Die juristische Presseschau vom 23. Juni 2020: See­hofer vs. taz / Voß­kuhle ver­ab­schiedet / Vor­schlag zur Sui­zid­hilfe-Rege­lung

23.06.2020

Bundesinnenminister Horst Seehofer steht in der Kritik wegen seiner Ankündigung, Strafanzeige gegen eine taz-Autorin zu erstatten. BVerfG-Präsident Voßkuhle wird verabschiedet. Reformvorschlag von Professoren zur Regelung der Suizidhilfe.

Thema des Tages

Seehofer gegen taz-Autorin: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat am Wochenende gegenüber der Bild-Zeitung die Absicht erklärt, Strafanzeige gegen die taz-Autorin Hengameh Yaghoobifarah wegen einer polizei-verachtenden Kolumne zu erstatten – es ist aber fraglich, ob es tatsächlich so weit kommt. Regierungssprecher Seibert ließ nach Berichten von SZ (Nico Fried), FAZ (Helene Bubrowski), zeit.de und lto.de verlautbaren, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sei über die Frage mit Seehofer in vertraulichen Gesprächen. In dem satirischen Text hatte Yaghoobifarah vorgeschlagen, dass Polizisten nach einer Abschaffung der Polizei auf Mülldeponien arbeiten sollten, "wo sie wirklich nur von Abfall umgeben" seien, denn unter ihresgleichen fühlten sie sich "bestimmt auch selber am wohlsten." spiegel.de meldet unterdessen, dass Seehofer die für Dienstag geplante Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes ohne Angabe von Gründen abgesagt hat – möglicherweise in Reaktion auf die Kritik an seinem Vorgehen.

Die Chefredakteurin der taz, Barbara Junge, sieht in Seehofers Ankündigung einen beschämenden Angriff auf die Pressefreiheit. Auch Constanze von Bullion (SZ) nennt Seehofers Vorgehen einen "schlechten Witz" und sieht eine mögliche Strafanzeige als schwerwiegenden Eingriff in die Meinungs- und Pressefreiheit, der nicht hingenommen werden dürfe. Ähnlich äußert sich Steffen Kuzmany (spiegel.de). Mely Kiyak (zeit.de) wirft Seehofer vor, sein Mandat zu missbrauchen und die Gewaltenteilung zu perforieren. Es werde sich zeigen, wie viel Vielfältigkeit und Vielstimmigkeit die deutschen Medien auszuhalten bereit seien. Auch Michael Hanfeld (FAZ) nennt Seehofers Vorstoß "keine sonderlich gute Idee". In ähnlicher Weise nennt auch Ulf Poschard (Welt) die Anzeige unnötig, überzogen und unverhältnismäßig und fragt, "wer oder was Horst Seehofer geritten" habe. 

Der Anwalt der Autorin, Johannes Eisenberg, führt in der taz aus, warum der fragliche Text von der Meinungsfreiheit gedeckt sei und insbesondere im Kontext der aktuellen Diskussion um Polizeigewalt verstanden werden müsse.

Rechtspolitik

Suizidhilfe: Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar das Verbot der organisierten Sterbehilfe aufgehoben hatte, ist der Bereich derzeit kaum gesetzlichen Regeln unterworfen. SZ (Wolfgang Janisch) und taz (Heike Haarhoff) berichten vor diesem Hintergrund von einem Gesetzesvorschlag von vier Professoren (darunter der Jurist Jochen Taupitz), nach dem die Suizidhilfe künftig vor allem in die Hände von Ärzten gelegt werden solle. Diese könnten den Betroffenen Alternativen wie etwa die Palliativmedizin aufzeigen und erkennen, ob hinter dem Wunsch nach Selbsttötung nicht doch eine Depression oder Psychose stecke. Voraussetzungen seien ein persönliches Gespräch, eine zehntägige Wartefrist, die Beteiligung eines zweiten Arztes sowie ein Werbeverbot für Suizidhilfe.

Kindesmissbrauch: Karin Truscheit (FAZ) fordert die Ausweitung der Ermittlungsbefugnisse für Strafverfolgungsbehörden zur Aufklärung von Kindesmissbrauch. Insbesondere sei die Vorratsspeicherung von IP-Adressen notwendig, anhand derer man Tatverdächtige ermitteln könne. Laut Bundeskriminalamt hätte 2019 aufgrund nicht mehr gespeicherter IP-Adressen jeder zehnte Verdachtsfall auf Kinderpornographie im Netz nicht weiterverfolgt werden können.

Justiz

BVerfG – Andreas Voßkuhle: Bei einer Verabschiedungszeremonie im Schloss Bellevue hat Andreas Voßkuhle seine Entlassungsurkunde als Präsident des Bundesverfassungsgerichtes erhalten. Dabei würdigte Bundespräsident Steinmeier Voßkuhles "Fingerspitzengefühl und Sensibilität", mit denen er das Gericht exzellent nach außen vertreten habe. Mit der Wahl von Astrid Wallrabenstein als Nachfolgerin Voßkuhles gebe es zum ersten Mal in der Geschichte eine Geschlechterparität zwischen den Richterinnen und Richtern, so SZ, lto.de und rsw.beck.de.

Reinhard Müller (FAZ) würdigt Voßkuhles kommunikative und integrative Fähigkeiten, sein Mahnen vor schwindender Rechtsstaatlichkeit im Osten der Europäischen Union sowie vor dem politischen Einfluss von Regierenden auf die Justiz. Er habe aber auch Anflüge von Selbstüberschätzung gezeigt, etwa "wenn es um die Eignung von Karlsruher Richtern für die freie Wirtschaft" gegangen sei.

BVerfG – Stephan Harbarth: Mit dem Ausscheiden Voßkuhles wird der bisherige Vizepräsident des Gerichtes, Stephan Harbarth, sein neuer Präsident. Ein Porträt von tagesschau.de (Bernd Wolf) stellt indes die Frage, wie unabhängig der ehemalige Bundestagsabgeordnete Harbarth handeln könne, da er möglicherweise über von ihm mitbeschlossene Gesetze entscheiden müsse. Überdies würden bei ihm als ehemaligem Partner einer großen internationalen Wirtschaftskanzlei, die im Diesel-Skandal den Volkswagen-Konzern vertrete, Interessenskonflikte befürchtet.

BVerfG zur Meinungsfreiheit: Das Bundesverfassungsgericht hat in vier kürzlich ergangenen Kammerentscheidungen erneut zum Verhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Kommunikationsstrafrecht Stellung genommen und dabei laut Rechtsprofessor Klaus Ferdinand Gärditz auf lto.de wichtige Klarstellungen geliefert. So sei der Sinngehalt einer Äußerung in ihrem Kontext sorgfältig zu ermitteln, wobei die Meinungsfreiheit aber nicht dazu zwinge, der Äußerug einen strafrechtlich harmlosen, aber fernliegenden Sinngehalt unterzuschieben. Es gebe keinen pauschalen Vorrang der Meinungsfreiheit vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Sie sei aber umso höher zu gewichten, je mehr die Äußerung darauf ziele, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, "und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen" gehe.

BAW – Alaa M.: Die Bundesanwaltschaft hat den syrischen Arzt Alaa M. verhaften lassen, der im Auftrag des syrischen Geheimdienstes Gefangene gefoltert haben soll. Er soll 2015 nach Deutschland eingereist sein und sich in Hessen als praktizierender Arzt niedergelassen haben, melden FAZ (Constantin van Lijnden) und taz (Sabine am Orde). Die Ermittlungen der deutschen Behörden fußen auf dem sogenannten Weltrechtsprinzip, wonach seit 2002 etwa Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann verfolgt werden können, wenn weder Täter noch Opfer Deutsche sind und die Tat im Ausland stattfand. 

BVerwG zu Informationsanspruch: Die letzte Woche ergangene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die einen Informationsfreiheitsanspruch der Plattform abgeordnetenwatch.de gegen die Bundestagsverwaltung verneint hat, nennt Jost Müller-Neuhof (Tsp) einen Tiefschlag für die Informationsfreiheit. Die Kläger hätten in den ersten beiden Instanzen mit explizitem Bezug auf die Rechtsprechung des BVerwG obsiegt und seien nur deshalb in Leipzig unterlegen, weil die Zuständigkeit für Informationsansprüche dort beim Zehnten Senat von Gerichtspräsident Klaus Rennert liege. Dieser sei bisher nicht als Freund von Verwaltungstransparenz aufgefallen. Das Gericht hatte argumentiert, das Parteiengesetz schaffe ein geschlossenes Regelungskonzept zur Veröffentlichung von Informationen und schließe weitergehende Ansprüche nach dem Informationsfreiheitsgesetz aus. 

LG Frankfurt/M. – Darknet: Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/M. hat Anklage gegen drei Männer erhoben, welche den Online-Marktplatz "Wallstreet Market" im Darknet aufgebaut und betrieben haben sollen. Er soll zeitweise die zweitgrößte Plattform für Drogen und andere illegale Waren gewesen sein. FAZ (Marcus Jung) berichtet.

LG Erfurt – Dieselskandal: Das Landgericht Erfurt hat dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob das Landgericht selbst die notwendige Unabhängigkeit habe, um über Ersatzansprüche in Verbindung mit dem Dieselskandal zu urteilen. Dies sei fraglich angesichts der engen Verzahnung der Justiz mit den Justizministerien und der Tatsache, dass der Staat am beklagten VW-Unternehmen in erheblicher Weise beteiligt sei. Die Vorlage schildert verfassungsblog.de (Maximilian Steinbeis).

VG Regensburg zu Corona und Kita: Das Verwaltungsgericht Regensburg hat das in Bayern noch bis Ende des Monats geltende Kita-Verbot gekippt, melden SZ (Kassian Stroh) und zeit.de. Zwar sei die Pandemie keineswegs überstanden und weitere Schutzmaßnahmen erforderlich, allerdings sei die Schließung angesichts ihrer bereits langen Dauer und des gegenwärtigen Infektionsgeschehens nicht mehr verhältnismäßig.

LG Frankenthal zu Pferdeunfall: Beim Überholen zweier Pferde mit einem Liegefahrrad hätte ein Mann mindestens eineinhalb bis zwei Meter Sicherheitsabstand lassen sollen. Da er die Pferde aber tatsächlich nur mit einem Abstand von 40 Zentimetern passierte, sah das Landgericht Frankenthal eine Mitschuld des Fahrradfahrers dafür, dass das Pferd mit den Hufen ausschlug und ihn zum Stürzen brachte. So sprach ihm das Gericht für seine Schürfwunden und eine Verletzung an der Hand nur ein um die Hälfte reduziertes Schmerzensgeld von 3.000 Euro zu, berichtet lto.de.

LSG Niedersachsen-Bremen zu Berufskleidung: Jobcenter haben die Kosten für Berufskleidung von Kindern von Hartz-IV-Empfängern zu übernehmen. Dies entschied das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen nach Meldung von lto.de im Fall eines 17-jährigen Schülers, der für den Kochunterricht auf einer Berufseinstiegsschule ein neues Kleidungsset im Wert von 115 Euro benötigte. Voraussetzung der Kostenübernahme sei jedoch, dass es sich dabei um reine Berufskleidung handele, nicht um solche, die auch im Alltag getragen werden könne. 

Recht in der Welt

Russland – Aktivisten verurteilt: Im russischen Sankt Petersburg sind zwei 25- und 27-jährige Männer wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu fünfeinhalb und sieben Jahren Straflager verurteilt. Die Beweislage war dünn, wie die taz (Klaus-Helge Donath) berichtet, es stehen zudem Vorwürfe im Raum, die Angeklagten seien in der Haft gefoltert worden.

Sonstiges

Corona – Tönnies: Nach Forderungen des Bundesarbeitsministers Hubertus Heil (SPD), den Fleischunternehmer Clemens Tönnies für den Corona-Ausbruch in seiner Fleischfabrik zivilrechtlich haftbar zu machen, erläutern FAZ (Dietrich Creutzburg) und Welt (Carsten Dierig) die rechtlichen Grundlagen eines solchen Vorgehens. Hierfür müsse Tönnies nicht nur Arbeitsschutzvorgaben vernachlässigt haben, sondern die Infektionen geradezu mutwillig herbeigeführt haben. Ohne genaue Kenntnisse, wo die Infektionskette begonnen habe, sei eine Klärung von Haftungsfragen sehr schwierig.

Anette Dowideit (Welt) nennt Heils Forderung richtig. Tönnies hätte die Gefahr erkennen und seine Arbeiter konsequent und breit testen lassen müssen.

Buback-Mord: Die FAZ (Rüdiger Soldt) bringt eine Rezension eines Buches von Michael und Elisabeth Buback, in denen sich der Sohn des 1977 von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Bubacks zusammen mit seiner Ehefrau mit der juristischen Aufarbeitung des Mordes beschäftigt. Buback sehe – anders als das Oberlandesgericht Stuttgart – die RAF-Terroristin Verena Becker als Todesschützin an und sei deshalb nicht zufrieden mit ihrer Verurteilung wegen psychischer Beihilfe zu lediglich vier Jahren Freiheitsstrafe. Zwar trage das Buch viele Mosaiksteine und Indizien zusammen, zum Nachweis von Beckers Täterschaft reichten diese jedoch nicht aus.

Demjanjuk-Prozess: Mit der langwierigen und komplexen strafrechtlichen Verfolgung des ehemaligen Wachmanns im KZ in Sobibor, John Demjanjuk, in den USA, Israel und Deutschland befasst sich ein in der FAZ (Alexander Haneke) besprochenes Werk von Lawrence Douglas. Nach seiner Auslieferung aus den USA nach Israel war Demjanjuk dort zuerst verurteilt worden, bis sich herausstellte, dass ihn die Zeugen mit einem anderen KZ-Wachmann verwechselt hatten. Schließlich wurde vor dem Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord in Sobibor verurteilt- Dabei ließ das Gericht entgegen der bis dahin gängigen Praxis den bloßen Dienst als KZ-Wachmann als Aufrechterhalten des Tötungsbetriebs und damit strafbare Beihilfe ausreichen.

Atomwaffen und Völkerrecht: Rechtsprofessor Kai Ambos und der Wissenschaftliche Mitarbeiter Matthias Lippold erklären im FAZ-Einspruch die völkerrechtlichen Grundlagen hinsichtlich eines möglichen Verbotes von Nuklearwaffen. Nach dem Nichtverbreitungsvertrag von 1968 hätten sich die Nicht-Nuklearstaaten dazu verpflichtet, Nicht-Nuklearstaaten zu bleiben, und die Nuklearstaaten hätten sich zu Verhandlungen verpflichtet, um Nicht-Nuklearstaaten zu werden. Es gebe aber derzeit kein allgemeines Atomwaffenverbot – hierfür bedürfe es verstärkter zivilgesellschaftlichen Initiativen.

Corona und Kanzleien: Im Hbl bespricht Aled Wyn Griffiths die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Kanzleimarkt. Einige größere Kanzleien würden auf Einstellungen verzichten, was den kleineren zugute komme. Diese könnten ihre offenen Stellen mit Personen besetzen, die normalerweise zu einem größeren Wettbewerber gegangen wären. 

 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 23. Juni 2020: Seehofer vs. taz / Voßkuhle verabschiedet / Vorschlag zur Suizidhilfe-Regelung . In: Legal Tribune Online, 23.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41970/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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