Die juristische Presseschau vom 22. April 2020: NSU-Urteils­gründe ver­öf­f­ent­licht / Abitur trotz Corona / Ster­be­hilfe in den Nie­der­landen

22.04.2020

Das Oberlandesgericht München veröffentlicht die Urteilsgründe im NSU-Verfahren. Keine Ausnahmen für Abitur-Prüfungen während der Corona-Pandemie. Das höchste Gericht der Niederlande billigt Sterbehilfe für Demenzkranke.

Thema des Tages

OLG München zu NSU: Das Oberlandesgericht München hat seine schriftlichen Urteilsgründe im NSU-Verfahren veröffentlicht und es dabei auf 3025 Seiten geschafft. Damit hat es die gesetzliche Frist von 93 Wochen fast ausgeschöpft, der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft bleiben hingegen nur ein Monat, um ihre Revision zu begründen. Von besonderem Interesse im Urteil sind u.a. die Begründung der Mittäterschaft Beate Zschäpes, die Begründung der Strafzumessung sowie des umstrittenen Freispruchs des Mitangeklagten André Eminger vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord. Das Gericht hatte die Hauptangeklagte Zschäpe im Juli 2018 u.a. wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, die weiteren vier Angeklagten zu Freiheitsstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren. Es berichten SZ (Annette Ramelsberger), FAZ (Marlene Grunert), taz (Konrad Litschko)lto.de (Annelie Kaufmann), zeit.de, spiegel.de und lawblog.de (Udo Vetter).

Marlene Grunert (FAZ) verteidigt die Richter gegen den Vorwurf, zu langsam gearbeitet zu haben, betont jedoch, dass das staatliche Versagen rund um die Aktivitäten des NSU mit dem Urteil nicht abgegolten werden könne. tagesschau.de (Frank Bräutigam) stellt Fragen und Antworten zum Urteil zusammen.

Corona und Recht 

Corona – Kontaktpersonen: Die Bundesregierung will angesichts sinkender Infektionszahlen wieder vermehrt auf die Nachverfolgung von Kontaktketten setzen. Wie die taz (Christian Rath) berichtet, sollen hierfür Kontaktnachverfolgungsteams gebildet werden, welche Infizierte nach ihren Kontaktpersonen befragen und diese dann ebenfalls anrufen sollen. Der massive Personaleinsatz von 5 Personen je 20.000 Einwohner sei erforderlich, weil der Einsatz einer Corona-App zur Kontakt-Verfolgung noch nicht absehbar sei.

VG Berlin zu Abiturprüfung: Das Verwaltungsgericht Berlin hat einen Eilantrag einer Schülerin zurückgewiesen, die in dem Abiturprüfungstermin eine Verletzung ihrer Chancengleichheit sah. Sie lebe mit ihren Eltern und einem Bruder in einer 2,5-Zimmer-Wohnung ohne ungestörten Lernort, habe nicht wie geplant in einer Bibliothek lernen können, verfüge über keinen eigenen Computer und habe sich nicht mit Mitschülern austauschen können. Das Gericht verwies demgegenüber laut lto.de und taz (Bert Schulz) darauf, dass die Corona-Maßnahmen viele Familien vor Herausforderungen stellten und Stress und Ängste im Zusammenhang mit einer Prüfung in den Risikobereich des Prüflings fielen.

Anna Klöpper (taz) hält das Urteil für richtig, auch wenn es hart wirke. Es sei für die Gerichte schwierig, im Einzelfall zu entscheiden, ab wann eine soziale Härte so groß sei, dass sie einen gerichtlichen Aufschub notwendig mache.

Corona – Abiturprüfung: Die Durchführung von Abitur-Prüfungen trotz der Corona-Pandemie wird nach Auffassung von Rechtsanwalt Arne-Patrik Heinze auf lto.de einige erfolgreiche Anfechtungen zur Folge haben. In den ohnehin schlecht ausgestatteten Schulen, in denen es oft an Seife und funktionierenden Toiletten mangele, sei die Einhaltung der Abstandsregeln und damit der Gesundheitsschutz kaum zu gewährleisten. Den Prüflingen sei zu raten, die Missstände im Vorfeld und während der Prüfung zu rügen und in die Prüfungsprotokolle aufnehmen zu lassen, um der prüfungsrechtlichen Mitwirkungspflicht nachzukommen und sich eine Prüfungsanfechtung offenzuhalten. 

VerfGerH Berlin zu Abgeordnetenrechten: Der Verfassungsgerichtshof Berlin hat die Klage eines Mitglieds des Berliner Abgeordnetenhauses, Marcel Luthe (FDP), gegen die Berliner Corona-Verordnung abgelehnt. Er sah sich durch die zwangsweise Glaubhaftmachung eines Grundes für einen Aufenthalt außerhalb der Wohnung in seinem Abgeordnetenrecht verletzt. Das Gericht erteilte dem laut lto.de eine Absage: Es reiche für die Glaubhaftmachung aus, dass er sich als Abgeordneter ausweise und versichere, dass er mandatsbezogen seine Wohnung verlasse – er müsse keine Informationen offenbaren, die etwa von seinem Zeugnisverweigerungsrecht erfasst seien.

Corona – Versammlungsfreiheit: Rechtsprofessor Christian Ernst erläutert auf verfassungsblog.de zwei verwaltungsgerichtliche Beschlüsse zu einer geplanten Demonstration in Hamburg gegen die Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit während der Corona-Pandemie. Zwar habe das Oberverwaltungsgericht die Versammlung schlussendlich untersagt und damit entgegen dem Verwaltungsgericht entschieden, dennoch scheine sich das Momentum dieser Tage mehr und mehr auf die Seite der Versammlungsfreiheit zu schlagen. Im Interview mit der taz (Matej Snethlage) erklärt Rechtsanwalt Peer Stolle die Rechtslage und beklagt, dass die Versammlungsfreiheit über das notwendige Maß eingeschränkt werde.

Corona – Mietrecht: Die im Zuge der Corona-Pandemie beschlossene Kündigungssperre wegen Mietausfall erläutert die Richterin am Oberlandesgericht Kornelia Toporzysek auf zpoblog.de. Der Mieter müsse nach allgemeinen Grundsätzen glaubhaft machen, dass die Nichtleistung der Miete auf den Auswirkungen der Corona-Pandemie beruhe und könne hierfür etwa eine eidesstattliche Erklärung vorlegen. Die Behauptung sei glaubhaft gemacht, sofern eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass sie zutreffe.

Corona - Anwälte: lto.de (Tanja Podolski) sprach mit Michael Lappe (Chefjustiziar der Deutschen Börse AG, Ex-Seniorpartner von Linklaters) über die Lehren aus der Finanzkrise für die Corona-Epidemie. Anwälte sollten jetzt ihre gesellschaftliche Verantwortung im Interesse der Mandanten wahrnehmen und nicht in erster Linie auf das eigene wirtschaftliche Ergebnis sehen. Personalabbauprogramme in den Kanzleien seien weniger dringend als damals, könnten aber auch nicht ausgeschlossen werden.

China – Ursprung des Coronavirus: Tsp (Jost Müller-Neuhof u.a.) befasst sich mit dem mutmaßlichen Ursprung des Pandemievirus Sars-CoV-2 und der Frage, ob China für mögliche Versäumnisse oder fehlende Transparenz in diesem Zusammenhang rechtlich belangt werden könne. Dies sei unwahrscheinlich. So habe China keine Unterwerfungserklärung gegenüber dem in Völkerrechtsfragen zuständigen Internationalen Gerichtshof abgegeben, zudem sei auch eine entsprechende Anspruchsgrundlage unklar. 

Indonesien – Falschinformationen und Corona: Die Reaktion der indonesischen Regierung auf die Corona-Pandemie erläutert Abdurrachman Satrio auf verfassungsblog.de (in englischer Sprache). Sie reagiere streng auf das Verbreiten vermeintlicher Falschinformationen über das Virus und habe bereits 51 Personen festnehmen lassen. Da aber die Regierung teilweise selbst inakkurate Darstellungen über die Pandemie verbreite, habe ein verschärftes Vorgehen gegen "Falschinformationen" fatale Folgen: Korrekte Informationen verbunden mit Regierungskritik könnten unter diesem Vorwand kriminalisiert werden.

USA – Abtreibungen in Texas: Im US-Bundesstaat Texas bleiben Abtreibungen während der Corona-Pandemie verboten. Dies entschied ein Bundesberufungsgericht und gab damit dem texanischen Justizministerium Recht, berichtet FAZ (Christiane Heil). Kritiker verweisen auf die Gefahren des Verbots für Schwangere, welche nun für den Eingriff in andere Bundesstaaten reisen müssen.

Justiz

BVerfG zu Missbrauchsgebühr: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ablehnung eines erkennbar substanzlosen Antrags mit der Verhängung einer Missbrauchsgebühr gedroht. Die Antragstellerin hatte Deutschland im Wege der einstweiligen Anordnung dazu verpflichten wollen, die Bundesregierung und sämtliche Richterposten neu zu besetzen, überdies alle "Opfer falscher EU-Rechtsanwendung" aus den Gefängnissen zu befreien und alle seit 1947 in Deutschland tätigen Richter "für begangene Verbrechen rechtlich zur Verantwortung" zu ziehen. Das Gericht bemerkte dazu, dass es durch derartige erkennbar substanzlose Anträge an der Erfüllung seiner Aufgaben gehindert werde, wodurch anderen Rechtsuchenden der Grundrechtsschutz nur verzögert gewährt werden könne. Es berichtet lto.de.

BVerfG – Cannabis: Ein Richter des Amtsgerichts Bernau hat das Cannabisverbot im Wege der Richtervorlage erneut vor das Bundesverfassungsgericht gebracht. Er bemängelt, dass die Länder in höchst unterschiedlicher Weise Gebrauch machten von der Möglichkeit, bei Eigenbedarfsmengen das Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen. Es sei noch unklar, ob das Gericht die Vorlage für zulässig halte, so lawblog.de (Udo Vetter).

LG Berlin – rechtsextreme Drohungen/Bombendrohung: Vor dem Landgericht Berlin hat der Prozess gegen einen Mann begonnen, dem das vielfache Verschicken von rechtsextremen Drohbriefen unter dem Namen "NationalsozialistischeOffensive" zur Last gelegt wird, darunter viele Bombendrohungen. Der Prozess musste noch vor Verlesung der Anklage unterbrochen und Teile des Gebäudes geräumt werden, nachdem ein mit "Heil Hitler" unterzeichnetes Fax eines mutmaßlichen Komplizen eingegangen war, das von Sprengsätzen im Verhandlungssaal sprach. Auffällig sei die Verwendung des Begriffes "HVT" innerhalb dieses Schreibens gewesen – in der Regel werde diese Abkürzung für "Hauptverhandlungstermin" nur innerhalb der Justiz genutzt. Es berichten Tsp (Frank Jansen), lto.de, spiegel.de (Wiebke Ramm) und bild.de (Anne Losensky). taz (Konrad Litschko) schildert dazu ausführlich die Biographie und den Hintergrund des Angeklagten, der bereits fünf Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus verbracht hat.

LG Frankfurt/M. – Alexander Falk: spiegel.de (Julia Jüttner) berichtet über den Prozess gegen den Erben des größten deutschen Stadtplan-Unternehmens, Alexander Falk. In einer ausführlichen Verteidigungsrede betonte Falk kein Motiv gehabt zu haben, auf einen Frankfurter Rechtsanwalt schießen zu lassen. Zwar wurde die Anklage inzwischen auf Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung heruntergestuft, der Angeklagte sitzt aber weiterhin und seit über 20 Monaten in Untersuchungshaft. 

Recht in der Welt

Niederlande – Sterbehilfe: Das höchste Gericht der Niederlande, der Hohe Rat, hat die aktive Sterbehilfe auch bei Alzheimer-Patienten gebilligt, wenn diese zuvor eine entsprechende Patientenverfügung getätigt haben. Im konkreten Fall ging es um eine Frau, die 2012 erklärt hatte, im Falle einer starken Verschlechterung ihrer Lage Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu wollen. 2016 führte eine Ärztin in einer Pflegeeinrichtung diese Sterbehilfe aus, ohne vorher noch einmal mit der Patientin zu sprechen. Hierfür wurde sie von der Staatsanwaltschaft wegen Mordes angeklagt, von einem Den Haager Gericht aber freigesprochen. Der Hohe Rat hielt diese Entscheidung aufrecht: Entscheidend sei die bei klarem Verstand abgegebene schriftliche Willenserklärung der Patientin, da mit dieser Erklärung das "frühere Selbst" über die Belange des "gegenwärtigen Selbst" wache. Es berichten SZ (Thomas Kirchner), FAZ (Marlene Grunert), taz (Tobias Müller) und spiegel.de.

Thomas Kirchner (SZ) begrüßt das Urteil, da es angesichts mancher Ungereimtheiten und Unsicherheiten den niederländischen Ärzten Rechtssicherheit gegeben habe. Für Daniel Deckers (FAZ) wird das Urteil zu einer Zunahme ärztliche Mutmaßungen über den Patientenwillen führen, was bald einen Anstieg der Sterbehilfe für Demenzkranke zur Folge haben dürfte.

Polen – Amtszeit des Präsidenten: Die polnische Regierungspartei PiS hat einen Verfassungszusatz vorgeschlagen, welcher die Amtszeit des Präsidenten verlängern soll. Wie Rechtsprofessorin Aleksandra Kustra-Rogatka auf verfassungsblog.de (in englischer Sprache) darlegt, werde so die Opposition erpresst: Entweder stimme sie zu, oder sie werde dafür verantwortlich gemacht, wenn am 10. Mai inmitten der Corona-Pandemie die Präsidentschaftswahl abgehalten werden müsse.

Juristische Ausbildung

Corona – Juristische Lehre: Der Privatdozent Martin Fries berichtet auf lto.de über die zwangsweise Digitalisierung der Lehre an den juristischen Fakultäten im Zuge der Corona-Pandemie. Er sieht die Krise als Chance: Man dürfe davon ausgehen, dass digitale Elemente mittel- und langfristig auch nach dem Ende der Pandemie integraler Bestandteil der universitären Lehre würden. Sie könnten die Präsenzveranstaltungen zwar nicht ersetzen, sie aber durchaus sinnvoll ergänzen.

Sonstiges

Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft: Überraschend hat der Vorsitzende der Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft, der ehemalige Bundesverfassungsrichter Reinhard Gaier, nach nur acht Monaten seinen Rückzug erklärt. Er habe – nicht näher benannte – neue Aufgaben übernommen, mit denen sich die Beanspruchung durch die Tätigkeit als Schlichter nicht verbinden lasse. Nachfolger wird der ehemalige Richter am Bundesverwaltungsgericht Wolfgang Sailer, der bereits seit 2014 als zweiter Schlichter in der Schlichtungsstelle tätig ist, berichtet lto.de (Hasso Suliak/Pia Lorenz).

 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 22. April 2020: NSU-Urteilsgründe veröffentlicht / Abitur trotz Corona / Sterbehilfe in den Niederlanden . In: Legal Tribune Online, 22.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41371/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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