Die juristische Presseschau vom 14. Mai 2020: And­reas Voß­kuhle im Inter­view / Her­aus­gabe interner Corona-Erlasse / "Gefäng­nisse sind schäd­lich"

14.05.2020

Der scheidende Präsident des BVerfG diskutiert über aktuelle verfassungsrelevante Fragestellungen. Hannoveraner Justizministerium muss Corona-Erlasse zugänglich machen und ehemaliger JVA-Leiter prangert Missstände im Strafsystem an.

Thema des Tages

Voßkuhle im Interview: In einem ausführlichen Gespräch mit der Zeit (Giovanni di Lorenzo/Heinrich Wefing) diskutiert der scheidende Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), Andreas Voßkuhle, unter anderem das in der letzten Woche von seinem Senat erlassene EZB-Urteil und dessen Auswirkungen. Dabei betont er, dass das Urteil den Europäischen Gerichtshof nicht schwächen solle, sondern gerade auffordere "mehr und intensiver" zu kontrollieren. Auch sieht Voßkuhle die Autorität des Europäischen Gerichtshofs durch das Urteil nicht gefährdet. Ferner kommt der Hass in den sozialen Medien zur Sprache, von dem auch die Richter des BVerfG nicht verschont bleiben. Bezüglich der weitreichenden Corona-Maßnahmen sieht Voßkuhle keine unmittelbare Gefährdung der Grundrechte und meint, es drohe auch kein Unrechtsstaat, wie es einige Gegner der Maßnahmen behaupten. Außerdem wird über die Ursprünge und den Aufstieg des Populismus in Deutschland und Europa gesprochen. Das Vertrauen in das BVerfG sei durch diesen nicht geschwächt, aber es sei gerade deshalb wichtig, dass sich "Verfassungsgerichte an das Recht halten, nicht an den Zeitgeist", so Voßkuhle weiter. Zuletzt plädiert er für mehr Kommunikation in der Justiz und teilt einige persönlichen Erfahrungen als Präsident des BVerfG.

Corona und Recht

Corona und Gutscheinregelung: Die EU-Kommission hat gegen mehrere Länder der Europäischen Union erste Schritte eines Vertragsverletzungsverfahrens eingeleitet. Die Länder führten als Entschädigung für abgesagte Reisen oder Flüge verpflichtend Gutscheine ein, um so die Liquidität der Firmen zu sichern. Nach geltendem EU-Verbraucherschutzrecht müssen die Kosten jedoch zeitnah erstattet werden. Wie lto.de und deutschlandfunk.de berichten, sollten ursprünglich auch in Deutschland Verbraucher verpflichtet werden, statt Erstattung Gutscheine zu akzeptieren.

Da die EU-Kommission zunächst nur Anschreiben mit dem Hinweis auf das geltende EU-Recht an die Staaten richtete, meint Hendrik Kafsack (FAZ), dass sich die EU-Kommission damit ein weiteres Mal erst als Verbraucherschützerin aufspiele, schließlich die Konfrontation mit den Staaten aber meide.

VG Hannover zu internen Corona-Erlassen: Das Justizministerium Niedersachsen muss alle Erlasse zum Umgang der Gerichte in Bezug auf die Corona-Pandemie zugänglich machen. Dies entschied das Verwaltungsgericht Hannover und gab damit dem Eilantrag des Transparenzportals "Frag den Staat" statt. Wie die taz (Alina Götz), lto.de und lawblog.de (Udo Vetter) berichten, hatte das Portal sein Herausgabegesuch auf die Vorschriften des Umweltinformationsgesetzes gestützt. Das Justizministerium verweigerte die Herausgabe, da es sich bei den Erlassen um keine Umweltinformationen handeln würde. Dies sah das Gericht nun anders.

Corona und Arbeitsschutz: Praktische Fragen zum Arbeitsschutz während der Corona-Pandemie klärt Rechtsanwalt Robert von Steinau-Steinrück im Interview mit lto.de (Tanja Podolski). Dabei geht es unter anderem um die Möglichkeiten des Arbeitgebers, die Mitarbeiter zur Büroarbeit zu verpflichten, die Durchsetzung von Schutzpflichten, wie das Tragen einer Maske, und die Zurechnung des Infektionsrisikos.

Spanien – Klagen gegen Regierung: Beim Obersten Gerichtshof in Madrid gingen seit Wochenbeginn diverse Sammelklagen gegen den Ministerpräsidenten Pedro Sanchez und sein Kabinett ein. Von über 3000 Familien werde sie wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Hilfeleistung angezeigt, wie die SZ berichtet. Spanien ist eines der Länder, welches am härtesten von der Corona-Pandemie betroffen ist.

Auf verfassungsblog.de erläutert Professor Miguel Angel Presno Linera (in englischer Sprache) die dreischrittige Notfall-Gesetzgebung, wie sie in der spanischen Verfassung vorgesehen ist und wie diese unter anderem während der Corona-Pandemie genutzt wurde und wird.

Rechtspolitik

EU-Tabaksteuerrichtlinie: Wie die SZ (Björn Finke) meldet, fordert die Fraktion der Grünen im Bundestag die Bundesregierung auf, sich für eine Reform der EU-Tabaksteuerrichtlinie einzusetzen. Die Richtlinie sei bereits neun Jahre alt und berücksichtige nicht die neuen Produkte wie E-Zigaretten und Tabakerhitzer, so dass diese sehr unterschiedlich und nicht passend zu ihrer Gesundheitsschädlichkeit besteuert werden.

Justiz

BVerfG zu EZB-Anleihekauf: Ausführlich kommentiert nun auch Marcus Jung (FAZ) das EZB-Urteilt des BVerfG von letzter Woche und betont, dass die Europäische Union ihre Legitimation aus den Mitgliedstaaten erhalte, weshalb ihnen die "Letztkontrolle" zustehe. Eine solche solle aber nicht in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland enden, wie es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen derzeit erwägt. Volkswirt Holger Schmieding (FAZ) hält das Urteil hingegen für "mehr als fragwürdig" und meint, es beruhe auf einem "falschen Verständnis von Geldpolitik". Ferner erklärt der Autor drei Gründe, weshalb der Vorwurf der Kompetenzüberschreitung seitens der EZB dem Sachverhalt nicht gerecht werde.

In einem Beitrag in der Zeit (Mark Schieritz) wird ein vom Kölner Max-Planck-Institut entwickeltes Szenario erläutert und diskutiert, wonach sich die Euro-Zone aufgrund des EZB-Urteils bis in zwei Jahren aufgelöst haben könnte. Zudem wird die Rolle der Bundesbank in diesem Zusammenhang eruiert.

Rechtsprofessorin Anna Katharina Mangold diskutiert in einem Beitrag auf lto.de den Inhalt und die Reaktionen auf das EZB-Urteil. Ausführlich geht sie dabei auf die Möglichkeit und Folgen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland ein. In einem Podcast auf verfassungsblog.de (Maximilian Steinbeis) erklärt Rechtsprofessorin Anuscheh Farahat, dass der EZB im allgemeinen Einverständnis der EU-Mitgliedsstaaten die Umverteilungspolitik überlassen werde, weil es in den EU-Verträgen keine Grundlage für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik mit Umverteilungswirkung gebe.

BGH zu Reichsbürger: Im April letzten Jahres war Adrian Ursache vom Landgericht Halle unter anderem wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte bei der Zwangsräumung seines Grundstücks im August 2016 auf einen SEK-Beamten geschossen, welcher nur wegen seiner Schutzkleidung überlebte. Nun verwarf der Bundesgerichtshof die gegen das Urteil gerichtete Revision ohne weitere Begründung. Das Urteil ist nun rechtskräftig. Der Verfassungsschutz zählt Ursache zu den sog. Reichsbürgern, wie lto.de weiter berichtet. 

BGH zu Online-Banking: Die Deutsche Kreditwirtschaft (DK) und andere Spitzenverbände haben wettbewerbswidrige Abstimmungen über Online-Banking Regelungen getroffen. Das bestätigt der Bundesgerichtshof in einem jetzt veröffentlichten Beschluss und bestätigt damit die Entscheidung des Bundeskartellamts (BKartA) aus dem Jahr 2016. Wie die FAZ (Marcus Jung) berichtet, hatte das BKartA im Streit zwischen den Bankenverbänden und der Sofort GmbH bestimmte Klauseln in Online-Banking-Bedingungen für rechtswidrig erklärt.

VerfGH Thüringen – Paritätsgesetz: Am Mittwoch fand eine erste Verhandlung vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof im Verfahren um die Verfassungsmäßigkeit einer Änderung des Thüringischen Landeswahlgesetzes statt. Diese Änderung war im Juli 2019 im Landtag in Erfurt beschlossen worden und sieht eine Regelung vor, wonach die Wahllisten der Parteien paritätisch besetzt sein müssen. Gegen diese Paritätsregelung legte die AfD Verfassungsbeschwerde ein. Das Grundsatzurteil wird Mitte Juli erwartet und könnte auch Signalwirkung für ein ähnliches Verfahren vor dem Brandenburgischen Verfassungsgericht haben. Es berichten die SZ und lto.de.

LG München I – Wirecard: Vor dem Landgericht München I hat die auf Bank- und Kapitalmarktrecht spezialisierte Kanzlei Tilp für ihre Mandantin, das Anlegermagazin "Effecten-Spiegel", die erste deutsche Anlegerklage gegen den Zahlungsabwickler Wirecard eingereicht. Weil Wirecard ihren Aktionären nicht rechtzeitig korrekte Kapitalmarktinformationen gegeben habe, macht Tilp für den Kläger sog. Kursdifferenzschäden geltend, wie lto.de erklärt. Wirecard weist die Schadensersatzforderungen bisher zurück. Wie auch die FAZ und die SZ berichten, habe Tilp zudem einen Antrag nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) vor dem Oberlandesgericht München gestellt, um dort ein Musterverfahren einzuleiten.

Recht in der Welt

Polen – Wahlrecht: Nachdem die Präsidentschaftswahl wegen der Corona-Pandemie nicht wie geplant am 10. Mai stattfinden konnte, hat nun der Sejm ein geändertes Wahlgesetz verabschiedet. Danach soll in Wahllokalen und per Brief gewählt werden können. Laut SZ (Florian Hassel) muss das Gesetz nun im von der Opposition kontrollierten Senat beraten werden.

Armenien – Kinderschutz: Am Dienstag hat das armenische Parlament in Konvention des Europarates zum Schutz von Kindern gegen sexuellen Missbrauch (Lanzarote Konvention) ratifiziert. Nationalistische Gruppen demonstrierten dagegen, wie die taz (Barabara Oertel) berichtet. Barabara Oertel (taz) begrüßt die Ratifizierung und hofft, dass nun auch die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen ratifiziert werden könnte.

Juristische Ausbildung

Corona und Jurastudium: Während der Corona-Pandemie bieten viele juristische Fakultäten ihre Lehre in verschiedenen Online-Formaten an. In einem Beitrag auf lto.de (Sabine Olschner) werden vier Universitäten und ihre unterschiedlichen Ansätze dargestellt.

Sonstiges

Freiheitsstrafe: Gefängnisse nützen niemandem, sondern sind "eine schädliche und überholte Institution". Diese Ansicht äußert der Rechtsanwalt Thomas Galli, der früher eine Justizvollzugsanstalt leitete in einem Beitrag für die Zeit. So dauere circa die Hälfte aller Freiheitsstrafen lediglich bis zu einem Jahr, die sozialen, physischen und psychischen Auswirkungen seien allerdings langzeitig und gravierend.

 


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lto/ali

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 14. Mai 2020: Andreas Voßkuhle im Interview / Herausgabe interner Corona-Erlasse / "Gefängnisse sind schädlich" . In: Legal Tribune Online, 14.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41611/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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