Die juristische Presseschau vom 30. April 2020: BVerfG zu Got­tes­dien­sten / Anklage im Mord­fall Lübcke / EU-Kom­mis­sion eröffnet neues Ver­fahren gegen Polen

30.04.2020

Das Bundesverfassungsgericht verlangt Einzelfallprüfung bei Gottesdienstverboten. Im Mordfall Walter Lübcke hat die Bundesanwaltschaft Anklage erhoben. Die EU-Kommission erhebt Vertragsverletzungsklage gegen das polnische "Maulkorb-Gesetz".

Thema des Tages

BVerfG – Gottesdienste: Das Bundesverfassungsgericht hat im Wege der einstweiligen Anordnung die Corona-Verordnung des Landes Niedersachen insoweit vorläufig außer Vollzug gesetzt, als diese keine Möglichkeit vorsieht, auf Antrag im Einzelfall Ausnahmen vom Verbot der Durchführungen von Gottesdiensten in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie von Zusammenkünften anderer Glaubensgemeinschaften zur gemeinsamen Religionsausübung zuzulassen. Der Beschluss erging auf Antrag eines eingetragenen Vereins, der gemeinsame Freitagsgebete im Fastenmonat Ramadan durchführen möchte. Das Gericht gab dem Antrag mit der Begründung statt, dass eine Verfassungsbeschwerde gegen den Ablehnungsbeschluss voraussichtlich Erfolg hätte. Es sei vorstellbar, bei einer einzelfallbezogenen Bewertung der mit dem Zusammentreffen einhergehenden Gefahren zu dem Ergebnis zu kommen, dass der Schutz der durch das Verbot von Gottesdiensten schwerwiegend betroffenen Religionsfreiheit überwiege. Die Prüfung im Einzelfall müsse deshalb von Verfassungs wegen vorgesehen sein. spiegel.de und tagesschau.de (Gigi Deppe) berichten. 

Corona und Recht

BVerfG – Fitnessstudios: Das Bundesverfassungsgericht hat den Antrag eines Fitnessstudio-Betreibers aus Baden-Württemberg abgelehnt, mit dem dieser die Corona-Verordnung des Landes außer Vollzug gesetzt setzen wollte, die ihm den Betrieb seines Fitnessstudios für den Publikumsverkehr bis zum 3. Mai 2020 untersagt. Das Gericht entschied laut lto.de aufgrund einer Folgenabwägung.

VGH BaWü – Gaststättenbetrieb: Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat den Eilantrag einer Restaurantbetreiberin gegen die Corona-Verordnung des Landes abgelehnt, die ihr den Betrieb ihrer Gaststätten untersagt. Ihr Vorbringen, sie werde gegenüber dem Einzelhandel, der öffnen dürfe, ungerechtfertigterweise benachteiligt, wies der VGH zurück: Zwischen der Gastronomie und dem Einzelhandel bestünden wesentliche Unterschiede insbesondere in Hinblick auf die übliche Dauer des Aufenthalts. lto.de berichtet. 

VerfGH Saarland zu Ausgangsbeschränkungen: Nun berichten auch die SZ (Joachim Käppner) und lto.de über die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlands, die landesrechtliche Beschränkung auf Ausgänge "mit triftigem Grund" mit sofortiger Wirkung außer Kraft zu setzen. 

Corona – Föderalismus: In einem Gastbeitrag auf FAZ-Einspruch setzt sich der Wissenschaftliche Mitarbeiter Lutz Friedrich mit der föderalen Vielfalt an Regelungen zur Corona-Bekämpfung auseinander und würdigt den dadurch entstehenden Wettbewerb als Mittel zum Schutz bürgerlicher Rechte und als Möglichkeit, gesellschaftlichen Pluralismus zu reflektieren. Die Länder könnten besonders in der Krise als "Lösungslaboratorien" wertvoll sein. 

HessVGH zu 800-qm-Regel: Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat den Eilantrag eines Unternehmens abgewiesen, mit dem sich dieses gegen das coronabedingte Verbot der Ladenöffnung für Geschäfte mit einer Ladenfläche von mehr als 800 qm wehrte. Das Gericht sah den nicht unerheblichen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit als verhältnismäßig, und damit gerechtfertigt, an. lto.de führt außerdem die divergierenden Entscheidungen der Gerichte der Länder auf. 

VG Gelsenkirchen – Versammlungsfreiheit: Laut lto.de hat das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einem Eilantrag stattgegeben und die Stadt Gelsenkirchen verpflichtet, die Versammlung "Heraus zum 1. Mai! Gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Beschäftigten, ihre Familien und die Natur. Gegen Rechtsentwicklung und Faschismus, für internationale Solidarität" unter strengen Auflagen zu genehmigen. Die Teilnehmerzahl ist auf 70 Personen beschränkt. 

Corona – Gleichheit: Jens Jessen (Zeit) kritisiert den widersprüchlichen Umgang mit dem Gleichheitsgrundsatz im Umgang mit der Corona-Pandemie. Mal werde er als absolutes Prinzip anklagend ins Feld geführt (beispielsweise gegen den differenzierenden Umgang mit Bevölkerungsgruppen), mal werde aus pragmatischen Gründen auf seine Berücksichtigung verzichtet (bei der Gewerbefreiheit für kleinere und nicht für größere Geschäfte). Die Kanzlerin könne letzlich nur auf die gutmütige Bereitschaft der Bürger setzen, es mit der Verfassung vorübergehend nicht zu genau zu nehmen, meint er.

Corona – Immunitätsausweis: Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf beschlossen, wonach die Ausübung von Rechten – wie das Betreten bestimmter Orte – an das Führen eines Immunitätsnachweises geknüpft werden könnte. Da bislang allerdings wissenschaftlich noch nicht belegt sei, dass Menschen nach einer Covid-19-Erkrankung nicht wieder ansteckend sein könnten, würde es sich bei einer solchen Regelung um eine vorsorgliche handeln, so Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Die SZ (Kristina Ludwig/Max Muth) berichtet. 

In einem separaten Kommentar lehnt Kristina Ludwig (SZ) das Vorhaben ab, weil es fatale Anreize setze: "Wenn ein Immunitätspass zum Freifahrtschein wird, werden sich viele Menschen bewusst anstecken wollen."

Corona – Online-Prozesse: Wie die FAZ (Marcus Jung) berichtet, hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der vorübergehende Regelungen zum Einsatz von Videotechnik in Arbeits- und Sozialgerichtsverfahren vorsieht. Zudem soll die Durchführung schriftlicher Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht und dem Bundessozialgericht erleichtert werden. 

Corona – Ferienhausmietvertäge: community.beck.de (Stefanie Bergmann) legt die Rechtslage bei der Rückabwicklung von Ferienhaus-Mietverträgen dar. Diese seien seit der Reform des Pauschalreiserechts von diesem nicht mehr erfasst, vielmehr gelte bei Ferienhäusern im Ausland wegen Art. 4 Abs. 1 lit c. Rom-I-Verordnung regelmäßig ausländisches Recht. Sie kommt zu dem Schluss, dass der Kunde zumindest die Kosten einer Stornierung in der Regel selber tragen muss. 

Corona – Homeoffice: Die SZ (Christiane Kaiser-Neubauer) klärt über die Möglichkeit auf, das Home Office in Zeiten der Corona-Pandemie von der Steuer abzusetzen. Außerdem stellt die SZ (Marcel Grzanna) die Einordnung von Unfällen im Home Office als Arbeitsunfälle im Rahmen des Versicherungsschutzes dar.

Corona – Mietrecht: community.beck.de (Ulf P. Börstinghaus) beantwortet Fragen zum Wohnungs- und Gewerbemietrecht im Zusammenhang mit Corona. Unter anderem beschäftigen ihn behördliche Nutzungsbeschränkungen im Gewerbemietrecht. Diese seien nicht als Mietmängel einzuordnen, weil das Verwendungsrisiko beim Mieter liege.

Rechtspolitik 

EU-Asylrecht: Der Senior Research Fellow Constantin Hruschka analysiert auf lto.de den Vorstoß von vier EU-Staaten inklusive Deutschland zur Reform des EU-Asylsystems. Die Fokussierung auf eine Reform der Dublin-III-Verordnung trage das Scheitern des Vorschlags bereits in sich. 

Verkehrs-Bußgelder: Anlässlich der Erhöhung der Bußgeldsätze spricht spiegel.de (Emil Nefzger) mit dem Verkehrspsychologen zu dem Einfluss von Bußgeldern auf das Verkehrsverhalten. Er hält Maßnahmen wie Fahrverbote und einen schnelleren Verlust des Führerscheins für effektiver im Umgang mit Regelüberschreitungen im Straßenverkehr und hält höhere Strafen für nützlich, um die Bedeutsamkeit der Regeln zu unterstreichen.  

Justiz

BAW – Mord an Walter Lübcke: Die Bundesanwaltschaft hat vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. Anklage gegen Stephan Ernst wegen Mordes an Walter Lübcke und gegen Markus H. wegen Beihilfe zu diesem Mord erhoben. Gegen Markus H. erhebt die BAW außerdem Anklage wegen versuchten Mordes an einem Asylsuchenden im Jahr 2016. Über weitere Einzelheiten zum Tatvorwurf berichten spiegel.de (Sven Röbel u.a.), faz.net (Timo Steppat/Marlene Grunert) und lto.de. Reinhard Müller (FAZ) bezeichnet den Mord an Walter Lübcke in einem Kommentar als "Zäsur des Schreckens".

OLG München zu NSU: Nun befassen sich auch SZ (Annette Ramelsberger), die FAZ (Helene  Bubrowksi/Marlene Grunert) und spiegel.de (Wiebke Ramm) ausführlich mit der Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts München im NSU-Prozess.

lto.de (Annelie Kaufmann) spricht mit der Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens über das Urteil und den Fortgang des Verfahrens sowie weiterer laufender Ermittlungen im NSU-Komplex. Die Anwältin kritisiert, dass die Opfer das Urteil noch nicht erhalten haben. 

Urteile gegen Islamisten: Die taz (Konrad Litschko) berichtet über den Ausgang von drei Strafverfahren gegen Personen, die sich in den Dienst des sogenannten IS gestellt hatten. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat die IS-Rückkehrerin Carla-Josephine S. unter anderem wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, schwerer Kindesentziehung mit Todesfolge zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Vor dem OLG München erging ein Urteil gegen die IS-Rückkehrerin Sibel H. und das OLG Celle verurteilte Ahmet F., Mitangeklagter im Strafverfahren gegen Ahmet A., alias Abu Walaa. 

LG Mönchengladbach – Kindesmissbrauch: Vor dem Landgericht Mönchengladbach hat, wie spiegel.de berichtet, das landesweit erste Verfahren im Zusammenhang mit dem bundesweiten Missbrauchskomplex in Bergisch Gladbach begonnen, auf den die Ermittlungsbehörden im Oktober 2019 aufmerksam wurden und in dessen Zusammenhang seitdem Ermittlungsverfahren gegen mehr als 20 Beschuldigte eröffnet worden sind. 

LG Berlin zu Legal Tech und Inkasso: Das Landgericht Berlin hat entschieden, dass es nicht mehr von der eigenständigen Inkassolizenz gedeckt sei, wenn der Mieter eine Legal-Tech-Plattform damit beauftragt, neben einer Zahlungszurückforderung auch eine Mietreduzierung durchzusetzen, so lto.de. Dies sei keine eigenständige Inkassodienstleistung im Sinne des Rechtsdienstleistungsgesetzes mehr. 

EuGH – Dieselskandal: Am heutigen Donnerstag wird die Generalanwältin des Europäischen Gerichtshofs ihre Schlussanträge zu sogenannten "Abschalteinrichtungen" stellen. Warum die Auslegung der "Ausnahme Motorschutz" in der die Emissionen von Kraftfahrzeugen regelnden EU-Verordnung für den weiteren Umgang mit dem Dieselskandal in Deutschland  bedeutsam ist, erläutert lto.de (Felix W. Zimmermann)

StA Braunschweig – CO2-Angaben von VW: Wie spiegel.de (Andreas Albert) berichtet, hat die Staatsanwaltschaft Braunschweig die Ermittlungsverfahren wegen eventuell bewusst manipulierter CO2-Angaben durch Volkswagen eingestellt. Die zivilrechtlichen Verfahren und die strafrechtlichen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Marktmanipulation und der Software-Manipulationen beim Stickstoffdioxid-Ausstoß seien davon selbstverständlich nicht berührt, so der Oberstaatsanwalt.

Berichte aus dem Gerichtsalltag: Im Rahmen der Reihe "meine Urteile" schreibt der Amtsgerichtsrichter Thomas Melzer in der ZEIT über von ihm durchgeführte Gerichtsverfahren. Sein dieswöchiger Bericht handelt von einem Verfahren, das den Vorwurf der "Ausnutzung der Zwangslage einer Person zum Zwecke der Ausbeutung der Arbeitskraft" (§ 233 StGB a.F.) zum Gegenstand hat. Der Autor schildert plastisch seinen Umgang mit eigenen Voreingenommenheiten und das Zusammenspiel seines Berufs- und seines Privatlebens. 

Recht in der Welt

Polen – Maulkorb-Gesetz: Die Europäische Kommission hat gegen Polen ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, wie lto.de,  
FAZ (Thomas Gutschker) und spiegel.de (Alwin Schröder). berichten. Gegenstand des Verfahrens ist das Mitte Februar in Kraft getretene sogenannte "Maulkorb-Gesetz". Das Gesetz ermöglicht die Disziplinierung von Richtern für die Kritik an Reformen und für die Durchführung von Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. Zuvor hatten sich verschiedene Vertreter von Richtervereinigungen sowie Universitätsprofessoren in einem im verfassungsblog.org veröffentlichten offenen Brief an die Europäische Kommission gewandt und diese mit konkreten Vorschlägen zum Tätigwerden aufgefordert. 

Sonstiges

Rechtsabteilungen: lto.de (Pia Lorenz) stellt eine Studie von Wolters Kluwer und der European Company Lawyers Association (ECLA) dar, in der diese Unternehmensjuristen aus mehreren europäischen Ländern unter anderem zu ihrer Positionierung im Unternehmen sowie zu ihrer Struktur und Organisation befragt hatten. Diese ergab unter anderem, dass ein überdurchschnittlich hoher Anteil deutscher Unternehmensjuristen eher reaktiv arbeiteten und dass Tools aus dem Bereich des Legal Tech, wie beispielsweise automatische Vertrags- und Doumentenanalyse bisher zu vereinzelt zum Einsatz kämen. 

Hochstapler: Der mehrfach wegen Betrugs verurteilte Mike Wappler spricht im Interview mit der Zeit (Stephan Lebert/Stefan Willeke) ausführlich und offen über seine Herangehensweise bei der Begehung von Straftaten und über seine Lebensphilosophie.

Ex-BVerfG-Richterin Hohmann-Dennhardt: Anlässlich ihres 70. Geburtstags zeichnet die FAZ (Marcus Jung) den beruflichen Werdegang der Bundesverfassungsgerichtsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt nach. Sie habe das Familienrecht des BVerfG als Berichterstatterin in wegweisenden Entscheidungen, etwa zur Besserstellung gleichgeschlechtlicher Paare, entscheidend mitgeprägt. Anschließend habe sie den Sprung in die freie Wirtschaft gewagt und unter anderem den VW-Konzern mit ihrem Einstehen für Recht und Integrität im Abgas-Betrugsskandal begleitet.

Das Letzte zum Schluss 

Corona – Hühnermist: Eine Durchsetzungsmaßnahme der besonderen Art erwägt offenbar die Stadtverwaltung der schwedischen Stadt Lund: Um zu verhindern, dass sich Studenten anlässlich der traditionellen Walpurgisnacht in Scharen im Park versammeln, will man die Gunst der Stunde nutzen, um die Rasenflächen zu düngen. "An Walpurgisnacht in einem Park zu sitzen, der nach Hühnermist stinkt und in dem mit Laubbläsern herumgelärmt wird, das ist keine angenehme Erfahrung", beschreibt der Gemeinderat Philip Sandberg spiegel.de zufolge den Plan. 

 

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lto/jb

(Hinweis für Journalisten)   

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 30. April 2020: BVerfG zu Gottesdiensten / Anklage im Mordfall Lübcke / EU-Kommission eröffnet neues Verfahren gegen Polen . In: Legal Tribune Online, 30.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41465/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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