Die juristische Presseschau vom 15. Mai 2020: EuGH zu unga­ri­schen Grenz­la­gern / Wall­ra­ben­stein ans BVerfG / Nach­wehen des EZB-Urteils

15.05.2020

Ungarische Containerlager für Asylbewerber verstoßen gegen EU-Recht. Astrid Wallrabenstein wird Bundesverfassungsrichterin. Das EZB-Urteil des Verfassungsgerichts bewegt weiter die Gemüter. 

Thema des Tages

EuGH zu ungarischer Asylbewerber-Unterbringung: Die Unterbringung von Asylbewerbern im Transitlager Röszke an der serbisch-ungarischen Grenze ist als Haft einzustufen. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden und ist damit der Einschätzung des Generalanwalts gefolgt. Die dort untergebrachten Asylbewerber können das Lager in keines der beiden Grenzländer verlassen, da sowohl Ungarn als auch Serbien die Aufnahme verweigern. Als Folge der Einstufung als Haft darf Ungarn die Flüchtlinge nun nicht länger als vier Wochen festhalten – ist bis dahin das Verfahren nicht abgeschlossen, müssen sie zu dessen Fortführung ins Land gelassen werden. Es berichten FAZ (Marlene Grunert/Stephan Löwenstein), taz (Christian Rath), Welt (Boris Kálnoky) und lto.de

Reinhard Müller (FAZ) begrüßt das Urteil. Wer aus seiner Heimat fliehe, um in Europa Zuflucht zu suchen, sei kein Straftäter und müsse ein Recht auf wirksamen Rechtsschutz haben. Christian Jakob (taz) merkt an, dass ein solches Urteil den Betroffenen erst nach langer Zeit helfe. Wer Flüchtlingen ihre Rechte vorenthalte, habe in der EU oft erst einmal freie Hand.

Corona und Recht 

BVerfG zu Corona: Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, in denen sich ein Kläger gegen die Corona-Einschränkungen generell richtete, ein anderer wiederum gegen deren Lockerungen. Das Gericht betonte den Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Staates und stellte fest, dass zum Schutz der Risikogruppe auch jungen und gesunden Bürgern Opfer abverlangt werden dürften, berichten FAZ (Constantin van Lijnden) und lto.de.

Quarantäne nach Einreise: Nachdem das niedersächsische Oberverwaltungsgericht die landesrechtliche pauschale Quarantänepflicht außer Vollzug gesetzt hat, hat nun das Verwaltungsgericht Hamburg die entsprechende hamburgische Regelung in einem Einzelfall für rechtswidrig befunden, melden lto.de und lawblog.de (Udo Vetter).* Der Kläger war aus Schweden eingereist und hatte geltend gemacht, sich in einer abgelegenen Region mit wenigen Infektionsfällen aufgehalten zu haben und daher keinem besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt gewesen zu sein. Das Gericht folgte ihm und führte aus, für nicht ansteckungsverdächtige Personen sei eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Es könne nicht mehr pauschal davon ausgegangen werden, dass alle aus dem Ausland nach Hamburg einreisenden Personen ansteckungsverdächtig seien. lto.de (Markus Sehl) analysiert die Auswirkungen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen auf den Rest der Bundesrepublik. Es gebe in allen Bundesländern gleichlautende Regelungen zur Quarantänepflicht, weshalb mehrere Bundesländer sowie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nun forderten, sie umgehend anzupassen bzw. außer Kraft zu setzen. 

Corona-App: Constantin van Lijnden (FAZ) warnt im Leitartikel vor "überwachungsstaatlichen Narrativen und Grundängsten", welche viele Deutsche gegen die geplante Corona-App hegten. Tatsächlich sei diese datenschutzrechtlich unproblematisch. 

Corona - Grundrechte: Der Akademische Rat Stephan Wagner führt auf verfassungsblog.de aus, warum die Grundrechtsdogmatik – insbesondere die Methode der Abwägung – zufriedenstellende Antworten liefern könne auf die Frage, inwieweit coronabedingte Grundrechtseingriffe verfassungsmäßig seien.

Corona – Gruppenbezogene Maßnahmen: Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Isolation von Risikogruppen bei der Bekämpfung des Coronavirus begründet Sophie Woller auf grundundmenschenrechtsblog.de. Eine derartige Maßnahme würde wohl innerhalb der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers liegen.

Corona – Bundesrat: Die FAZ (Helene Bubrowksi) berichtet über ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, wonach die Kompetenzen des Bundesrats durch die neue Fassung des Infektionsschutzgesetzes gefährdet seien. Diese erlaubt den Erlass von Verordnungen über die medizinische Grundversorgung ohne die Zustimmung des Bundesrates auch dann, wenn dadurch von Gesetzen abgewichen wird, die mit dessen Zustimmung erlassen wurden. Nach dem Gutachten hätte der Bundesrat dieser Novelle nicht zustimmen dürfen, wenn hierdurch auf Zustimmungserfordernisse in nicht überschau- und einschätzbarer Fülle verzichtet würde.

Rechtspolitik

Verfassungsrichterwahlen: Die Rechtsprofessorin Astrid Wallrabenstein soll am Freitag im Bundesrat an das Bundesverfassungsgericht gewählt werden und am Zweiten Senat die Richterposition des scheidenden Andreas Voßkuhle übernehmen. Der bisherige Vizepräsident Stephan Harbarth solle zum Präsidenten des Gerichts aufrücken. Dies meldet FAZ (Reinhard Müller). In der Nachfolge  für Johannes Masing am Ersten Senat hätten die SPD-regierten Länder noch keinen Vorschlag gefunden. Im Spiel sind Rechtsprofessor Martin Eifert sowie die Richter Jes Möller und Lars Brocker.

Alan Posener spricht sich in der Welt für den Sozialdemokraten Jes Möller als Nachfolger von Masing aus. Dass Möller Ostdeutscher sei, sei entgegen mancher Behauptung zwar nicht von Belang. Er sei aber kompetent und unabhängig, ein "interessanter Kopf" und habe überdies schon früh Widerstand gegen das SED-Regime geleistet.

Justiz

BVerfG zu EZB-Anleihekauf: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) schlägt weiter Wellen. Verfassungsrechtler Jan Komarek warnt im Interview mit der Welt (Philipp Fritz) zwar davor, dass Polen und Ungarn das Urteil als Vorwand nutzen würden. Diesen Preis müsse man aber zahlen, um durch eine verfassungsgerichtliche Prüfung die EZB verantwortlich zu machen. Auch Rechtsprofessor Matthias Jestaedt verteidigt das Urteil in einem Gastbeitrag für FAZ-Einspruch gegen den Vorwurf, es leiste dem Populismus Schützenhilfe. Unabhängig davon, ob man seiner Begründung oder dem Ergebnis zustimme, müsse man anerkennen, dass es nach gründlicher Erwägung gefallen sei und "allen Standards richterlicher Professionalität" genüge.

Die Chancen auf ein von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen ins Spiel gebrachtes Vertragsverletzungsverfahren betrachtet SZ (Matthias Kolb) derweil als gering. Zu wichtig sei der Europäischen Kommission die richterliche Unabhängigkeit, und ein Verletzungsverfahren könne das Karlsruher Urteil ohnehin nicht rückgängig machen.

Die SZ (Wolfgang Janisch) erinnert an zwei Sondervoten der damaligen Verfassungsrichter Lübbe-Wolff und Gerhardt aus dem Jahr 2014, in welchen diese das Gericht zur Zurückhaltung aufriefen und die man "aus heutiger Sicht als visionär" bezeichnen müsse. Thomas Kirchner (SZ) sieht in möglichen Klagen gegen das Corona-Rettungsprogramm schon einen weiteren Eklat am Horizont. Hier überschreite die EZB aus Karlsuher Sicht vermutlich noch stärker ihre Kompetenzen als bei den bisherigen Anleihekaufprogrammen. 

BGH – Ritter-Sport-Marke: Zum zweiten Mal verhandelt der Bundesgerichtshof über die Frage, ob sich Ritter Sport seine charakteristische quadratische Verpackung als Marke schützen lassen darf. Entscheidend ist dabei die Frage, ob das Schokoquadrat ausschließlich aus einer Form besteht, die der Ware einen "wesentlichen Wert" verleiht. Im ersten Prozess 2017 hatte der BGH den Markenschutz noch bestätigt, der Konkurrent Milka versucht erneut, die Löschung durchzusetzen. Es berichten Welt (Michael Gassmann)lto.de und StZ (Christian Gottschalk).

BVerwG/OVG NRW zu Polizisten-Tattoos: Bundesverwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen haben zur Zulässigkeit verschiedener Tätowierungen bei Polizisten geurteilt. Sie unterschieden dabei nach Motiv und Körperteil, wie lto.de, zeit.de und lawblog.de (Udo Vetter) berichten. Während Leipzig entschied, dass bayerische Polizisten keine Tätowierungen auf Händen, Unterarm, Kopf oder Hals tragen dürften – wozu auch das "Aloha"-Tattoo des Klägers zähle – wertete das OVG Münster ein Löwen-Tattoo auf der Brust als zulässig.

BAG zur Einbeziehung von Tarifverträgen: Arbeitgeber dürfen die Geltung eines neuen Tarifvertrags nicht mehr davon abhängig machen, ob dieser im Arbeitsvertrag ausdrücklich einbezogen worden ist. Diese Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes erläutert Rechtsanwalt Alexander Willemsen auf lto.de und geht dabei auch auf die praktischen Auswirkungen ein. 

BGH – HOAI: Der Bundesgerichtshof hat dem Europäischen Gerichtshof drei Fragen zur Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) vorgelegt. Im Juli 2019 hatte der EuGH geurteilt, Deutschland habe durch die Beibehaltung des Preisrechts gegen die sog. Dienstleistungsrichtlinie verstoßen. Fraglich sei nun unter anderem, ob die Dienstleistungsrichtlinie auch zwischen Privaten unmittelbare Anwendung finde, wie Rechtsanwalt Heiko Fuchs auf lto.de ausführt.

Recht in der Welt

EuGH – Österreich: Die Europäische Kommission verklagt Österreich vor dem Europäischen Gerichtshof wegen seiner Kindergeldregeln für EU-Bürger. Österreich hatte die Zahlungen des Kindergelds an die Lebenshaltungskosten im Wohnsitzstaat des Kindes angepasst. Für zehntausende in Österreich arbeitende Ungarn, Polen, Rumänen und Slowaken, deren Kinder in der Heimat leben, hatte dies zu einer Leistungskürzung geführt. Die Kommission macht einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot geltend, berichten FAZ (Andreas Mihm) und zeit.de.

Daniel Deckers (FAZ) hält die Klage für unbegründet. Das Kindergeld sei eine Sozialleistung, die an den tatsächlichen Erziehungs- und Ausbildungsbedarf des Kindes anknüpfe. Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebiete es daher nachgerade ungleiche Lebenshaltungskosten nicht gleich zu behandeln. 

Frankreich – Hassrede: Frankreich hat ein Gesetz gegen Hassrede im Netz verabschiedet, welches vom deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz inspiriert ist. Es verpflichtet Online-Plattformen, strafbare Inhalte binnen 24 Stunden zu entfernen, bestraft aber gleichzeitig auch den Missbrauch des Gesetzes: Wer fälschlicherweise Hassbotschaften melde, um andere Nutzer sperren zu lassen, müsse bis zu 15.000 Euro zahlen. Kritiker bemängeln, der Begriff der "Hassbotschaft" sei zu unbestimmt und die Bewertung der Strafbarkeit einer Äußerung müsse der Justiz obliegen, nicht den Plattformen selbst. Es berichtet FAZ (Michaela Wiegel).

Ungarn – Fake News: Nach der Einführung eines Straftatbestandes gegen die Verbreitung "falscher oder verzerrter Fakten" geht Ungarn scharf gegen Regierungskritiker vor. Wie die FAZ berichtet, kam es zu Hausdurchsuchungen und vorübergehenden Festnahmen wegen eines Facebook-Posts, in denen ein Mann vor verfrühten Lockerungen und einer zweiten Corona-Infektionswelle warnte. Allerdings habe die Staatsanwaltschaft ihn wieder laufen lassen, weil seine Äußerungen den Tatbestand erkennbar nicht erfüllten. 

EuGH – Entschädigung für Gewalttaten: Der Europäische Gerichtshof hat die Frage zu entscheiden, in welchen Fällen die EU-Staaten Regelungen zu einer Entschädigung für Opfer von Gewalttaten treffen müssen. Die EU-Kommission ist der Auffassung, die entsprechende Richtlinie habe nur Geltung für grenzüberschreitende Sachverhalte. Der Generalanwalt hingegen vertrat am Donnerstag in seinen Schlussanträgen die Auffassung, die Entschädigungspflicht greife für jegliche Gewalttaten im Hoheitsgebiet des Staates. Es berichtet lto.de

Sonstiges

Young Global Leader: lto.de (Anja Hall) hat mit Anahita Thoms gesprochen, Partnerin bei Baker McKenzie, die vom Weltwirtschaftsforum zum Young Global Leader 2020 ernannt wurde. Sie spricht über das anspruchsvollen Aufnahmeverfahren und das Programm, das der Kreis von insgesamt 114 jungen Führungspersönlichkeiten anstrebt.  

Das Letzte zum Schluss

Im Liebeswahn(delikt): Ein 20-jähriger Amerikaner war trotz Corona per Flugzeug nach Frankfurt geflogen, weil er Sehnsucht nach seiner deutschen Freundin hatte. Weil er aber Zweifel hatte, dass man ihn an einer Kontrollstelle im Transitbereich passieren lassen würde, zog er sich flugs eine Warnweste an und versuchte die Sicherheitsmitarbeiter davon zu überzeugen, dass er Mülltonnen auf der anderen Seite leeren müsse. Zwar fiel der Schwindel schnell auf, doch strafbar war er nicht: Wie lawblog.de (Udo Vetter) berichtet, fand die Diskussion im Transitbereich statt. Die Passkontrolle wäre also erst deutlich später erfolgt, weshalb nicht einmal der Versuch der illegalen Einreise vorgelegen habe. 

*Anm. d. Red.: Formulierung korrigiert am Tag der Veröffentlichung, 13:00 Uhr. Das VG Hamburg hat nur im Einzelfall entschieden und die Regelung nicht generell außer Vollzug gesetzt.

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mps

(Hinweis für Journalisten)   

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 15. Mai 2020: EuGH zu ungarischen Grenzlagern / Wallrabenstein ans BVerfG / Nachwehen des EZB-Urteils . In: Legal Tribune Online, 15.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41625/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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