Die juristische Presseschau vom 16. Oktober 2020: Ober­ge­richte zu Beher­ber­gungs­ver­boten / BVerwG zu DIHK-Äuße­rungen / Anhörung von Amy Coney Bar­rett

16.10.2020

Der VGH Mannheim und das OVG Lüneburg kippten Beherbergungsverbote, das OVG Schleswig entschied anders. Der DIHK darf sich nur zu wirtschaftspolitischen Tätigkeiten äußern. Die Anhörung der designierten Supreme-Court-Richterin Barrett ging zu Ende.

Thema des Tages

VGH Mannheim zu Beherbergungsverbot: Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat das baden-württembergische Beherbungsverbot auf Klage einer Familie aus Nordrhein-Westfalen mit sofortiger Wirkung außer Vollzug gesetzt. Es stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf Freizügigkeit gemäß Artikel 11 Grundgesetz dar und sei mutmaßlich verfassungswidrig. Es gebe in Beherbergungsbetrieben kein höheres Risiko als in den weiterhin geöffneten Gaststätten und Bars. Auch die Möglichkeit, durch Vorlage eines negativen Testergebnisses das Verbot zu umgehen, genüge nicht als Ausgleich. Denn derzeit sei nicht ausreichend sicher gewährleistet, dass ein Corona-Test von Reisenden so kurzfristig erlangt werden könne. Es berichten u.a. FAZ (Eckart Lohse/Heike Schmoll), LTO (Christian Rath), Tsp (Jost Müller-Neuhof), beck-aktuell und zeit.de.

Reinhard Müller (FAZ) erinnert daran, dass den Staat für coronabedingte Einschränkungen eine Begründungspflicht treffe. Wenn hinter dieser zurückgeblieben werde, dürfe man sich nicht wundern, wenn Gerichte die Maßnahmen aufheben. 

OVG Lüneburg zu Beherbergungsverbot: Auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht erklärte das dortige Beherbergungsverbot im Eilverfahren für rechtswidrig, melden LTO und beck-aktuell. Dort hatte ein Vermieter von Ferienhäuser geklagt. Das Gericht sah einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Berufsfreiheit.

OVG Schleswig zu Beherbergungsverbot: Allerdings scheiterte eine weitere Normenkontrollklage am Oberverwaltungsgericht Schleswig aufgrund einer Folgenabwägung, meldet faz.net. Würde der Vollzug des Beherbergungsverbotes jetzt ausgesetzt, könnten Menschen aus inländischen Risikogebieten zu touristischen Zwecken unkontrolliert nach Schleswig-Holstein kommen, argumentierten Richter. In Anbetracht der aktuellen Zahlen zu Neuinfektionen könne dies das öffentliche Gesundheitswesen gefährden.

Rechtspolitik

GWB-Digitalkonzerne: Den von der Bundesregierung beschlossenen Entwurf einer Kartellrechtsnovelle erläutern die Rechtsanwälte Nicolas Kredel und Jan Kresken auf LTO. Gegenüber dem Referentenentwurf gab es vor allem Änderungen bezüglich der Fusionskontrolle. So sollen die umsatzbezogenen Schwellenwerte in der Fusionskontrolle angehoben werden. Dies solle den Mittelstand entlasten und dazu führen, dass sich das Bundeskartellamt auf die wettbewerblich relevanten Zusammenschlussvorhaben großer Unternehmen konzentrieren könne. Bei aufwendigen fusionskontrollrechtlichen Hauptprüfverfahren soll die Prüffrist beim BKartA von vier auf fünf Monate verlängert werden können, wobei keine Beschränkung der Gesamtdauer aller Fristverlängerungen vorgegeben sei. Auch das Hbl (Till Hoppe/Hans-Peter Siebenhaar) berichtet und geht dabei auf Kritik des Bundesverbands der Deutschen Industrie ein.

Umsetzung EU-Urheberrechtsreform: Das Bundesjustizministerium hat seinen neuen Referentenentwurf für die Umsetzung der EU-Urheberrechtsrichtlinie veröffentlicht, den nun auch Julia Reda auf netzpolitik.org bespricht. Dabei kritisiert sie insbesondere die gegenüber dem Diskussionsentwurf verschlechterte Möglichkeit des "Pre-Flaggings", das Nutzern die Möglichkeit geben soll, Inhalte gegenüber Uploadfiltern vorsorglich als legal zu kennzeichnen. Dies soll nun nur möglich sein, wenn bereits ein Sperrverlangen von Urheberseite vorliegt. Gegen ein späteres Schutzverlangen seit also kein präventiver Schutz mehr möglich. Kritik von Julia Reda und anderen Kritikern referiert auch die SZ (Simon Hurtz)

Corona – Virtuelle Hauptversammlungen: Auch 2021 wird es virtuelle Hauptversammlungen geben, nachdem das Bundeskabinett eine Rechtsverordnung beschlossen hat, welche die Anwendung des entsprechenden COVID19-Maßnahmengesetzes bis zum 31.12.2021 verlängert. Wünschenswert sei aber, dass bei deren Durchführung hinsichtlich der Interaktion mit den Aktionären nachgebessert werde, schreibt Handelsblatt-Rechtsboard (Ulrich Noack).

Justiz

BVerwG zu DIHK: Das Bundesverwaltungsgericht hat einem Mitglied der Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen Recht gegeben, der seit 2007 Kompetenzüberschreitungen beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag, dem Dachverband der IHKen, beanstandet und deshalb den Austritt seiner Kammer begehrte. Der Dachverband habe sich wiederholt außerhalb seiner Kompetenzen zu allgemeinpolitischen Themen sowie einseitig zu Fragen der Umwelt- und Klimapolitik geäußert. Das BVerwG urteilte nun, es bestehe tatsächlich die Gefahr von Kompetenzüberschreitungen, weshalb der effektive Grundrechtsschutz für die Kammermitglieder den Austritt gebiete, berichten FAZ (Julia Löhr), Hbl (Frank Specht), beck-aktuell und LTO

Frank Specht (Hbl) sieht in dem Urteil einen "Maulkorb" für den DIHK. Zwar sei es angesichts der Zwangsmitgliedschaft vernünftig, dass sich der DIHK nur zu wirtschaftspolitischen Themen äußern dürfe, jedoch sei die Abgrenzung schwierig und die vom BVerwG gezogenen Grenzen zu eng. Künftig müsse der DIHK seinen Mitgliedern Möglichkeiten geben, Kompetenzverstöße intern zu rügen, damit diese nicht gleich den Klageweg beschreiten müssten.

EGMR zu Tatprovokation: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Deutschland für zwei Strafverfahren, die auf einer Tatprovokation beruhten, wegen Verstößen gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention verurteilt. In einem der zugrundeliegenden Fälle hatte eine Vertrauensperson einen Drogenhändler immer wieder bedrängt, ihm neben Cannabis und Kokain auch Heroin zu verkaufen, obwohl dieser dies zunächst abgelehnt und gesagt hatte, er wollte mit dem "Dreckszeug Heroin" nichts zu tun haben. Die Gerichte hatten zwar eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation festgestellt, die Beschuldigten aber dennoch – mit erheblichem Strafnachlass – verurteilt. LTO (Hasso Suliak) erläutert das Verfahren, die jüngere deutsche Rechtsprechung zur Tatprovokation sowie eine mögliche gesetzgeberische Regelung. Ein vom Deutschen Richterbund erarbeitetes Rechtsgutachten des Bundesjustizministeriums sehe eine fakultative Strafmilderung oder ein Absehen von Strafe im Fall einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation vor. 

EuGH – Regionale TV-Werbung: Nach Ansicht des EU-Generalanwalts ist es mit EU-Recht vereinbar, wenn nationalen TV-Anbietern gesetzlich verboten wird, regionale Werbung auszustrahlen, meldet LTO. Das in § 7 Abs. 11 Rundfunkstaatsvertrag statuierte Verbot diene dazu, den regionalen Werbemarkt den regionalen und lokalen Fernsehveranstaltern vorzubehalten, damit diese sich finanzieren könnten. Fernsehwerbung sei auch nicht mit Internetwerbung zu vergleichen, weshalb kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vorliege. 

BGH – Raubkopien auf YouTube: Die Video-Plattform YouTube muss das Verfolgen von Raubkopierern höchstwahrscheinlich nicht durch die Herausgabe von Nutzerdaten wie E-Mail-Adresse, Telefonnummer oder IP-Adresse ermöglichen. Dies habe sich in der mündlichen Verhandlung am Bundesgerichtshof abgezeichnet, meldet LTO. Im zugrundeliegenden Fall wollte der Filmverleiher Constantin Film Schadensersatz gegen drei Nutzer geltend machen, die Filme auf YouTube hochgeladen hatten, sah sich hieran aber mangels Kenntnis derer persönlichen Daten gehindert. Das Urheberrechtsgesetz und die zugrundeliegende EU-Richtlinie verpflichten den Betreiber nur zur Herausgabe von "Namen und Adresse", wovon nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes E-Mail-Adresse und Telefonnummern nicht umfasst seien. 

VG Minden zu Corona-Isolation: Das Verwaltungsgericht Minden hat laut LTO einer Pflegeheimbewohnerin im Eilverfahren Recht gegeben, die sich gegen ihre Isolation wegen des Verdachtes einer Corona-Infektion wehrte. Dabei ordnete das VG Minden die aufschiebende Wirkung der gegen diese Regelung erhobenen Klage an, da sie mangels tauglicher Ermächtigungsgrundlage nach summarischer Prüfung offensichtlich rechtswidrig sei. Auch sei die Formulierung eines "konkreten Anlasses" in der Verfügung zu ungenau.

Recht in der Welt

USA – Bader Ginsburg-Nachfolge: Vor dem Justizausschuss des US-Senats ist die Anhörung der von Präsdent Trump nominierten Supreme-Court-Kandidatin Amy Coney Barrett zu Ende gegangen. Gemäß der SZ (Christian Zaschke) verlief die Anhörung vor dem Hintergrund der politischen Spaltung im Land ungewohnt zivilisiert. Die demokratischen Senatoren hätten Barrett zwar scharf kritisiert, seien dabei aber moderat im Ton gewesen. Barrett sei bei den besonders umstrittenen Themen Abtreibung und Krankenversicherung den meisten Fragen ausgewichen. Dies schildert auch die taz (Dorothea Hahn) und nennt Barretts Antwortverhalten ein "Lavieren". Nach Meldung von zeit.de (Sören Götz) werde der Justizausschuss am 22. Oktober eine erste Abstimmung abhalten, in der darauffolgenden Woche entscheide dann der Senat – noch vor der Präsidentschaftswahl am 3. November.   

Für Christian Zaschke (SZ) steht die fachliche Qualifikation Barretts außer Frage. Dennoch wirke es, als hätten die USA die Zeit zurückgedreht, wenn auf die progressive Ruth Bader Ginsburg, die sich Zeit ihres Lebens für die Rechte von Frauen eingesetzt habe, eine erklärte Abtreibungsgegnerin folge.

USA – Supreme Court: Die Politisierung des US-amerikanischen Supreme Courts behandelt der Wissenschaftliche Mitarbeiter Theodor Shulman auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache). Die Politisierung schreite mit der Nominierung der konservativen Richterin Amy Coney Barrett fort und berge die Gefahr, dass das Gericht seine gesellschaftliche Anerkennung verliere. Dennoch solle man die Richter nicht voreilig abschreiben: Um ihre Autorität zu bewahren, sei es in ihrem eigenen Interesse, Zurückhaltung zu wahren und der Versuchung zu widerstehen, mit einer konservativen Mehrheit Präzedenzfälle zu kippen.

China – Sicherheitsgesetz Hongkong: Die Welt (Maximilian Kalkhof) berichtet exklusiv über ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags. Danach verstößt das Sicherheitsgesetz für Hongkong gegen internationale Menschenrechte, zum Beispiel das Recht, gegenüber der Polizei und der Jusitz zu schweigen. Auch enthalte das Gesetz Elemente eines politischen Strafrechts. 

Spanien – Richterwahl: Der spanische Rechtsprofessor Jordi Nieva-Fenoll stellt auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) einen Gesetzentwurf der sozialistischen Regierung vor, der die erforderliche Mehrheit für die Wahl der höchsten Richterpositionen senken soll. Da es derzeit zu einer Blockade durch die konservative Partido Popular komme, sollen zwölf der zwanzig Mitglieder des Generalrates der rechtsprechenden Gewalt lediglich mit absoluter Mehrheit, anstatt wie bisher mit drei Fünfteln gewählt werden. Die Absenkung der erforderlichen Mehrheit werde die Richterwahl aber weiter politisieren und könne von einer zukünftigen rechten Regierung ausgenutzt werden. 

Finnland – Sexuelle Belästigung: Über die in Finnland geplante Kriminalisierung des Versenden sogenannter "Dick Pics" berichtet nun auch die taz (Carolina Schwarz) und verweist auch auf die deutsche Rechtslage. Hierzulande stehe das Versenden bereits nach § 184 Strafgesetzbuch als "unerlaubte Verbreitung pornographischer Schriften" unter Strafe, was aber die sexistische Komponente der Handlung nicht berücksichtige. Auch ein Foto könne belästigend sein. 

Juristische Ausbildung

Reform in NRW: Nordrhein-Westfalen plant eine Reform der Juristenausbildung, die das Studium wohl noch anspruchsvoller lassen werde und deren Eckpunkte LTO (Marcel Schneider) vorstellt. Es soll zusätzliche Hausarbeiten und einen veränderten Pflichtstoff geben, das "Abschichten" abgeschafft werden und die mündliche Note nur noch mit 35 statt mit 40 Prozent in die Endnote einfließen. Dafür werde es erweiterte Möglichkeiten für einen Freischuss geben, wenn Studierende etwa bei einer studentischen Rechtsberatung (Law Clinic) oder einem Moot Court teilnehmen. 

Sonstiges

Diskriminierung unter Privaten: Im FAZ-Einspruch zeichnet Rechtsprofessor Ulrich Jan Schröder die Entwicklung von Rechtsprechung und Politik nach, die zunehmend Diskriminierungsverbote auch unter Privaten statuieren, beispielsweise im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Es gehe dabei aber nicht um die Gleichheit als Selbstzweck und nicht um Gleichbehandlung in jeder Hinsicht, sondern lediglich um den Schutz vor beleidigender und unsachlicher Diskriminierung im Zusammenhang mit Massengeschäften und im Arbeitsrecht. Gleichheit zwischen Privaten sei als ein Missbrauchsverbot zu verstehen und richtigerweise darauf zu beschränken.

Wirecard: Im Interview mit beck-aktuell (Joachim Jahn/Monika Spiekermann) gibt der Professor für Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftsprüfungs- und Beratungswesen Hansrudi Lenz Auskunft über den Wirecard-Skandal. Es bestehe der begründete Verdacht, dass der Konzernabschlussprüfer gesetzliche Vorschriften und Prüfungsstandards missachtet habe. Zwar könne von einer Abschlussprüfung nicht erwartet werden, dass sie mit absoluter Sicherheit jede Bilanzmanipulation aufdecke, jedoch habe der Gesetzgeber in § 317 I 3 HGB in Bezug auf die Aufdeckung von bewussten Falschdarstellungen eine "positive Suchverantwortung" des Abschlussprüfers statuiert.

Das Letzte zum Schluss

"Ich hab noch einen Koffer…": Drei Kilogramm Marihuana hatte der Mann in Bremen dabei, der einen blauen Hartschalenkoffer am Bahnhof stehen ließ und damit einen Polizeieinsatz auslöste. Mehrere Gleise mussten für zwei Stunden gesperrt werden, 18 Züge verspäteten sich nach Meldung von spiegel.de

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mps

(Hinweis für Journalisten)   

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 16. Oktober 2020: Obergerichte zu Beherbergungsverboten / BVerwG zu DIHK-Äußerungen / Anhörung von Amy Coney Barrett . In: Legal Tribune Online, 16.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43124/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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