Die juristische Presseschau vom 11. August 2020: Pro­test der Ber­liner Staats­an­wälte / Reform des Sor­ge­rechts geplant / Baye­ri­sche Grenz­po­lizei ver­fas­sungs­widrig?

11.08.2020

Berliner Staatsanwälte kritisieren GenStA wegen Übernahme der Ermittlungen zur Neuköllner Anschlagsserie. Das Justizministerium legt einen Entwurf zur Sorgerechts-Reform vor. Der Bayerische VerfGH verhandelte über Grenzpolizei. 

Thema des Tages

GenStA Berlin – rechtsextreme Anschlagserie Neukölln: Die Vereinigung Berliner Staatsanwälte (VBS) kritisiert scharf, dass die Berliner Generalstaatsanwaltschaft (GenStA) die Ermittlungen zu einer rechtsextremen Anschlagserie im Stadtteil Neukölln an sich gezogen hat und zwei Staatsanwälte wegen des Verdachts der Befangenheit versetzt wurden, wie LTO (Markus Sehl) schreibt. Der Vorgang sei "unhaltbar" und habe zu einem "unfassbaren Vertrauensverlust in die Justiz geführt", erklärte der VBS-Vorsitzende Ralph Knispel. Die Befangenheitsvorwürfe stützen sich auf das Protokoll einer Telekommunikationsüberwachung, in welchem ein Tatverdächtiger behauptet, der Leiter der Staatsschutzabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft habe ihm signalisiert, "er habe nichts zu befürchten, der Staatsanwalt stehe auf seiner Seite". Die Staatsanwaltschaft wollte nach eigenen Angaben diesen Vorwürfen intern nachgehen, dem kam nun aber die GenStA zuvor.

Die SZ (Jan Heidtmann) porträtiert Berlins Generalstaatsanwältin Margarete Koppers, die zuvor erste weibliche Vizepräsidentin der Berliner Polizei war. 

Rechtspolitik

Mietendeckel Berlin: Wie eine neue Studie laut FAZ und spiegel.de herausfand, hat der Berliner Mietendeckel die Marktmiete fast halbiert. Manche Vermieter halten nun in Mietverträgen sowohl die Miete mit Mietendeckel als auch die Miete fest, die sie ohne die Regelung verlangen würden, um im Falle von deren Verfassungswidrigkeit von den Mietern hohe Nachzahlungen zu fordern. Der Berliner Mieterverein hält jedoch unterschiedliche Mietpreise in Mietverträgen für rechtswidrig. 

Aufnahme Geflüchteter: Nachdem Bundesinnenminister Horst Seehofer Berlin und Thüringen untersagte, Sonderkontingente Geflüchteter aus Griechenland aufzunehmen, weil er auf eine "europäische Lösung" wartet, erwägt Dirk Adams, grüner Justizminister von Thüringen, eine Klage gegen die verweigerte Zustimmung Seehofers, wie die taz (Mitsuo Iwamoto) schreibt. Wie die taz (Susanne Memarnia) daneben berichtet, erwägt auch Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) eine Klage. 

Sorgerecht: Der Gesetzentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zur Reform des Sorgerechts soll kein automatisches Sorgerecht für unverheiratete Väter beinhalten, wie LTO (Hasso Suliak) berichtet. Demnach ist der Vorschlag einer Expertengruppe, dass "die elterliche Sorge den rechtlichen Eltern eines Kindes von Anfang an per Gesetz sofort gemeinsam zustehen soll", nicht befolgt worden. Will die Mutter das Sorgerecht nicht mit dem Vater teilen, muss dieser somit auch in Zukunft vor das Familiengericht ziehen. Der Gesetzesentwurf, der in dieser Woche in die Ressortabstimung geht, soll außerdem die Familiengründung von lesbischen Paaren erleichtern, indem neben der "Geburtsmutter" eine weitere Frau Mutter sein kann. Schwule Paare bleiben jedoch weiter auf eine Adoption angewiesen. Des Weiteren bleiben Eizellspenden weiterhin strafrechtlich verboten. 

Grundsteuer: Ulrich Kriese, Sprecher der Initiative "Grundsteuer: Zeitgemäß!", analysiert in der FAZ die verschiedenen Modelle mit denen Bundesländer dank einer Öffnungsklausel von der im Vorjahr beschlossenen Grundsteuerreform abweichen können. Eine Grundsteuer könnte entweder proportional zum Grundstückswert oder zur Grundstücks- und Gebäudefläche bemessen werden. Der Autor befürwortet dabei eine sogenannte Bodenwertsteuer, die den Gebäudewert aus der Grundsteuer heraushalten soll. 

Familienauszeit für Vorstände: Nun berichtet auch das Hbl (Dietmar Neuerer), dass die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) über eine Gesetzesänderung zur Familienauszeit für Vorstände börsennotierter Unternehmen nachdenkt, die durch die derzeit geltenden Vorschriften des Aktienrechts nicht möglich wäre. Die Initiative "Stayonboard" hatte eine solche Änderung gefordert, da Vorstände oft wegen "Mutterschutz, Elternzeit, länger dauernder Krankheit" oder der Pflege von Angehörigen dazu gezwungen seien, ihr Mandat aufzugeben. 

Whistleblower: Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert in einem Gutachten, dass die Bundesregierung den Spielraum bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern möglichst weit ausreizen solle, wie bei netzpolitik.org (Thomas Rudl) zu lesen ist. Ein "eigenständiges, klar strukturiertes Whistleblower-Gesetz" sei nötig, unter anderem um die betroffenen Personen vor arbeitsrechtlichen Sanktionen und sonstigen Repressalien zu schützen. 

Justiz

BayVerfGH – Grenzpolizei: Wie SZ und LTO berichten, hat vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof am Montag die Verhandlung über die vor zwei Jahren wieder eingeführte bayerische Grenzpolizei begonnen. Die Grünen, Kläger im Verfahren, halten die Sicherung der deutschen Grenzen für Bundessache und daher eine Länder-Grenzpolizei für verfassungswidrig. Die bayerische Staatsregierung hingegen betonte, dass die Grenzpolizei ausschließlich abgestimmt mit der Bundespolizei tätig werde und es so zu keiner Kompetenzverletzung komme. Das Urteil soll am 28. August verkündet werden. 

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Am Oberlandesgericht Frankfurt/M. fand der zehnte Verhandlungstag zum Mord an Walter Lübcke statt. FAZ (Marlene Grunert), SZ (Matthias Drobinski) und taz (Christoph Schmidt-Lunau) berichten über die Bemühungen sowohl der Richter als auch des Oberstaatsanwalts, die sich widersprechenden Aussagen des Angeklagten Stephan E. miteinander zu vergleichen und Schwachstellen aufzudecken. Insbesondere äußerte sich E. widersprüchlich zur Rolle von Marcus H., der vielleicht sogar Mittäter gewesen sein könnte, zu seinem eigenen Tatplan und zu seiner nachträglichen Reue. Laut dem Angeklagten ist er in seinen verschiedenen, inhaltlich voneinander abweichenden Geständnissen von unterschiedlichen Verteidigern beeinflusst worden. 

Die SZ (Teresa Hein) interviewt die Medienethik-Professorin Larissa Krainer im Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Vernehmungsvideos von E. auf dem Online-Reportageformat STRG+F des NDR. Krainer hält die Veröffentlichung aus moralischen Gründen für falsch, insbesondere in Hinblick auf Täter- und Opferschutz sowie mögliche Nachahmer.

OLG Schleswig zu Nordic Walking: Das Oberlandesgericht Schleswig hat entschieden, dass grundsätzlich eine Haftung besteht, wenn eine Person während des gemeinsamen Nordic Walkings einen Walking-Stock des sportlichen Begleiters zwischen die Beine bekomme, dadurch stürze und sich verletze, wie LTO berichtet. Einen Haftungsausschluss wegen der bewussten Inkaufnahme von Verletzungen, wie er etwa bei Sportarten wie Fußball oder Tennis angenommen werde, sei im Falle von Nordic Walking nicht gegeben, da bei dieser Aktivität niemand mit Verletzungen rechne.

OLG Karlsruhe zu Zurückweisung einer Berufung: Auf beck-aktuell erläutert der Richter Oliver Elzer die Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe zu den Voraussetzungen eines Beschlusses nach § 522 II 1 Zivilprozessordnung.

LG Köln – Kindesmissbrauch Bergisch-Gladbach: Wie LTO und faz.net berichten, wurde der Beginn des Prozesses gegen einen zentralen Verdächtigen im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach nach einem Brandalarm im Landgericht Köln verschoben. 

VG Münster – Corona und Fleischindustrie: Das Verwaltungsgericht Münster hat in einem Eilverfahren am vergangenen Donnerstag entschieden, dass eine von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen erlassene Allgemeinverfügung zur Vermeidung weiterer Infektionen in Großbetrieben der Fleischwirtschaft rechtswidrig ist. Der Beschluss liegt nun der FAZ (Jonas Jansen/Marcus Jung) vor. Das Gericht gehe davon aus, dass das zuständige Ministerium seinen Einschätzungsspielraum überschreite, wenn es alle fleischverarbeitenden Betriebe der Allgemeinverfügung unterwerfe. Die nicht erfolgte Differenzierung zwischen Zerlegung, Schlachtung und Fleischverarbeitung sei nicht ausreichend begründet worden.

In einem gesonderten Kommentar fordert Marcus Jung (FAZ) nun eine schnelle Nachbesserung der Allgemeinverfügung, indem zwischen Schlacht- und Fleischverarbeitungsbetrieben konsequent getrennt werden müsse, wie es bereits in Niedersachsen und Baden-Württemberg der Fall sei. 

StA Braunschweig – Missstände in Pflegeheim: Die taz-nord (Friederike Gräff) berichtet, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen das Betreiberehepaar und die Heimleiterin eines Alten- und Pflegeheims im Landkreis Goslar wegen Misshandlung Schutzbefohlener, gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie Betrug ermittelt, nachdem der Norddeutsche Rundfunk über die verheerenden Zustände in der Einrichtung berichtet hatte. 

Cum-Ex-Geschäfte: Die SZ (Klaus Ott/Jörg Schmitt) schreibt, dass laut Bundesfinanzministerium von 391 Verdachtsfällen im Rahmen der sogenannten Cum-Ex-Geschäfte bislang lediglich 51 Verfahren rechtskräftig abgeschlossen wurden. Diese mangelnde Aufklärung liege vor allem daran, dass die zuständigen Staatsanwaltschaften und Steuerfahndungsstellen über zu wenig oder zu wenig qualifiziertes Personal verfügten. Mit fortschreitender Zeit werde es nun immer wahrscheinlicher, dass Rückzahlungsansprüche verjähren könnten.

BVerfG-Pressearbeit: Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass es weiterhin die Journalisten der Justizpressekonferenz nach Verpflichtung zum Stillschweigen vorab über die Inhalte seiner Urteile informieren wird, wie der Tsp (Jost Müller-Neuhof) schreibt, nachdem er Anfang Juni erstmals über dieses Vorgehen berichtet hatte. Die Linksfraktion im Bundestag, AfD-Parteivize Stephan Brandner und die FDP halten diese Praxis weiterhin für rechtlich inakzeptabel.

Recht in der Welt

Hongkong – Sicherheitsgesetz: In Hongkong wurde der Medienunternehmer Jimmy Lai, der als scharfer Kritiker der chinesischen Regierung gilt, und die Demokratieaktivistin Agnes Chow wegen "Komplizenschaft mit ausländischen Mächten" im Zusammenhang mit dem sogenannten chinesischen Sicherheitsgesetz festgenommen, wie SZ (Lea Deuber), FAZ (Friederike Böge), taz (Fabian Kretschmer) und spiegel.de berichten.

Brasilien – Brandrodungen: In der taz (Niklas Franzen) ist ein Interview mit dem Geologen Pedro Luis Côrtes zu lesen. Er bemängelt ein Klima der Straflosigkeit für Brandrodungen des Amazonas-Regenwaldes in Brasilien, insbesondere da die Bolsonaro-Regierung Kontrollmechanismen abbaue und weniger Strafen für Umweltvergehen verhänge. Außerdem ist Côrtes besorgt über Äußerungen des brasilianischen Umweltministers, der die Fokussierung auf die Corona-Krise dazu nutzen möchte, Umweltrichtlinien weiter zu lockern. 

Sonstiges

Antisemitismus: Am Montag veröffentlichte das Bundesamt für Verfassungsschutz einen Lagebericht zu Antisemitismus in Deutschland, wie LTO berichtet. Die Anzahl antisemitischer Gewalttaten habe sich zwischen 2017 und 2019 nahezu verdoppelt; 85 Prozent der 73 antisemitischen Gewalttaten des vergangen Jahres waren rechtsextremistisch motiviert. 

Denkmal für Marie Munk: Der Juristin Marie Munk, eine der Mütter des Grundgesetzes, ist am Montag ein Denkmal in Berlin gesetzt worden. Dies nimmt die SZ (Ronen Steinke) zum Anlass, an die Frau und ihren Werdegang zu erinnern. Die von den Nazis als Jüdin Verfolgte kam nach dem Krieg aus dem amerikanischen Exil zurück, gründete den Deutschen Juristinnenverein, den Vorläufer des heutigen Juristinnenbundes, und war während der 50er-, 60er- und 70er-Jahre prägend in Debatten zur Gleichberechtigung der Geschlechter aktiv. 


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lto/ls

(Hinweis für Journalisten)   

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 11. August 2020: Protest der Berliner Staatsanwälte / Reform des Sorgerechts geplant / Bayerische Grenzpolizei verfassungswidrig? . In: Legal Tribune Online, 11.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42457/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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