Die juristische Presseschau vom 11. September 2020: EuGH-Gene­ral­an­walt gegen Schächt­verbot / Haf­t­ent­schä­d­i­gung wird ver­d­rei­facht / Anwälte für Flücht­linge

11.09.2020

EuGH-Generalanwalt plädiert in Fall aus Belgien für Beachtung der Religionsfreiheit beim Schächten. Bundestag erhöht Entschädigung für Justizopfer. DAV macht Druck für Flüchtlings-Aufnahme nach Moria-Brand.

Thema des Tages

EuGH – Verbot des Schächtens: In einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof kam der Generalanwalt laut spiegel.de und LTO zum Schluss, dass ein Verbot der Schlachtung ohne Betäubung in der EU nicht zulässig sei, da es gegen die in der europäischen Grundrechtecharta verankerte Religionsfreiheit verstoße. Jüdische und muslimische Verbände hatten gegen ein solches in der belgischen Region Flandern existierendes Verbot geklagt. Die Schlachtung ohne Betäubung nach jüdischen beziehungsweise muslimischen Riten ist notwendig, um Fleisch koscher oder halal herzustellen. 

Rechtspolitik

Haftentschädigung: Der Bundestag hat beschlossen, die Entschädigung für zu Unrecht erlittene Inhaftierung auf 75 Euro pro Tag zu verdreifachen, berichtet spiegel.de. Die letzte Erhöhung war 2009 erfolgt.

Lobbyregister: Am heutigen Freitag soll ein Gesetzentwurf der großen Koalition zur Einführung eines Lobbyregisters im Bundestag diskutiert werden, wie SZ (Robert Roßmann) und FAZ (Julia Löhr) berichten. Zukünftig soll es eine sanktionsbewehrte Registrierungspflicht für diejenigen geben, "die Interessenvertretung gegenüber dem Deutschen Bundestag ausüben".

Unternehmenssanktionen: Laut LTO (Annelie Kaufmann) mobilisiert die CDU im Bundesrat gegen das geplante Verbandssanktionengesetz. Die Länderkammer wird sich nächste Woche zum ersten Mal zum Gesetzentwurf der Bundesregierung positionieren. Die Mehrheitsverhältnisse seien noch unübersichtlich. Da das Gesetz zustimmungspflichtig ist, könne es letztlich auf den Bundesrat ankommen.

Wirtschaftsprüfer: In einem Interview mit dem Hbl (Heike Anger/Dietmar Neuerer) fordert Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) neue Regeln für Wirtschaftsprüfer. Sie plädiert unter anderem dafür, Wirtschaftsprüfung und -beratung strikter zu trennen. 

Justiz

EuGH – Urheberrecht auf Websites: Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs Szpunar hat in seinen Schlussanträgen vertreten, dass das sogenannte Framing nach EU-Recht nicht erlaubnispflichtig sei. Das sogenannte Inline Linking hingegen bedürfe der Zustimmung des Urhebers. Beim Framing werden externe Inhalte im Internet auf eigenen Websites zugänglich gemacht, häufig durch Verlinkung. Inline Linking hingegen ist das "direkte Einbetten etwa von Grafiken oder Videos durch automatische Links". Der Bundesgerichtshof hatte dem EuGH die Frage im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gestellt, wie LTO schreibt. 

EuGH – Taxi-Apps: EuGH-Generalanwalt Szpunar empfahl laut LTO, dass eine Taxi-App, die zwar eine direkte Verbindung zwischen Taxifahrern und Kunden herstellt, aber weder Anfragen an den Taxifahrer übermittelt noch den Fahrpreis festlegt, zulassungsfrei sei. Grundlage des Falls ist die rumänische Star-Taxi-App, die laut Generalanwalt im Gegensatz zu anderen Taxi-Apps wie etwa Uber für die Beförderung zwar nützlich aber gerade nicht wesentlich sei.

BayVGH – Corona-Lockdown: Laut SZ (Lisa Schnell/Christian Sebald) scheint sich in einem Normenkontrollverfahren gegen die Corona-Verordnung der Bayrischen Staatsregierung herauszukristallisieren, dass im federführenden Bayrischen Gesundheitsministerium nicht dokumentiert wurde, auf welchen Erkenntnissen die ab Ende März verhängten Ausgangsbeschränkungen basierten. Die Klägerin, Rechtsanwältin Jessica Hamed, strebt nun eine mündliche Verhandlung vor dem VGH an. Verordnungen, insbesondere wenn sie in wichtige Grundrechte wie die Bewegungs- oder Versammlungsfreiheit eingriffen, müssten immer auf einer sachlichen und nachvollziehbaren Grundlage erlassen werden, was im vorliegen Fall nicht mehr nachgeprüft werden könne. 

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Die FAZ (Marlene Grunert) berichtet erneut über den Prozess um den Mord an Walter Lübcke vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. und sieht es nur als eine Frage der Zeit an, bis Frank Hannig, ein ehemaliger Anwalt des Angeklagten Stephan E., selbst zum Beschuldigten wird, da dieser den Angeklagten zu einer falschen Verdächtigung angestiftet haben könnte. 

Auf dem Verfassungsblog erörtert Paul Glauben, Leiter des wissenschaftlichen Dienstes des rheinland-pfälzischen Landtags, die Gleichrangigkeit von parlamentarischer Kontrolle und gerichtlichem Verfahren in dem politisch brisanten Prozess. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss drohe nun mit einer Klage gegen das Oberlandesgericht Frankfurt/M., da dieses und der Generalbundesanwalt sich weigerten, die Akten des Falls herauszugeben. Glauben mahnt daher an, auf ein Kräftemessen zu verzichten und stattdessen miteinander zu kooperieren. 

LG Bonn – versuchter Totschlag/Verlobung vor Gericht: In einem Prozess wegen versuchten Totschlags vor dem Landgericht Bonn hat der Angeklagte dem Opfer der Tat, die als Nebenklägerin am Prozess teilnahm, im Gerichtssaal einen Heiratsantrag gemacht, den die Frau sogleich annahm, wie spiegel.de und SZ schreiben. Die kurz vor der Aussage stehende Frau muss nun als frisch Verlobte nicht mehr gegen ihren zukünftigen Mann aussagen und legte die Nebenklage nieder. Der Prozess wird aber fortgeführt.

LG Braunschweig – Winterkorn: Nun berichtet auch die FAZ (Sven Astheimer), dass das Landgericht Braunschweig die Anklage gegen Martin Winterkorn, den ehemaligen Volkswagen-Chef, wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs im Diesel-Skandal zugelassen hat. Wegen des gleichen Vorwurfs wird auch gegen die ehemaligen Wirecard-Verantwortlichen ermittelt. Die beiden Fälle seien zwar unterschiedlich gelagert, würden jedoch auch Parallelen aufweisen. 

VG Köln zu Kongresszentrum Bonn: Das Verwaltungsgericht Köln hat laut spiegel.de und SZ die frühere Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann dazu verurteilt, eine Million Euro Schadensersatz an die Stadt Bonn zu leisten. Beim Bau des Bonner Kongresszentrums WCCB habe Dieckmann Dienstpflichten verletzt.

VG Berlin – Pop-up-Radwege: Trotz des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Berlin von diesem Dienstag will der Berliner Senat die Pop-up-Radwege vorerst nicht entfernen, wie FAZ und spiegel.de berichten. Die Berliner Verkehrssenatsverwaltung will beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Beschwerde gegen den Eilbeschluss einlegen. 

Die Doktorandin Charlotte Heppner erläutert auf dem Verfassungsblog noch einmal ausführlich die Entscheidung des VG Berlin. Sie kritisiert, dass die Richter die Darlegungslast an die Verwaltung überspannt haben. Allerdings sei § 45 StVO auch radwegefeindlich und müsse dringend vom Bundesverkehrsministerium geändert werden, um eine radfreundlichere Verkehrsführung zu ermöglichen. 

Recht in der Welt

GB – Brexit: Der am Mittwoch vorgelegte Entwurf des britischen Binnenmarktgesetzes ist nicht mit dem Nordirland-Protokoll vereinbar und verstößt gegen internationales Recht. Dies kritisiert die EU und wird auch von britischen Regierungsmitgliedern eingeräumt. Die EU hat den britischen Kabinettsminister Michael Gove daher aufgefordert, den Gesetzentwurf bis Ende des Monats wieder zurückzuziehen, was dieser jedoch bereits abgelehnt hat. Es berichten SZ (Björn Finke/Alexander Mühlauer)FAZ (Jochen Buchsteiner/Thomas Gutschker), taz (Eric Bonse/Ralf Sotscheck), taz (Dominic Johnson) und tagesschau.de (Claudia Kornmeier).

Ralf Sotscheck (taz) hält die Politik von Boris Johnson für befremdlich. Der Autor versucht, sich die britische Sicht auf die Rolle Irlands in den Brexit-Verhandlungen zu erklären und findet als eine Begründung für Johnsons Vorgehen, dass dieser "die EU zwingen will, die Verhandlungen abzubrechen, um den ersehnten harten Brexit durchzusetzen".

Griechenland/Türkei – Seegrenzen und Gasvorkommen: Auf FAZ-Einspruch nimmt der Griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis Stellung zum Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei um die gemeinsamen Seegrenzen. Er beschreibt verschiedene Provokationen der Türkei, die aus seiner Sicht das UN-Seerechtsübereinkommen sowie andere völkerrechtliche Regelungen verletzt haben und sieht die Türkei international isoliert. 

Sonstiges

Großbrand in Moria: Laut LTO (Hasso Suliak) fordert der Deutsche Anwaltverein mit einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel, grünes Licht zu geben für die Aufnahme von Geflüchteten aus dem abgebrannten griechischen Lager Moria durch die Bundesländer. 

Reinhard Müller (FAZ) plädiert mit Blick auf die Situation auf Lesbos dafür, dass es in Europa keinen Dissens darüber geben dürfe, dass Menschen in Not zu helfen sei. Er betont andererseits jedoch, dass die EU "keinen Anreiz für einen (weiteren) ungeregelten Zustrom setzen" dürfe, den dann nur wenige Mitgliedstaaten ausbaden müssten.

EU-Sanktionen gegen Russland: Die taz (Christian Rath) erklärt, wie ein Stopp der Gas-Pipeline Nord Stream 2 als Konsequenz aus dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Nawalny EU-rechtlich umzusetzen wäre, ohne dass hohe Schadensersatzforderungen zu befürchten seien. Dazu müsste die EU mit ihrer ausschließlichen Kompetenz für Handelspolitik entsprechende Sanktionen gegen Russland verhängen. 

Facebook – Datenschutz: Die für Facebook zuständige irische Datenschutzbehörde hat den Konzern in Umsetzung des EuGH-Urteils zum Privacy Shield aufgefordert, keine Daten mehr in die USA zu übertragen. Facebook will dies auf Grund der Standardvertragsklauseln weiter tun. spiegel.de berichtet.

IOC und Menschenrechte: Laut FAZ (Christoph Becker) bemüht sich das Internationale Olympische Komitee um den iranischen Ringer Navid Afkari, der im Iran auf Grundlage eines durch Folter erzwungenen Geständnisses zum Tode verurteilt wurde.

Thomas Kistner (SZ) nimmt den Vorfall zum Anlass, das Internationale Olympische Komitee zu kritisieren. Menschenrechte seien dort lediglich ein Thema, wenn das Komitee damit eigene Ziele verfolgen könne.

Corona-Impfstoff: FAZ-Einspruch (Daniel Wolff) beleuchtet die prozeduralen und materiellrechtlichen Rahmenbedingungen für die Verteilung eines Corona-Impfstoffs in Deutschland.

taz-Kolumne: Die Journalistin Hengameh Yaghoobifarah, Autorin der umstrittenen taz-Kolumne "All cops are berufsunfähig", verlangt von Bundesinnenminister Seehofer (CSU), den Vorwurf zurückzunehmen, sie habe sich durch den Text der Volksverhetzung schuldig gemacht, wie der Tsp (Jost Müller-Neuhof) berichtet. Ihr Anwalt hatte diesbezüglich an Seehofer bereits ein Unterlassungsbegehren gerichtet und mit einem gerichtlichen Eilverfahren gedroht. 

Friedhofs- und Bestattungsrecht: Auf LTO (Hasso Suliak) ist ein ausführliches Interview mit Ullrich Stelkens, dem Organisator der 12. Speyerer Tage zum Friedhofs- und Bestattungsrecht, zu lesen. 

Missbrauchsfälle in Lügde: Eine Sonderermittlerin hat im Auftrag des niedersächsischen Innenministeriums das Handeln des zuständigen Jugendamtes bei den Missbrauchsfällen von Lügde untersucht, wie taz-nord (Nadine Conti) berichtet. Mitarbeiter des Jugendamtes hätten kaum nachvollziehbar über Warnsignale hinweggesehen, die Aktenführung sei unzureichend gewesen, Beratungswege seien nicht eingehalten worden und die Kommunikation zwischen den Behörden habe nicht funktioniert. Die Ermittlerin sei jedoch nur zu generischen Schlussfolgerungen gekommen, da ihr nur begrenzt Akteneinsicht gewährt worden sei. 

In einem gesonderten Kommentar stellt Nadine Conti (taz-nord) fest, es sei unerträglich, dass obwohl "Vorgesetzte nicht aufgepasst, Kollegen nicht zugehört, Polizisten nicht nachgefragt" hätten, dafür aber keiner geradestehen müsse. 

Wirecard-Untersuchungsausschuss: Am heutigen Freitag soll im Bundestag mit den Stimmen von Grünen, FDP und Linken der Untersuchungsausschuss zum Fall Wirecard eingesetzt werden. Im November sollen die ersten Zeugen gehört werden. Es berichten SZ (Cerstin Gammelin) und FAZ (Manfred Schäfers).

Das Hbl (Martin Greive/Jan Hildebrand) nimmt dies zum Anlass, die Bundestagsabgeordneten Fabio De Masi (Linke), Danyal Bayaz (Grüne) und Florian Toncar (Linke) zu porträtieren, die den Auftrag des Untersuchungsausschusses vorbereitet haben. Trotz ihrer politischen Meinungsverschiedenheiten sei ihnen eine gute Zusammenarbeit gelungen. Des Weiteren weist das Hbl (Bert Fröndhoff/Felix Holtermann) auf die Rolle der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY im Wirecard-Skandal hin, die sich wiederum selbst für das Opfer eines Betrugs hält. Außerdem erörtert das Hbl (Teresa Stiens) andere Betrugsaffären, in welchen Wirtschaftsprüfer eine wichtige Rolle spielten, wie zum Beispiel die Cum-Ex-Geschäfte. 

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/ls

(Hinweis für Journalisten

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 11. September 2020: EuGH-Generalanwalt gegen Schächtverbot / Haftentschädigung wird verdreifacht / Anwälte für Flüchtlinge . In: Legal Tribune Online, 11.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42772/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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