprüfer wollen, dass bei allen Unregelmäßigkeiten die Bankenaufsicht Bafin eingeschaltet werden muss. Bei Verdacht auf systematischen Betrug solle das Bundeskriminalamt eingreifen. 

Tatprovokation: Der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsanwaltkammer fordern laut LTO (Hasso Suliak) eine gesetzliche Klarstellung, dass die Tatprovokation durch V-Leute zu einem Verfahrenshindernis führt. Sie reagieren damit auf eine erneute Verurteilung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Rechtsprechung des 2. BGH-Strafsenats von 2015, der bereits ein Verfahrenshindernis annahm, sei nicht einmal am BGH allgemein akzeptiert. 

Geldwäsche: Rechtsprofessor Matthias Jahn kritisiert gemeinsam mit den Anwälten Björn Gercke und Corinna Reckmann auf LTO den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verschärfung des Geldwäsche-Paragrafen im Strafgesetzbuch. Der Verzicht auf einen einschränkenden Vortatenkatalog werde vor allem Kleinkriminelle betreffen und habe mit der angeblichen Bekämpfung der Organisierten Kriminalität nichts mehr zu tun. Die Aufnahme des Strafverteidigerprivilegs ins Gesetz zeichne nur ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2003 nach. Der eigentlich geplante Verzicht auf das Delikt der "leichtfertigen" Geldwäsche wurde nach Kritik aus Polizeikreisen wieder aufgegeben. 

Kandidatenaufstellung: Anna Notz (Verfassungsblog) kritisiert eine vorige Woche beschlossene Änderung des Bundeswahlgesetzes, wonach Parteien künftig Wahlbewerber auch ohne Versammlung aufstellen können, zum Beispiel per Briefwahl. Diese Möglichkeit besteht aber nur, wenn das Bundes-Innenministerium per Verordnung eine Sonderlage feststellt. Notz hält dies für eine unpassende Verlagerung demokratischer Entscheidungen auf die Exekutive. 

Digital Services: Mit Blick auf den bevorstehenden Vorschlag der EU-Kommission für ein Digital Services-Paket stellen die Grünen-Abgeordneten Renate Künast (Bundestag) und Alexandra Geese (Europaparlament) in einem Handelsblatt-Gastkommentar ihre Wünsche vor. Die Kommission soll die Fehler des deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes vermeiden und nutzerfreundliche Beschwerdeverfahren vorsehen. Auch Messengerdienste wie Telegram sollten erfasst werden. Zentral sei, Transparenz über Algorithmen sozialer Netzwerke herzustellen. Tracking-Technologien sollen offengelegt werden. Es solle schlagkräftige europäsiche Aufsichtsbehörden geben. Die Zivilgesellschaft soll über Social-Media-Räte eingebunden werden. 

BND-Gesetz: Der Journalist und Doktorand Daniel Moosbrucker kritisiert auf netzpolitik.org ausführlich den Gesetzentwurf für die Neuregelung der BND-Überwachungsbefugnisse nach dem Karlsruher Urteil vom Mai. Der geforderte Schutz von ausländischen Journalisten sei mehr als löchrig ausgefallen. 

Verantwortungseigentum: Die Anwältin Birgit Spießhofer fragt im FAZ-Einspruch, ob die von einer Unternehmer-Initiative vorgeschlagene Einführung von Verantwortungseigentum nur "die Macht der Unternehmenseigentümer durch die der Manager ersetzt, deren Machtfülle und Eigenmächtigkeit spätestens seit der Finanzkrise in die Kritik geraten ist?" Spießhöfer schlägt vor, als Alternative die "Benefit Corporations" zu prüfen, die in 35 US-Bundestaaten vorgesehen sind. Diese müssen in einem jährlichen "Benefit Report" die Einhaltung der gemeinwohlorientierten Ziele nachweisen.

Justiz

LSG Celle zu Hartz IV-Mietkosten: Hartz IV-Bezieher haben derzeit Anspruch auf Übernahme jeglicher Mietkosten, entschied laut LTO das Landessozialgericht Celle. Die Prüfung, ob die Mietkosten angemessen sind, sei mit Blick auf die Corona-Pandemie gesetzlich ausgesetzt. Dies gelte auch nach dem Umzug in eine neue Wohnung und auch für "Luxus-Mieten". Die Grenze der Kostenübernahme sei erst erreicht, wenn es sich bei der Zahlung nicht – wie behauptet – um Miete, sondern um die Rate für den Kauf eines Hauses handele. 

OLG Stuttgart zu Aras-Beschimpfungen: Die baden-württembergische Landtags-Präsidentin Muhteren Aras (Grüne) hatte im Streit mit Facebook und Youtube/Google um die Herausgabe von Nutzerdaten nur teilweise Erfolg. Die Bezeichnung "islamische Sprechpuppe" für Aras sei noch von der Meinungsfreiheit gedeckt. Dagegen überwiege bei Begriffen wie "Gestapo-Chefin", "Nazi" und "Faschistin" ihr Persönlichkeitsrecht, berichtet die StZ

AG Traunstein zu Polizist mit Hitler-Collage: Das Amtsgericht Traunstein hat einen Kriminalbeamten wegen Strafvereitelung im Amt und der Verwendung von Nazisymbolen zu elf Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Der Polizist hatte einen anderen Polizisten, dem Beteiligung an einem rechtsextremistischen Chat vorgeworfen wurde, gegen Ermittlungen geschützt, indem er den Sachverhalt zu dessen Gunsten falsch darstellte. In seinem Dienstzimmer hatte er eine Collage aufgehängt, auf der Hakenkreuze, eine SS-Rune und Hitlerbilder zu sehen waren, so spiegel.de.

OVG Lüneburg zu Corona-Beherbergungsverbot: Auf dem JuWissBlog bespricht nun auch der Jurastudent Christoph Schröder den Eilbeschluss, mit dem das Oberverwaltungsgericht Lüneburg vorige Woche das niedersächsische Beherberbungsverbot kippte. Die Beschränkung des Staates auf verhältnismäßige Maßnahmen erhöhe die Akzeptanz der Normadressaten, schreibt der Autor. 

Corona-Maßnahmen: LTO stellt neue Eilverfahren gegen Corona-Maßnahmen vor. So sei gegen das Beherbergungsverbot in Schleswig-Holstein jetzt das Bundesverfassungsgericht angerufen worden. Gegen die Sperrstunde für die Gastronomie in Nordrhein-Westfalen ging ein Eilantrag beim Oberverwaltungsgericht Münster ein. 

LG Trier – "Cyberbunker": Am Landgericht Trier hat der Prozess gegen acht Angeklagte begonnen, die ein Rechenzentrum für illegale Webseiten betrieben haben sollen. Ihnen wird Beihilfe zu den jeweiligen Taten der Webseitenbetreiber vorgeworfen. Am ersten Prozesstag wurde die Anklage vorgelesen. Der Prozess ist bis Ende 2021 terminiert. Die Angeklagten behaupten, sie hätten von den kriminellen Machenschaften ihrer Kunden nichts gewusst. Es berichten die FAZ (Julian Staib), LTO und zeit.de.

LG Potsdam – Führungsaufsicht für Horst Mahler: Das Landgericht Potsdam muss in den nächsten Tagen über Führungsaufsicht für den rechtsextremistischen Anwalt Horst Mahler entscheiden, der am 27. Oktober aus der Haft entlassen wird. Die Staatsanwaltschaft München hat beantragt, dass Mahler künftig nichts mehr publizieren darf – es sei denn er reicht den Text vorher beim Landeskriminalamt ein. Die SZ (Wolfgang Janisch) erinnert daran, dass die Meinungsfreiheit auch für Extremisten gilt, dass aber auch die Führungsaufsicht strenge Maßnahmen ermögliche. 

StA Frankfurt/M – Raser: Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hat den Mordvorwurf gegen zwei Raser fallengelassen und deren Entlassung aus der U-Haft bewirkt. Der Tod einer Skoda-Fahrerin sei wohl weniger durch das illegale Rennen der Raser auf einer Autobahn ausgelöst worden, als durch das Fahrmanöver eines unbeteiligten Autofahrers, berichtet spiegel.de. Wolfgang Janisch (SZ) hält die Schlussfolgerung der Ankläger für richtig. "Mord ist kein Reserveparagraf für jene Fälle, in denen wir aus Wut den Tätern die Höchststrafe an den Hals wünschen." Den Fahrern drohten dennoch hohe Strafen wegen des illegalen Autorennens. 

StA Frankfurt/M. – DFB-Steuerhinterziehung: Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hat die Steuer-Razzia beim Deutschen Fußballbund gegen den Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit verteidigt, berichtet LTO. Die Staatsanwaltschaft sei an Absprachen des DFB mit den Finanzbehörden nicht gebunden. Die Nachzahlung der wohl hinterzogenen Summe von 3,7 Millionen Euro lasse die Straftat nicht entfallen. Es habe auch keine strafbefreiende Selbstanzeige gegeben. 

StA Köln – Mossack Fonseca: Die Staatsanwaltschaft Köln hat gegen den deutschstämmigen Anwalt Jürgen Mossack Haftbefehl wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung erlassen. Der Anwalt hatte mit seiner panamaischen Kanzei Mossack Fonseca in großem Stil Briefkastenfirmen gegründet und unterhalten, die der Geldwäsche und Steuerhinterziehung dienten. Das System war 2016 durch die geleakten "Panama-Papers" bekannt geworden. Mossack lebt noch in Panama, kann das Land nun aber nicht mehr verlassen. Die SZ (Frederik Obermaier u.a. - sz.de-Zusammenfassung) widmet ihm eine Seite-3-Reportage. 

Commercial Court: Am 2. November nimmt in Baden-Württemberg ein Commercial Court die Arbeit auf. Am Landgericht Stuttgart und Mannheim werden jeweils eine neue Zivilkammer und Kammer für Handelssachen geschaffen, wo auch auf englisch verhandelt werden kann. Der neue Rechtsweg soll eine Alternative darstellen zu ausländischen Gerichten oder auch zur privaten Schiedsgerichtsbarkeit, berichtet die FAZ (Oliver Schmale)

Recht in der Welt

USA – Mauer zu Mexiko: Der US-Supreme Court wird sich demnächst mit dem Mauerbau an der mexikanischen Grenze befassen, berichtet spiegel.de. Es geht dabei um die Frage, ob Präsident Donald Trump legal handelte, als er ohne Zustimung des US-Kongress finanzielle Mittel aus Rüstungsprogrammen, die für andere Vorhaben vorgesehen waren, für den Mauerbau einsetzte. 

Sonstiges

Corona – Kontaktlisten: Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat europarechtliche Bedenken gegen die Sammlung von Gästedaten in der Gastronomie, berichtet bild.de (Karina Mössbauer/Peter Tiede). Die Daten seien nicht ausreichend gegen Missbrauch geschützt. Dies verstoße gegen EU-Datenschutzregeln. 

DDR-Juristen: Nun stellt auch die FAZ (Anna Kaminsky) das Buch "Diener zweier Herren" von Inga Markovits vor. Sie beschreibt am Beispiel der Juristischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität das durch Repression erzwungene angepasste Verhalten von Juristen in der DDR. 

Das Letzte zum Schluss

Corona und Abstand: Ein 71-jähriger Mann hat in Aachen mehrfach Menschen mit Pfefferspray besprüht, um den erforderlichen Corona-Abstand durchzusetzen, berichtet RNDBetroffen war eine Gruppe Jogger und ein radfahrendes Ehepaar. 

 

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lto/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 20. Oktober 2020: Wer hat das Sagen gegen Corona?  / Wirecard-Folgen für Prüfer? / Derzeit keine Mietobergrenze bei Hartz IV . In: Legal Tribune Online, 20.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43147/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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