Die juristische Presseschau vom 6. September 2019: Urteil im Miss­brauchs­fall von Lügde / Grund­satz­fragen zum Kopf­tuch­verbot / Vor­lage an den EuGH im Die­selskandal

06.09.2019

Im Fall des langjährigen Missbrauchs von Kindern in Lügde ist das Urteil gesprochen. Außerdem in der Presseschau: Diskussion um Kopftuchverbote für Lehrerinnen und Schülerinnen und eine erste Vorlage an den EuGH im VW-Abgasskandal.

Thema des Tages

LG Detmold zu Missbrauch in Lügde: Das Landgericht Detmold hat die zwei Hauptangeklagten im Zusammenhang mit dem langjährigen sexuellen Missbrauch von Kindern auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde, Mario S. und Andreas V., zu Haftstrafen von zwölf und 13 Jahren verurteilt sowie anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet. Die beiden hatten in hunderten Fällen mindestens 32 Kinder schwer sexuell missbraucht. Unter den Betroffenen war auch die Pflegetochter von Andreas V., die dieser als eine Art Lockvogel für weitere Opfer einsetzte. Die Vorsitzende Richterin Anke Grudda attestierte den Angeklagten eine tief verwurzelte Neigung zum Kindesmissbrauch sowie manipulative, narzisstische und antisoziale Charakterzüge. Berichte über den Ausgang des Verfahrens, die Aufdeckung des Missbrauchs und die erheblichen Versäumnisse der Behörden finden sich in SZ (Jana Stegemann), FAZ (Reiner Burger) und taz (Simone Schmollack) sowie auf zeit.de (Hasan Gökkaya).

Das Versagen der Ämter steht auch im Mittelpunkt der Kommentare von Reinhard Müller (FAZ), Ralf Wiegand (SZ) und Gisela Friedrichsen (Welt). Es überschreite jede Vorstellungskraft, wenn pädosexuellen Tätern "gleichsam von Amts wegen ihre Opfer zugeführt werden", so Friedrichsen. Der Plan des NRW-Innenministeriums, verstärkt gegen Missbrauch und Kinderpornographie vorzugehen, sei überfällig. Wiegand fordert mehr Fachkräfte, die Missbrauchsanzeichen deuten könnten und aus "fachlicher Überzeugung" die Polizei einschalteten.

Rechtspolitik

Unternehmenssanktionen: Nun berichten auch die SZ (Harald Freiberger) und lto.de (Tanja Podolski) über den am Mittwoch präsentierten Gegenentwurf des Rechtsprofessors Frank Saliger und der Kanzlei Tsambikakis & Partner zum Gesetzentwurf von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) für ein Unternehmenssanktionenrecht.

"Clankriminalität": Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert ein striktes Vorgehen gegen die sogenannte Clankriminalität. Dazu solle unter anderem das Zeugnisverweigerungsrecht für Verlobte abgeschafft und Vorratsdatenspeicherung gegen "Clanfamilien" eingesetzt werden. Auch solle eine Verschärfung der Regeln zur Abschöpfung von Vermögen und der Strafen für Geldwäsche geprüft werden. Die Vorschläge präsentiert die SZ (Robert Roßmann).

Jasper von Altenbockum (FAZ) begrüßt die Vorschläge. Die "neue Form von Kriminalität" habe sich "so festgesetzt, dass ihr mit herkömmlichen polizeilichen Mitteln nicht immer beizukommen" sei. Viel zu lange sei nichts dagegen getan worden.

Polizeigesetz I – Hamburg: Dem Hamburgischen Datenschutzbeauftragten soll anlässlich der Novellierung des dortigen Polizeigesetzes die Möglichkeit zum Erlass von Anordnungen genommen werden. Künftig solle er laut Gesetzentwurf der Innenbehörde nur Beanstandungen oder Warnungen aussprechen können, berichtet netzpolitik.org (Alexandra Ketterer). Im Beitrag verweist der Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar auf Unstimmigkeiten im Gesetzentwurf. Der wissenschaftliche Mitarbeiter Sebastian Golla meldet europarechtliche Bedenken an.

Polizeigesetz II – Bayern: Ronen Steinke (SZ) kritisiert in einem Kommentar Bayerns Polizeiaufgabengesetz. Die dort ermöglichte Präventivhaft "mit geringsten rechtsstaatlichen Hürden und erstmals ohne zeitliches Limit" sei ein "Dammbruch". Sie werde "schamlos" und in diskriminierender Weise eingesetzt. Als "eines Rechtsstaats unwürdiges Gesetz" solle es sofort zurückgenommen werden.

Kopftuch-Streit I: Einem am Donnerstag präsentierten Rechtsgutachten des Rechtsprofessors Wolfgang Bock zufolge ist das Berliner Neutralitätsgesetz aus dem Jahr 2005 unbedenklich mit Blick auf Grundgesetz, Europarecht und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Das Gesetz verbietet Beamten in Justizwesen und Polizei sowie Lehrern an öffentlichen Schulen den Gebrauch von religiös konnotierten Symbolen und Kleidungsstücken. Die 2015 vom Bundesverfassungsgericht in Bezug auf islamische Kopftücher von Lehrerinnen vertretene Rechtsauffassung sei abzulehnen, so Bock, da sie "die einer islamischen Religionskultur entspringenden Konflikte" nicht hinreichend wahrnehme. Den entstehenden "kulturellen Druck" hätten Lehrkräfte abzuwehren, statt sich ihm zu beugen. Es berichten taz (Susanne Memarnia) und Welt (Sabine Menkens). Kritischer zum Gutachten zeigt sich die FAZ (Hannah Bethke).

Kopftuch-Streit II: Auf lto.de (Annelie Kaufmann) findet sich ein Interview mit dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Stephan Gerbig zur Frage der rechtlichen Zulässigkeit eines Kopftuchverbotes für Schülerinnen unter 14 Jahren. Aus Sicht von UN-Kinderrechtskonvention und Grundgesetz sei klar, dass es möglich sein müsse, im Einzelfall ein Kopftuchverbot auszusprechen, wenn das Kind von den Eltern zum Tragen des Kopftuches gezwungen werde. Gerbig meint jedoch, ein pauschales Kopftuchverbot werde vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern.

EU – Rechtsstaatlichkeit: Vier Rechtsprofessoren stellen auf verfassungsblog.de (in englischer Sprache) ein Papier der EU-Kommission vor, in dem diese "konkrete kurz- und mittelfristige Schritte" zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der EU präsentiert.

Justiz

EuGH zu Standortermittlung: Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs verpflichtet Telekommunikationsfirmen, in jedem Fall gebührenfrei die Standortdaten eines Anrufers an die 112-Notrufstellen zu senden. Dies gelte selbst dann, wenn die Anrufe von Handys ohne SIM-Karten eingingen. Die Mitgliedstaaten müssten die Einhaltung dieser Regel sicherstellen. Es berichten lto.de und community.beck.de (Axel Spies).

EuGH zu Gemüse-Etikettierung: In einem Gastbeitrag für lto.de erläutert Rechtsreferendar Jonas Kiefer ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Etikettierung von Obst und Gemüse. Demnach ist die Aufschrift "Ursprungsland: Deutschland" auch dann zulässig, wenn in Kulturkisten gezüchtete Pilze erst kurz vor der Ernte von den Niederlanden nach Deutschland transportiert werden. Für die Bestimmung des "Ursprungslandes" ist laut EuGH stets der Ernteort maßgeblich, selbst wenn alle vorangehenden Produktionsschritte in einem anderen Land erfolgt sind. Es sei keine Irreführung von Verbrauchern gegeben.

EuGH zu Lastschriftverfahren: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass eine angebotene Zahlungsmethode für alle Kunden unabhängig von deren Wohnsitz gelten muss. Demnach darf die Deutsche Bahn ihren Kunden mit Sitz im Ausland nicht verbieten, über ihre Website gekaufte Tickets per SEPA-Lastschriftverfahren ("Single Euro Payments Area") zu bezahlen. Dieses müsse zwar nicht als Bezahlmethode eingerichtet werden. Falls es aber angeboten werde, dann im gesamten EU-Raum, so der EuGH laut FAZ (Marcus Jung).

BVerfG – BKA-Gesetz: Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hat eine Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zur Reform des Bundeskriminalamtes (BKAG) in der seit Mai 2018 geltenden Fassung eingelegt. Kritisch sieht die GFF insbesondere den Einsatz von Staatstrojanern, das Ausspähen der Kontaktpersonen von Verdächtigen und die Zusammenführung polizeilicher Datenbanken. Es berichten lto.de und netzpolitik.org (Alexandra Ketterer).

BVerfG zu Betriebsrente: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Fabian Michl stellt auf verfassungsblog.de den Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts von Juli dieses Jahres zur Altershöchstgrenze für die Betriebsrente dar. Bemerkenswert sei die Zurückhaltung der Kammer gegenüber der Anwendung verfassungsunmittelbarer Diskriminierungsverbote auf den arbeitsrechtlichen Fall. Aufgrund des Beschlusses könne vorerst nicht von einer unmittelbaren Geltung unter Privatrechtssubjekten ausgegangen werden.

BGH zu Baukostengrenzen: Der Bundesgerichtshof hat im Juli entschieden, dass Vertragsregelungen, die Baukostenobergrenzen vorgeben und zur privatautonomen Vereinbarung zwischen Architekten und Auftraggebern wurden, rechtswirksam sind. Es handele sich dabei um wirksame Beschaffenheitsvereinbarungen. Das Urteil erläutert ausführlich Rechtsanwalt Friedrich-Karl Scholtissek in einem Beitrag für die FAZ.

LG Gera – Dieselskandal: Das Landgericht Gera hat als erstes deutsches Gericht dem Europäischen Gerichtshof Fragen zum Abgasskandal vorgelegt. Dabei geht es darum, ob sich Autokäufer darauf berufen können, dass das gekaufte, aber manipulierte Fahrzeug nie die europarechtlichen Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt hat. Entscheidend ist dabei, ob die relevanten EU-Vorschriften drittschützende Wirkung gegenüber den getäuschten Autokäufern entfalten. Die Problematik und den Beschluss stellt lto.de (Pia Lorenz) ausführlich dar.

LG Frankfurt/M. zu "Bio-Wasser": Der Getränkehersteller Neumarkter Lammsbräu ist vor dem Landgericht Frankfurt mit dem Versuch gescheitert, dem Konzern Danone und dem Institut Fresenius die Verwendung des Begriffes "Bio" beim Mineralwasser "Volvic" verbieten zu lassen. Es gebe keine gesetzlichen Vorgaben für Bio-Mineralwasser. Den Vorgaben des Bundesgerichtshofs für Bio-Produkte werde durch die Kontrollverfahren entsprochen, so das Gericht laut FAZ. Neumarkter Lammsbräu will nun in Berufung gehen.

FG Düsseldorf zu Sportler-Anreise: Einer Entscheidung des Finanzgerichts Düsseldorf zufolge sind Fahrten von Profi-Sportmannschaften zu Auswärtsspielen vergütungspflichtige Arbeitszeit. Deshalb bleiben die für die Fahrzeit gezahlten Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge steuerfrei, wie lto.de berichtet.

AG Erkelenz zu Missbrauch mit Hypnose: Ein Heilpraktiker ist vom Amtsgericht Erkelenz zu einer Bewährungsstrafe wegen versuchter sexueller Nötigung verurteilt worden, weil er eine Patientin mittels Hypnose zu sexuellen Handlungen überreden wollte. Die Patientin hatte nicht mitgemacht, deshalb ist es beim Versuch geblieben. Über den Fall schreiben spiegel.de und bild.de (Joachim Offermanns).

StA Braunschweig – Diesel-Skandal: Einem Bericht des Hbl (René Bender) zufolge entscheidet die Staatsanwaltschaft Braunschweig voraussichtlich Ende dieses Monats darüber, ob sie Anklage wegen Marktmanipulation gegen VW-Chef Herbert Diess, Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch und Ex-Konzernchef Martin Winterkorn erhebt.

StA München I – Export von Staatstrojanern: Nun berichtet auch die FAZ (Helene Bubrowski/Constantin van Lijnden) über das Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter mehrerer Münchner Firmen, die ohne Genehmigung Überwachungssoftware in die Türkei exportiert und damit gegen das Außenwirtschaftsgesetz verstoßen haben könnten.

Recht in der Welt

USA – Julian Assange: Die SZ (Frederik Obermaier) bringt ein Interview mit Rechtsprofessor Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter zu Fragen der Folter. Dieser schlägt sich entschieden auf die Seite von Wikileaks-Gründer Assange, dem in den USA eine Anklage wegen Spionage und Beihilfe zum Hacking drohe und an dem ein "abschreckendes Exempel" statuiert werden solle. Assange sei in der ecuadorianischen Botschaft psychologischer Folter ausgesetzt gewesen. Bei einer Auslieferung an die USA sei er "höchstwahrscheinlich Haftbedingungen ausgesetzt, welche das Folter- und Misshandlungsverbot verletzen".

Sonstiges

Monsanto-Listen: Der Bayer-Konzern hat ein von einer US-amerikanischen Anwaltskanzlei erstelltes Gutachten präsentiert, wonach die von seiner Tochterfirma Monsanto geführten "Kritikerlisten" nicht rechtswidrig waren. Monsanto hatte 2016 bis 2017 derartige Listen mit Informationen über 1.475 Journalisten, Politiker und Industrievertreter im Zusammenhang mit der Wiederzulassung des Herbizidwirkstoffs Glyphosat geführt. Dort seien jedoch keine "vertraulichen oder privaten Dateien gesammelt" worden. Die Informationen seien "in erster Linie" öffentlich zugänglichen Quellen entnommen worden. Berichte zum Gutachten finden sich bei taz (Rudolf Balmer), FAZ (Jonas Jansen), SZ (Benedikt Müller) und lto.de.

Terror-Datenbank: Seit Anfang des Monats gibt es eine gemeinsame Datenbank der EU zu Terroristen und Terrorverdächtigen, auf die nationale Ermittlungsbehörden zugreifen können. Sie sammelt zentrale juristische Informationen, um Verbindungen zwischen Terrorverdächtigen herzustellen, wie die EU-Justizbehörde Eurojust laut spiegel.de mitteilte.

Presseberichte über Strafermittlungen: Anlässlich des Ermittlungsverfahrens gegen Ex-Fußballnationalspieler Christoph Metzelder beschreibt nun auch die taz (Christian Rath) die Grundsätze zur Verdachtsberichterstattung. Im Gespräch mit focus.de (Henriette Jedicke) kritisiert der Professor für Medienethik Christian Schicha die Berichterstattung und beobachtet eine "Entgrenzung" wie im Fall Kachelmann. Die SZ (Wolfgang Janisch) benennt im "Aktuellen Lexikon" die Voraussetzungen eines Ermittlungsverfahrens.

Verfassungsordnung: In einem feuilletonistischen Gastbeitrag für die SZ entwirft der Jurist Maximilian Steinbeis das Szenario einer populistischen Regierung in Deutschland und deren Versuche zum Umbau des politischen Systems. Er zeigt, wie fragil die verfassungsmäßige Ordnung auch in Deutschland ist und wie Schritt für Schritt der liberale Rechtsstaat in Bedrängnis kommen könnte.

 

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lto/jng

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 6. September 2019: Urteil im Missbrauchsfall von Lügde / Grundsatzfragen zum Kopftuchverbot / Vorlage an den EuGH im Dieselskandal . In: Legal Tribune Online, 06.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37479/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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