Die juristische Presseschau vom 3. Juli 2019: "Sea-Watch"-Kapi­tänin kommt frei / Debatte um Cyber­kri­mi­na­lität / Ste­phan E. wider­ruft Geständnis

03.07.2019

Der gegen Carola Rackete verhängte Hausarrest wurde aufgehoben. Außerdem in der Presseschau: Im Internet begangene Straftaten im Fokus von Justiz und Politik und der Verdächtige im Mordfall Lübcke widerruft sein Geständnis.

Thema des Tages

"Sea-Watch 3"-Kapitänin kommt frei: Die unter anderem der Beihilfe zur illegalen Einwanderung beschuldigte Kapitänin der deutschen Hilfsorganisation Sea-Watch, Carola Rackete, kommt wieder frei, meldet u.a. spiegel.de. Eine italienische Ermittlungsrichterin hob den gegen Rackete verhängten Hausarrest auf. Die Kapitänin habe das Gesetz nicht gebrochen, als sie in den Hafen von Lampedusa einlief. Sie sei vielmehr ihrer Pflicht gefolgt, Menschenleben zu retten, so die Richterin. Nun soll Rackete laut Innenminister Matteo Salvini schnellstmöglich des Landes verwiesen werden, berichtet die FAZ (Matthias Rüb). Der Fall hatte zu erheblichen diplomar tischen Spannungen zwischen Italien und Deutschland geführt.

Auf verfassungsblog.de legt der Rechtsprofessor Christopher Hein dar, wieso die Vorwürfe aus seiner Sicht nach italienischem Recht haltlos sind. Im Interview mit der taz (Christian Rath) erläutert die Rechtsprofessorin Nele Matz-Lück, dass der Pflicht zur Rettung von Menschen in Seenot keine Aufnahmepflicht der Küstenstaaten korrespondiert. Auch der wissenschaftliche Mitarbeiter Valentin Schatz erläutert auf lto.de die völkerrechtliche Lage. 

Rechtspolitik

Cyberkriminalität I: lto.de (Markus Sehl) berichtet über eine Expertenrunde, die sich auf Einladung der Grünen-Bundestagsfraktion mit der Frage befasste, wie effektive Verfolgung von Straftätern im Digitalen aussehen kann und sollte. Der Richter und Vorsitzende der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), Ulf Buermeyer, plädiert demnach für "punktgenaue Straftatbestände", die nicht auch solche Bereiche miterfassen, die der Gesetzgeber gar nicht erfassen wollte. Der Akademische Rat Christian Rückert betont, bei jedem neuen Straftatbestand sei die enge Verzahnung von materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht zu beachten. Er erläutert zudem bereits bestehende Mittel des Strafrechts.

Cyberkriminalität II: In der SZ (Wolfgang Janisch) findet sich ein Interview mit dem Staatsanwalt Christoph Hebbecker, der bei der "Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen" tätig ist. Dieser berichtet über die Möglichkeiten, Urheber von Hass und Hetze auf sozialen Plattformen ausfindig zu machen, über die Kooperation mit den Plattformbetreibern und die abschreckende Wirkung von Strafverfolgung bei Hetze im Netz.

Die FAZ (Constatin von Lijnden) befasst sich im Leitartikel mit Wegen aus der Filterblase und plädiert für eine "weiche Klarnamenpflicht", bei der Nutzer sozialer Medien sich zunächst mittels eingescannter Ausweisdokumente authentifizieren können. Dies sei wirkungsvoller als Verfahren, die "den einzelnen Kommentar einer zeitaufwendigen und schlecht einzuschätzenden juristischen Bewertung unterwerfen wollen". Tatsächlich jedoch habe gerade ein Rückgang von echtem Klassen- und Rassenhass dazu geführt, dass derartige Äußerungen als immer unerträglicher empfunden würden. 

Aktionärsrechte-RL: Wie das Hbl-Rechtsboard (Ulrich Noack) meldet, hat sich der Rechtsausschuss des Bundestages bislang nicht auf eine Beschlussempfehlung zur Umsetzung der zweiten EU-Aktionärsrechte-Richtlinie einigen können. Die Umsetzungsfrist ist am 10. Juni abgelaufen. Eine weitere Befassung des Bundestags ist frühestens im September nach der Sommerpause möglich.

Tierwohllabel: In einem Kommentar kritisiert die SZ (Jan Heidtmann) die bisherigen Vorschläge von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner zu einem freiwilligen Tierwohllabel. Ein solches sei untauglich und täusche Handeln vor, auch wenn tatsächlich nichts passiert. Erforderlich sei nun, sich mit der Agrarindustrie anzulegen.

Baulandkommission: Die vom Innenministerium eingesetzte Baulandkommission hat ihre Empfehlungen vorgestellt, um mehr Neubauten in den Städten zu ermöglichen. So sollen Kommunen ein Vorkaufsrecht an brachgefallenen oder unbebauten Grundstücken begründen können. Zudem sollen Bund, Länder und Kommunen Grundstücke nicht mehr an den Meistbietenden verkaufen, sondern an denjenigen, der das beste Konzept für bezahlbaren Wohnraum hat. Es berichten u.a. FAZ (Julia Löhr) und taz (Martin Reeh).

Digitalsteuer: Die SZ (Cerstin Gammelin) berichtet über eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, in der sich diese gegen die Einführung einer weltweiten Digitalsteuer ausspricht. Die Debatten um Steuervermeidung und Datenökonomie seien strikt voneinander zu trennen, heißt es demnach in der Studie, deren Veröffentlichung für Donnerstag geplant ist. In beiden Bereichen trage eine Digitalsteuer nicht dazu bei, Probleme zu lösen. 

Justiz

GBA – Mordfall Lübcke: Der Tatverdächtige im Mordfall Lübcke, Stephan E., hat sein in der letzten Woche abgelegtes Geständnis widerrufen, nachdem der Dresdner Rechtsanwalt Frank Hannig als neuer Pflichtverteidiger bestellt worden ist. Dies berichten u.a. die taz (Konrad Litschko) und die SZ (Katja Riedel/Sebastian Pittekow).

Spiegel.de (Dietmar Hipp u.a.) geht angesichts dessen der Frage nach, inwieweit ein widerrufenes Geständnis vor Gericht verwertbar ist. Lawblog.de (Udo Vetter) erklärt, wieso es aus seiner Sicht sinnvoll ist, sich als Beschuldigter in einem frühen Stadium des Verfahrens eher nicht zu äußern.

EuGH – "Fack Ju Göhte": Dem Gutachten des EU-Generalanwalts Michal Bobek zufolge ist auch im Markenrecht das Recht auf freie Meinungsäußerung anwendbar. Der Filmtitel "Fack Ju Göhte" könne deshalb Markenschutz genießen. Für die Feststellung eines absoluten Eintragungshindernisses sei ein Fall umfassend und im bestimmten sozialen Kontext zu würdigen. Vorliegend bestehe eine starke Indizwirkung dafür, dass die angesprochenen Verkehrskreise den Titel nicht als anstößig empfänden. Das Europäische Amt für geistiges Eigentum (EUIPO) hatte die Eintragung der Wortmarke zugunsten von Constantin Film verweigert, da der Titel Johann Wolfgang von Goethe beleidige und so gegen die "guten Sitten" verstoße. Es berichten lto.de, die FAZ (Hendrik Wieduwilt) und die Welt (Philipp Vetter).

BVerfG – "Hessentrojaner": Laut netzpolitik.org (Alexandra Ketterer) hat die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) eine Verfassungsbeschwerde gegen das neue Polizei- und Verfassungsschutzgesetz Hessen organisiert. Dabei geht es insbesondere um die Ermächtigung, IT-Geräte mittels "Staatstrojanern" und Big-Data-Analysesoftware auszuspähen und Persönlichkeitsprofile von Bürgern zu erstellen, selbst wenn diese nicht selbst unter Verdacht stehen, sondern sich lediglich im Umfeld einer verdächtigen Person bewegen. Die sieben Beschwerdeführer rügen einen Verstoß gegen das "IT-Grundrecht". Das Bundesverfassungsgericht muss nun befinden, ob es die Beschwerde zur Entscheidung annimmt.

BVerfG – PSPP: Die FAZ (Reinhard Müller) berichtet über die erneute, für Ende Juli angesetzte, mündliche Verhandlung zur Rechtmäßigkeit des Beschlusses zum "Public Sector Purchase Programme" der Europäischen Zentralbank (EZB) vor dem Bundesverfassungsgericht. Im Vorlagebeschluss an den Europäischen Gerichtshof ordnete das BVerfG das PSPP nicht als währungspolitische, sondern als überwiegend wirtschaftspolitische Maßnahme ein, die gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstieße und in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten übergreife. Der EuGH hingegen hatte im Handeln der EZB keinen Verstoß gegen die Europäischen Verträge gesehen. Nun soll in Karlsruhe zwei Tage lang darüber verhandelt werden, ob sich das Ankaufsprogramm der EZB sowie das EuGH-Urteil im verfassungsmäßigen Rahmen halten.

BGH zu Folterverdächtigem: Laut Meldung der SZ kommt ein syrischer Ex-Geheimdienstmitarbeiter in Untersuchungshaft, der verdächtig ist, bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit geholfen zu haben. Der Bundesgerichtshof setzt damit nach einer Beschwerde der Bundesanwaltschaft einen Haftbefehl von Februar wieder in Kraft.

BGH – Assistierter Suizid: Die SZ (Wolfgang Janisch) berichtet über eine am heutigen Mittwoch am Bundesgerichtshof stattfindende Verhandlung. Dabei geht es um einen Mediziner, der einer sterbewilligen Frau ein tödliches Medikament verschrieb und anschließend nichts unternahm, als er sie im Koma liegend auffand. Fraglich ist nun, inwieweit der Arzt aufgrund einer besonderen Hilfspflicht etwa wegen Totschlags strafbar sein kann, wenn er in einer solchen Situation untätig bleibt.

LG Wiesbaden – Susanna F.: Die FAZ (Julian Staib) schreibt ausführlich über den Prozess im Fall der getöteten Susanna F. vor dem Landgericht Wiesbaden. Die Staatsanwaltschaft fordert eine lebenslange Haftstrafte sowie die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld des Angeklagten Ali B. Der irakische Flüchtling habe heimtückisch und mit Verdeckungsabsicht gehandelt. Das Verbrechen sei "an Abscheulichkeit kaum zu überbieten", wird die Staatsanwältin zitiert.

LG Regensburg: Am heutigen Mittwoch will das Regensburger Landgericht sein Urteil im Korruptionsprozess um den vorläufig suspendierten Oberbürgermeister und einen Bauunternehmer verkünden. Dabei geht es um mögliche Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung sowie Verstöße gegen das Parteiengesetz, wie die FAZ (Timo Frasch) berichtet.

Recht in der Welt

Spanien – Puigdemont: Eine Klage des katalanischen Separatistenführers Carles Puigdemont und eines Parteikollegen mit dem Ziel, ihre Mandate im Europaparlament antreten zu können, ist vor dem EU-Gericht gescheitert, wie zeit.de meldet. Spanien hatte sich geweigert, die beiden auf die Liste der gewählten Abgeordneten zu setzen.

Sonstiges 

NetzDG: Das Bundesamt für Justiz hat das erste Bußgeld wegen Hasskommentaren im Internet gegen Facebook verhängt. Der Transparenzbericht Facebooks aus dem ersten Halbjahr 2018 genüge nicht den Vorgaben des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes gegen Hassrede im Internet. Insbesondere sei im Bericht die Zahl der eingegangenen Beschwerden über rechtswidrige Inhalte unvollständig angegeben. Der Konzern muss deshalb nun ein Bußgeld in Höhe von zwei Millionen Euro zahlen. Die Entscheidung ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Es berichten u.a. netzpolitik.org (Alexander Fanta/Markus Beckedahl), die SZ (Robert Roßmann) und die FAZ (Hendrik Wieduwilt)

In einem Kommentar betont Robert Roßmann (SZ), die Entscheidung sei ein überfälliges Signal, dass auch Facebook sich an die Gesetze in diesem Land zu halten habe. Der von Facebook vorgelegte Bericht sei ein "Intransparenzbericht", der das Problem von Hasskommentaren verharmlose.

NS-Vergangenheit: lto.de berichtet über erste Ergebnisse einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, die die NS-Vergangenheit der Generalbundesanwaltschaft aufklären soll. So seien im Jahr 1953 etwa 80 Prozent der Mitarbeiter des höheren Dienstes ehemalige NSDAP-Mitglieder gewesen, äußerte der Rechtsprofessor Christoph Safferling bei einem Symposium am Bundesgerichtshof zu dem Thema. Die kompletten Ergebnisse des Projekts sollen bis Ende des Jahres vorliegen, so tagesschau.de (Klaus Hempel) im Vorfeld des Symposiums.

Asylbescheide: Der FAZ-Einspruch (Stephan Löwenstein) stellt die Ergebnisse einer Studie von Politikwissenschaftlern der Universitäten Wien und Mannheim vor, wonach das Geschlecht von Richtern einen Einfluss auf den Ausgang von Asylverfahren habe. Richterinnen seien durchschnittlich eher dazu geneigt, Asyl zuzuerkennen. Zudem hätten weibliche Antragsteller bessere Chancen, wenn der Richter ansonsten überwiegend über Anträge von Männern urteilt. Die Studie stützt sich auf Daten von mehr als 40.000 richterlichen Entscheidungen über Asylanträge in Österreich aus den Jahren 2008 bis 2013.

Künstliche Intelligenz: In einem Gastbeitrag auf lto.de stellt die Rechtsprofessorin Mary-Rose McGuire die Ergebnisse einer Tagung an der Universität Osnabrück vor, die sich angesichts zunehmender Verbreitung von "künstlicher Intelligenz" (KI) mit der Frage nach der Reformbedürftigkeit des Patentrechts befasste. Dabei geht es insbesondere um die Schutzfähigkeit neuer KI-Anwendungen sowie darum, wem ein entsprechendes Recht auf das Patent zustünde.

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lto/jng


(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 3. Juli 2019: "Sea-Watch"-Kapitänin kommt frei / Debatte um Cyberkriminalität / Stephan E. widerruft Geständnis . In: Legal Tribune Online, 03.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36239/ (abgerufen am: 17.04.2024 )

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