Die juristische Presseschau vom 14. August 2020: Ungarn und die Rechts­staats­kon­di­tio­na­lität / Gegen Miss­brauch von MdB-Mit­ar­bei­tern / "Stealt­hing" ist strafbar

14.08.2020

Ungarn interpretiert die geplante Verknüpfung von Haushaltsmitteln mit rechtsstaatlichen Anforderungen eigenwillig. Das Abgeordnetengesetz soll verschärft werden. "Stealthing" kann laut Kammergericht einen sexuellen Übergriff darstellen. 

Thema des Tages

EU-Haushalt und Rechtsstaatlichkeit: Rechtsprofessor Markus Kotzur kommentiert auf beck-aktuell die Entscheidung des Sondergipfels des Europäischen Rates von Ende Juli, den Zugang zu Haushaltsmitteln der EU und zu Geldern des Corona-Aufbaufonds "Next Generation EU Recovery Fund" an rechtsstaatliche Bedingungen zu knüpfen. Der Rat beschloss, dass Haushaltsmittel zurückgehalten werden können, wenn die Kommission einen Rechtsstaatsmangel feststellt und ihre Maßnahmenvorschläge vom Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden. Dabei handele es sich um einen schwachen Anfang, bleibe man doch deutlich hinter dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission zurück. Dies bedeute aber weder Rückschritt noch Stillstand. Erstmals sei die Verknüpfung von finanziellen Interessen der Union und ihren fundamentalen Werten auf höchster politischer Ebene festgehalten worden. 

Die Welt (Boris Kálnoky) bringt ein Interview mit Ungarns Justizministerin Judit Varga, in dem diese ihre Interpretation der Ratsbeschlüsse präsentiert. Die Konditionalität diene nicht der Durchsetzung des Rechtsstaatlichkeitskriteriums, sondern sei rein finanzieller Natur. Schon die Rechtssicherheit verbiete es, einen "nebulösen Begriff wie Rechtsstaatlichkeit als Auflage einzuführen". Der Europäische Rat habe endgültig entschieden, dass auf schwer definierbaren Begriffen wie den in Art. 2 EUV aufgezählten Grundwerten der Union kein Sanktionssystem aufgebaut werden könne.


Rechtspolitik

Sorgerecht: LTO (Hasso Suliak) widmet sich dem vom Bundesjustizministerium (BMJV) angekündigten Gesetzentwurf für eine Reform des Sorgerechts. Erläutert wird die Entscheidung im Gesetzentwurf, entgegen der Empfehlung einer vom BMJV eingesetzten Arbeitsgruppe gerade kein automatisches Sorgerecht für unverheiratete Väter vorzusehen, sondern die gemeinsame Sorge weiterhin an die Zustimmung der Mutter zu knüpfen. Das BMJV argumentiert, der zweite Elternteil werde bei der Vaterschaftsanerkennung künftig ohne weiteres Verfahren gemeinsam mit der Mutter Inhaber der elterlichen Sorge. Wenn die Vaterschaft aber erst durch Gericht festgestellt werden müsse, so fehle es an einem Grundkonsens und es müsse bei der geltenden Rechtslage bleiben. 

Abgeordnetengesetz: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) drängt laut SZ (Robert Roßmann) auf einen Gesetzentwurf zur wirksamen Unterbindung unzulässiger Tätigkeiten durch Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten. Laut Gesetz dürfen die Abgeordneten aus dem Bundeshalt finanzierte Mitarbeiter lediglich zur Unterstützung bei der Erledigung ihrer parlamentarischen Arbeit einsetzen. Nun haben sich alle Bundestagsfraktionen auf die Ausgestaltung eines Ordnungsgeldes im Fall von Verstößen geeinigt. Im Herbst soll das Abgeordnetengesetz entsprechend geändert und damit ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2017 umgesetzt werden.  

Polizei: Die taz (Dinah Riese/Konrad Litschko) schreibt über Vorschläge der Grünen Jugend für umfassende Polizeireformen in Deutschland. Diese will die Polizei einschrumpfen und eine "befreite Gesellschaft" schaffen, die "Gewalt und Repression als Mittel der gesellschaftlichen Problemlösung Stück für Stück überwindet". Bei psychischen Ausnahmesituationen seien Sozialarbeiter die bessere Alternative zur Polizei. Bei Missständen in der Polizei müsse härter durchgegriffen werden. 

Planungs-Beschleunigung: Nun schreibt auch LTO über den vom Bundeskabinett beschlossenen Gesetzentwurf eines Investitionsbeschleunigungsgesetzes.

Asyl- und Aufenthaltsrecht: Senior Research Fellow Constantin Hruschka und Research Fellow Tim Rohmann kritisieren auf dem Verfassungsblog die "legislative Hyperaktivität" des Gesetzgebers im Asyl- und Aufenthaltsrecht in den letzten Jahren. Angesichts zahlreicher heterogener Zielvorgaben habe sich das Asyl- und Aufenthaltsrecht zum "fragmentierten Flickenteppich mit inkohärenten Normen" entwickelt, "der der Rechtsanwendungspraxis (nicht intendierte) Spielräume eröffnet und das Recht in seiner Verbindlichkeit schwächt". Erforderlich sei nun ein umfassender Reformentwurf.

Erleichterte Vergabe: Das Hbl (Heike Anger) berichtet über Kritik des Präsidenten des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller, an Lockerungen des Vergaberechts angesichts der Coronakrise. Lockerungen dürften nicht zu Einschränkungen des Wettbewerbs und der Transparenz führen, so Scheller. Nach der Finanzkrise habe man Ähnliches versucht. Dabei hätten die Nachteile bei Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit sowie eine erhöhte Korruptions- und Manipulationsgefahr überwogen. 

Insolvenzantragspflicht: Gerald Braunberger (FAZ) kritisiert die vom Bundesjustizministerium geplante erneute Verlängerung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht bis zum Frühjahr 2021. Es drohe eine Verlängerung über die Bundestagswahl hinaus. Der Versuch, das zur Marktwirtschaft gehörende Scheitern durch den Staat für längere Zeit zu verhindern, habe erhebliche wirtschaftliche Nachteile für das Gemeinwesen zur Folge. 

Justiz

KG Berlin zu Stealthing: Einer Entscheidung des Kammergerichts zufolge ist der Tatbestand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 Strafgesetzbuch erfüllt, wenn ein Mann beim Geschlechtsverkehr entgegen einer vorherigen Absprache heimlich das Kondom abstreift und zum Samenerguss kommt. Es berichten FAZ (Julia Anton) und LTO

BVerfG zu Arbeitskampfrecht: Rechtsprofessorin Eva Kocher stellt auf Verfassungsblog ausführlich zwei jüngst ergangene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Arbeitskampfrecht vor. Dabei ging es beim Urteil vom 19. Juni 2020 um ein gesetzliches Verbot, Leiharbeit für Streikarbeit einzusetzen. Bei der Entscheidung vom 9. Juli 2020 ging es darum, ob eine Gewerkschaft das Gelände der Betriebsparkplätze eines Arbeitgebers nutzen durfte, um dort bei Arbeitnehmern für die Teilnahme am Streik zu werben. Kocher meint, die Entscheidungen schrieben die Rechtsprechung zu Parität und Asymmetrie im Arbeitskampf angemessen fort. 

BVerfG zu Altanschließern MV: Das Bundesverfassungsgericht hat laut LTO drei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, in denen es um Beiträge für den Anschluss an die Abwasserversorgung für nach der Wiedervereinigung getätigte Investitionsmaßnahmen in Mecklenburg-Vorpommern ging. Grundstückseigentümer, deren Grundstücke bereits vor der Wende angeschlossen waren, durften demnach zur Beitragszahlung herangezogen werden.

OLG Koblenz – Folter in Syrien: Bei der Fortsetzung des Prozesses gegen mutmaßliche syrische Folterer vor dem Koblenzer Oberlandesgericht hat am gestrigen Donnerstag ein Ex-Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes ausgesagt. Er erklärte, nach Ausbruch der Proteste in Syrien im Frühjahr 2011 habe es praktisch keine Vernehmung mehr gegeben, bei der nicht gefoltert wurde, Tote habe man in Kauf genommen. Auch sei es unvorstellbar, dass einer der Angeklagten sich – wie von diesem behauptet – bereits im Juni 2011 vom Regime abgewendet und entmachtet worden sei, offiziell aber weiter Oberst und Leiter der Unterabteilung geblieben war. Die taz (Sabine am Orde) berichtet.

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. ist der Prozess gegen Stephan E. und Markus H. am gestrigen Donnerstag fortgesetzt worden. Der Vorsitzende Richter wies Stephan E. auf Widersprüche in dessen Einlassungen hin. Außerdem ging es erstmals um Kontakte von E. in die rechte Szene und um weitere mögliche Mitwisser. zeit.de (Martín Steinhagen) berichtet.

LAG Nürnberg zur Sprache von Vorgesetzten: Nun schreibt auch LTO über die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Nürnberg, wonach der Betriebsrat das Unternehmen nicht verpflichten kann, nur deutschsprachige Vorgesetzte einzustellen.

VG Schleswig zu Unterrichts-Zwang: Wie der Spiegel (Silke Fokken u.a.) berichtet, wehren sich zehn Lehrer vor dem Verwaltungsgericht Schleswig gegen die Entscheidung der schleswig-holsteinischen Landesregierung, auch solche Lehrkräfte zum Unterricht zu verpflichten, die ein Attest über eine Vorerkrankung vorlegen. In einem Fall entschied das Gericht nun im Eilrechtsschutzverfahren, dass die Klägerin erst einmal zu Hause bleiben darf. 

CAS zu ManCity: Die Rechtsanwälte Sebastian Cording, Philipp Pohlmann und Stefan Schreiber analysieren auf LTO ausführlich die Entscheidungsgründe des Internationalen Sportgerichtshofs im Verfahren zwischen Manchester City und der UEFA zu angeblichen Verstößen von ManCity gegen das Financial Fairplay. Aufgrund deutlicher, belastender Emails sei schwer nachvollziehbar, dass das Schiedsgericht vom Vorwurf der verdeckten Einlagenzahlung nicht ausreichend überzeugt war. Im heutigen Wirtschaftsverkehr existierten genügend Möglichkeiten, über Umwege verdeckte Zahlungen an Vereine zu leisten. Solange keine gravierend negativen Konsequenzen aus der fehlenden Kooperation seitens der Vereine gezogen werden können, erscheine es so nahezu unmöglich, verdeckte Verstöße jemals nachzuweisen.

Gerichtsberichterstattung: Die SZ (Annette Ramelsberger) beklagt in einem Essay eine immer häufigere Behinderung der Arbeit von Journalisten durch Richter. Viele Juristen seien überzeugt, dass sie einen kritischen Blick von außen nicht brauchten. Die Justiz wolle ihre Beobachter abwimmeln und ihnen den Aufenthalt im Gerichtssaal vergrämen. Regelmäßig würden dazu die Argumentationslinien "Corona" und "Sicherheit" vorgeschoben. 

Recht in der Welt

Brasilien – Dammbruch: Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Alice Kasznar Feghali und der Mitarbeiter der EU-Kommission Diego Gebara Fallah erläutern auf dem JuWissBlog (in englischer Sprache) die juristische und politische Aufarbeitung des verheerenden Brumadinho-Dammbruchs in Brasilien 2019. 

USA – Instagram-Gesichtserkennung: netzpolitik.org (Tomas Rudl) berichtet über eine Sammelklage in den USA gegen die Fotoplattform Instagram. Die am vergangenen Montag eingereichte Klage wirft Instagram vor, rechtswidrig biometrische Daten für automatische Gesichtserkennung verwertet und damit gegen das Datenschutzgesetz im US-Bundesstaat Illinois verstoßen zu haben. 

Juristische Ausbildung

Klausurenkorrektur: Nach einem Rechtsstreit vor dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat das zuständige Justizprüfungsamt laut LTO den gegen eine Jurastudentin ergangenen Nichtbestehensbescheid aufgehoben. Deshalb erging kein Urteil. Die Studentin hatte sich mit dem Argument gewehrt, dass bei der Korrektur von fünf der sechs Pflichtfachklausuren kein Hochschullehrer beteiligt war, obwohl nach dem Juristenausbildungsgesetz einer der Prüfer ein Hochschullehrer sein soll.  

Sonstiges

Corona – Maskenbeschaffung: LTO (Anja Hall) schreibt über die zahlreichen Klagen, die Hersteller von Schutzmasken vor dem Landgericht Bonn gegen das Bundesgesundheitsministerium anstrengen. Das Ministerium hatte Masken bestellt, weigerte sich dann jedoch teilweise, diese abzunehmen. Die Hersteller wollen nun ausstehende Zahlungen einklagen. Außerdem behauptet ein Hanauer Rechtsanwalt, bei der Auftragsvergabe habe das Gesundheitsministerium gegen Vergaberecht verstoßen. Er hat deswegen einen Nachprüfungsantrag gestellt, über den die Vergabekammer des Bundes am heutigen Freitag verhandelt.

Deutschenfeindliche Straftaten: spiegel.de (Mohamed Amjahid) schlüsselt die 132 mutmaßlichen "deutschfeindlichen" Delikte auf, die die Polizei im vergangenen Jahr gemeldet hat, und stellt skurrile Fälle vor. Seit Januar 2019 erfasst das Bundeskriminalamt gegen Deutschland oder Deutsche gerichtete Straftaten als "politisch motivierte Kriminalität". Den größten Einzelposten machen dabei Beleidigungen aus. 

Facebook und Fotos von Parteiveranstaltungen: Rechtsanwalt Dominik Nikol behandelt im FAZ-Einspruch die Anordnung einer Datenschutz-Aufsichtsbehörde, wonach eine politische Partei Fotos von ihren politischen Veranstaltungen nur noch dann auf Facebook veröffentlichen darf, wenn die Gesichter der Besucher verpixelt sind. Dieser Rechtsansicht hatte sich auch das Verwaltungsgericht Hannover angeschlossen. Aus Sicht des Autors ist dies mit dem gesetzlichen Auftrag politischer Parteien nicht vereinbar und schränkt Parteien bei ihrer täglichen Arbeit unverhältnismäßig ein. 

Strafvollzug: Die FAZ (Michael Pawlik) rezensiert das Buch "Geschlossene Gesellschaft" von Annelie Ramsbrock. Es behandelt die Frage, ob das deutsche Gefängnis nach 1945 tatsächlich ein Ort der Resozialisierung geworden ist. Der Artikel meint, die Autorin mache es sich allzu leicht, wenn sie resümierend feststellt, Resozialisierung sei in Deutschland nie ernsthaft versucht und möglicherweise auch nie ernsthaft gewollt worden. Das Problem bestehe tatsächlich darin, dass die Strafe den Knotenpunkt einer Fülle heterogener Forderungen und Erwartungen bilde, die sich nicht miteinander vereinbaren ließen.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des Mediums. 

Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/jng

(Hinweis für Journalisten)  

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.

Sie können die tägliche LTO-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.  

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 14. August 2020: Ungarn und die Rechtsstaatskonditionalität / Gegen Missbrauch von MdB-Mitarbeitern / "Stealthing" ist strafbar . In: Legal Tribune Online, 14.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42489/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen