Die juristische Presseschau vom 9. Oktober 2020: Der BGH wird 70 / Keine Unter­schrift unter Gesetz gegen Hass­kri­mi­na­lität / Triage in Coro­na­zeiten

09.10.2020

In Karlsruhe wurde der 70. Jahrestag des BGH gefeiert. Bundespräsident Steinmeier will der Koalition verfassungskonformes Gesetz gegen Hasskriminalität ermöglichen. Strafrechtler-Tagung diskutiert über Triage im Gesundheitssystem.

Thema des Tages

70 Jahre BGH: Der Bundesgerichtshof feierte am Donnerstag sein 70-jähriges Bestehen, ebenso die Bundesanwaltschaft. Wegen der Corona-Pandemie musste der geplante pompöse Festakt ausfallen. Stattdessen gab es eine Diskussion über den Rechtsstaat in Deutschland in Talkshow-Format im SWR, moderiert von ARD-Rechtskorrespondent Frank Bräutigam. Dabei ging es unter anderem um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit des Gerichts, Vertrauen der Bürger in die Justiz und bessere Kommunikations- und Medienarbeit der Gerichte, um eine größere Bandbreite an Menschen zu erreichen. Es berichten LTO (Christian Rath), swr.de (Michael-Matthias Nordhardt) und der Rechtsprofessor Joachim Jahn auf beck-aktuell

tagesschau.de (Frank Bräutigam) gibt einen kurzen Überblick über die verschiedenen Rechtsgebiete, zu welchen der Bundesgerichtshof bereits urteilte und so eine wichtige Rolle im Alltagsleben der Bürger spielte. Die FR (Ursula Knapp) beschreibt, wie lange es dauerte, bis der BGH einen klaren Bruch mit der NS-Justiz gezogen hat.

Rechtspolitik

Hasskriminalität: Der SZ (Wolfgang Janisch) liegt ein Schreiben des Bundespräsidialamts an den Bundesrat vor, wonach Bundespräsident Steinmeier das Ausfertigungsverfahren für das Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität aussetzen wird. Die Bundesregierung soll bis Jahresende Änderungen einbringen, mit denen der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Juli zur Bestandsdatenauskunft berücksichtigt wird. Die nicht allzu hohen Karlsruher Anforderungen (keine Abfrage ins Blaue hinein) sollen nun im Gesetz gegen Hasskriminalität noch ausdrücklich umgesetzt werden. Ein solches Nachbesserungsverfahren ist vom Grundgesetz nicht vorgesehen. Auf netzpolitik.org (Thomas Rudl) wird darüber hinaus Kritik am bisherigen Gesetzgebungsprozess referiert, insbesondere von Ulf Buermeyer (Gesellschaft für Freiheitsrechte) und Renate Künast (Grüne). 

Lieferketten und Menschenrechte: In einem Gastbeitrag für den FAZ-Einspruch diskutieren die Rechtsanwälte Boris Kasolowsky und Marlen Vesper-Gräske den vom Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments vorgelegten Vorschlag für eine EU-Richtlinie zur Kontrolle von Lieferketten. Das Parlament hat die EU-Kommission aufgefordert, einen entsprechenden Gesetzesvorschlag zu unterbreiten, da allein diese für Gesetzgebungsvorschläge, die sekundäres Gemeinschaftsrecht betreffen, zuständig sei. Der Entwurf des Parlaments geht in einigen Punkten über das in Deutschland momentan diskutierte Lieferkettengesetz hinaus. Es sollen etwa auch Unternehmen aus Drittstaaten einbezogen werden und es soll keine Untergrenze für die Größe der betroffenen Unternehmen geben.

Geldwäsche: Die FAZ (Marcus Jung) erläutert die vom Bundesministerium für Finanzen erlassene Verordnung zu "nach dem Geldwäschegesetz meldepflichtigen Sachverhalten im Immobilienbereich". Gemäß Studien der Universität Halle-Wittenberg und von Transparency International sind 30 Prozent aller illegalen Vermögenswerte in Deutschland in Immobilien investiert. Die Verordnung nimmt nun vor allem Notare und Anwälte stärker in die Pflicht, auffällige Sachverhalte im Immobiliensektor an die Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen zu melden. In einem gesonderten Kommentar weist Marcus Jung (FAZ) darauf hin, dass die Meldepflicht allein nicht die Lösung des Problems der Geldwäsche durch Immobilien sei. Es müsse darüber hinaus deutlich mehr in die Personalaufstockung der Strafverfolgungsbehörden investiert werden.

Justiz

EuGH zu Vertragswiderruf bei Online-Partnervermittlung: Der Europäische Gerichtshof hat über die Bestimmung zum Wertersatz im Rahmen eines Vertragswiderrufs mit der Online-Partnervermittlung Parship entschieden. Derartige Verträge seien im Einklang mit der EU-Verbraucherrichtlinie grundsätzlich widerrufbar und bei der Berechnung des Wertersatzes für bereits erbrachte Leistungen kann das Unternehmen nur den Anteil der bezahlten Vertragssumme behalten, der dem Zeitablauf bis zum Widerruf entspricht Das AG Hamburg hatte sich mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den Europäische Gerichtshof gewandt, nachdem eine Verbraucherin geklagt hatte, weil sie nach 4 Tagen den Vertrag mit Parship widerrief, aber nicht die vollen 523,95 Euro zurückerhielt, die eine Premium-Mitgliedschaft bei der Partnervermittlung jährlich kostet. Das Unternehmen begründete dies damit, dass bereits ein umfassender Persönlichkeitstest mit der Verbraucherin durchgeführt worden sei und sie schon viele Vorschläge von Singles aus ihrer Umgebung erhalten habe. Somit sei die Hauptleistung des Vertrages bereits überwiegend erfüllt.Die Frau wird also wohl nur anteilig für die 4 Tage ihrer Mitgliedschaft zahlen müssen. Es berichten FAZ (Marcus Jung), rnd.de (Christian Rath), LTO, tagesschau.de (Bernd Wolf) und spiegel.de

EuGH zu Vorratsdatenspeicherung: Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) begrüßt auf dem Verfassungsblog das neue Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung und ordnet es in die bereits existierende Rechtsprechung des Gerichtshofes zu diesem Thema ein. Auf netzpolitk.org beantwortet die Menschenrechtsorganisation Privacy International in einem Gastbeitrag acht Fragen rund um das Urteil und hält es ebenfalls grundsätzlich für begrüßenswert. 

BGH zur Kündigung von Behandlungsverträgen: Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass ein Vertrag über eine Mutter-Kind-Kur als Behandlungsvertrag zu verstehen sei und somit ein sanktionsloses Kündigungsrecht existiere, wie LTO berichtet. Eine Mutter hatte eine dreiwöchige Kur zehn Tage vor dem Ende abgebrochen. Dafür hatte die Klinik 80 Prozent der verbleibenden Tagessätze gefordert, welche die Mutter nun laut Bundesgerichtshof nicht zahlen muss.

OLG München – IS-Rückkehrerin Jennifer W.: Laut SZ (Annette Ramelsberger) hat die Angeklagte Jennifer W. im weltweit ersten Verfahren, in dem die Verbrechen des Islamischen Staats gegen die Jesiden aufgeklärt werden sollen, vor dem Oberlandesgericht München ihr Schweigen gebrochen. Von ihrer Anwältin lässt sie ein Bild zeichnen von ihrer unruhigen Kindheit und wie sie den Weg zum Islam fand.

KG Berlin – Mord an Georgier im Tiergarten: Am zweiten Prozesstag vor dem Kammergericht Berlin wurden zwei Zeugen zum Hergang der Tat gehört, die sich jedoch beide nicht mehr genau an das Geschehen vor über einem Jahr erinnern können. Gleichzeitig ließ Moskau verlauten, dass es nicht mit einer objektiven Aufklärung der Tat rechne. Es berichtet die SZ (Julia Bergmann).

VG Neustadt zu Corona und Sexkinos: Wenn in einem Sexkino "überwiegend oder ausschließlich Filme" gezeigt werden, kann dieses nicht als Prostitutionsstätte betrachtet werden und darf somit im Hinblick auf die Corona-Abstandsregeln nicht anders behandelt werden als ein klassisches Kino, entschied das Verwaltungsgericht Neustadt. Es berichten FAZ, LTO und spiegel.de.

VG Gera zu Neutralitätspflicht eines OB: Das Verwaltungsgericht Gera hat entschieden, dass der Altenburger Oberbürgermeister André Neumann seinen eigenen, vom Gericht selbst als mit dem staatlichen Neutralitätsgebot unvereinbar eingestuften Tweet retweeten darf, wenn er sich seine ursprüngliche Äußerung nicht erneut zu eigen mache, wie LTO schreibt. Neumann hatte auf Twitter darauf hingewiesen, dass das Gericht einem Eilantrag des thüringischen AfD-Fraktionsvorsitzenden Bernd Höcke gegen ihn stattgegeben hatte, und dabei auf seine ursprüngliche Äußerung verwiesen, in der er Höcke und Kalbitz als Nationalsozialisten bezeichnete. 

VG Aachen zu Polizeianwärtern und sexueller Nötigung: Laut spiegel.de und LTO hat das Verwaltungsgericht Aachen entschieden, dass die Polizei Bewerber ablehnen darf, gegen die wegen sexueller Nötigung ermittelt wird. 

ArbG Stuttgart – Missbrauchsvorwürfe im SWR: Die taz (Anne Fromm) widmet sich in einer zweiseitigen Reportage den Vorwürfen der sexuellen Belästigung gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des SWR, die im Rahmen eines Verfahrens vor dem Arbeitsgericht Stuttgart zutage gekommen sind. 

VG Koblenz zu Maskenpflicht im Unterricht: Wie LTO schreibt, hat das Verwaltungsgericht Koblenz im Eilverfahren entschieden, dass es nicht unverhältnismäßig ist, eine Maskenpflicht im Unterricht einzuführen, wenn dies unter den aktuellen Umständen geboten erscheint. Zwei Schülerinnen hatten gegen eine ab dem ersten Oktober auch während des Unterrichts geltende Maskenpflicht geklagt, die der Landkreis Neuwied nach stark angestiegenen Corona-Infektionszahlen in Schulen angeordnet hatte. 

BVerfG – Maskenpflicht im Bundestag: Die AfD-Fraktion hält die neu eingeführte Maskenpflicht im Bundestag für unverhältnismäßig und will dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht Klage erheben, wie LTO berichtet. Die Fraktion hatte am Dienstag einen entsprechenden Entschluss gefasst, da der Nutzen eines Mund-Nase-Schutzes "höchst umstritten" sei. Des Weiteren stritt sie das Bestehen einer pandemischen Lage ab. 

Jahrestagung der OLG-Präsidenten: LTO (Markus Sehl) berichtet von der 72. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des BGH. Wichtigste Themen der Tagung waren die Modernisierung des Zivilprozesses, die Digitalisierung der Justiz, Frauenförderung und Nachwuchsgewinnung.

Recht in der Welt

EuGH – Verbot von Insektiziden in Frankreich: Laut spiegel.de hat der EuGH entschieden, dass in der EU grundsätzlich erlaubte Insektenschutzmittel, die sogenannten Neonicotinoide, in Frankreich weiter verboten bleiben dürfen. 

Spanien – Zwangsabriegelung von Madrid: Das Oberlandesgericht der Region Madrid hat die von der Zentralregierung angeordnete umstrittene Zwangsabriegelung Madrids gekippt. Die Anordnung stelle eine unrechtmäßige Beschränkung der Grundrechte dar, stellte das Gericht fest. Es berichten SZ, FAZ (Rainer Hermann) und taz (Reiner Wandler).

USA – Software und Urheberrecht: FAZ (Roland Lindner) berichtet über den Prozess vor dem US-Supreme Court, bei dem sich die Software-Unternehmen Oracle und Google gegenüberstehen. Während der wegen der Corona-Pandemie als Telefonkonferenz abgehaltenen Anhörung versuchten die Richter, Parallelen in der analogen Welt für die Bedeutung von Java für das Android-Betriebssystem zu finden. Je nach Auslegung wurde Java von verschiedenen Richtern mit Speisekarten in einem Restaurant, der Anordnung der Tasten auf einer Tastatur oder einem Tresor verglichen.

Sonstiges

Triage: Wie LTO (Pia Lorenz) berichtet, hat sich am Mittwoch das Who-is-Who der deutschen Strafrechtslehre getroffen, um über das Problem der Triage im Gesundheitssektor zu diskutieren. Es wurde zum Beispiel diskutiert, ob das Lebensalter ein entscheidendes Kriterium darstellen könne, wenn ein Arzt auswählen müsse, ob er einem alten oder einem jungen Patienten das Leben rette. 

Antisemitismus in der AfD: Ronen Steinke (SZ) widmet sich in einem Kommentar der moralischen und politischen Mitschuld der neuen Rechten und insbesondere der AfD an dem Anschlag von Halle vor einem Jahr und den damit zusammenhängenden antisemitischen Verstrickungen der Partei und parteinahen Gruppen.

Wucher: SZ (Viktoria Spinrad) verfolgt die Geschichte des Wuchers vom Alten Testament bis heute und gibt einen Überblick über die momentane Gesetzeslage. Die Autorin führt drei Beispiel von möglicherweise wucherhaften Rechtsgeschäften an: Der Schlüsseldienst, der für das Aufschließen einer Tür 400 € verlangt, die Wohnung, die 1200 € für 45 Quadratmeter kostet, oder der Minikredit mit einem Jahreszins von fast 15 Prozent.

Kanzleiwechsel: Wie LTO berichtet, schließen sich vier Partner der Kanzlei Latham & Watkins dem Düsseldorfer Büro von der Kanzlei Noerr an. FAZ (Marcus Jung) merkt an, dass dieser große Wechsel ungewöhnlich sei, da die Wechselbereitschaft vieler Anwälte in Deutschland seit der Corona-Pandemie sehr nachgelassen habe.

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/ls

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 9. Oktober 2020: Der BGH wird 70 / Keine Unterschrift unter Gesetz gegen Hasskriminalität / Triage in Coronazeiten . In: Legal Tribune Online, 09.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43054/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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