Die juristische Presseschau vom 27. Juni 2019: Organ­spende-Debatte im Bun­des­tag / Streit um Pkw-Maut-Fol­ge­kosten / EuGH zu Pflichten der Schad­stoff­mes­sung

27.06.2019

Der Bundestag debattiert über zwei Entwürfe zur Reform der Organspende. Außerdem in der Presseschau: Streit um die Kündigung der Maut-Verträge und der EuGH stärkt die Vorgaben für die Bestimmung der Luftbelastung in der EU.

Thema des Tages

Organspende: Der Bundestag hat am Mittwoch über zwei Gesetzentwürfe diskutiert, welche die Organspende in Deutschland neu regeln würden. Dies berichten u.a. SZ (Michaela Schwinn) und FAZ (Heike Schmoll). Die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) befürwortete Widerspruchslösung würde jeden Bürger zum Organspender werden lassen, der nicht vor seinem Tod widerspricht. Die von der Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Linken-Vorsitzenden Katja Kipping eingebrachte Zustimmungslösung würde vorsehen, dass Bürger beim Verlängern ihres Personalausweises von Mitarbeitern der kommunalen Ämter auf eine mögliche Organspende angesprochen werden. Über den Verlauf der Debatte berichten auch SZ (Kristiana Ludwig), in einem separaten Beitrag, und Welt (Matthias Kamann).

Christine Berndt (SZ) lehnt die Widerspruchslösung ab. Es sei keineswegs belegt, dass sie zu einem Anstieg der Organspenden führen würde, sie greife aber in das Selbstbestimmungsrecht der Bürger ein und zerstöre Vertrauen. Auch Heike Schmoll (FAZ) kritisiert die "übergriffige Bevormundung" der Widerspruchslösung. Das Wesen einer Spende sei ihre Freiwilligkeit.

Rechtspolitik

"Volkseinwand": In einem Gastbeitrag für die Zeit spricht sich der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) für die Einführung eines sogenannten "Volkseinwands" auf Landesebene aus. Die Bürger sollten die Möglichkeit haben, nach Sammlung einer bestimmten Zahl von Unterschriften innerhalb einer bestimmten Frist über ein vom Landtag erlassenes Gesetz noch einmal abstimmen zu können. Werde das Gesetz von der Mehrheit abgelehnt, würde es dem Landtag erneut zur Beratung zurücküberwiesen. Diese Möglichkeit verbessere die Bürgerbeteiligung, trage zur Versachlichung von Debatten bei und fördere die Akzeptanz politischer Entscheidungen.

Jasper von Altenbockum (FAZ) führt aus, dass solche drohenden Volkseinwände den Landtagen möglicherweise "parlamentarische Beine" machen könnten. Derzeit dienten sie allzu oft nur der Vollstreckung einer Regierungspolitik, die größtenteils nicht in den Landeshauptstädten, sondern in Berlin entstehe.

Tabakwerbung: Noch in diesem Jahr soll Tabakwerbung in Deutschland gesetzlich verboten werden. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch angekündigt. Es berichtet u.a. FAZ (Hendrik Wieduwilt).

Markus Balser (SZ) begrüßt ein Verbot der Tabakwerbung. Kein anderes EU-Land reguliere diese bislang so lax wie Deutschland.

Staatsangehörigkeit: Am heutigen Donnerstag stimmt der Bundestag über Änderungen des Staatsangehörigkeitsgesetzes ab, meldet zeit.de (Frida Thurm). Danach sollen u.a. IS-Kämpfer künftig die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren und Menschen in Vielehe die deutsche Staatsbürgerschaft nicht erhalten können. In einem Gastbeitrag für die taz kritisieren die Bildungsprofessoren Yasemin Karakaşoğlu und Paul Mecheril diese geplante Änderung. Die Formulierung, wonach sich neue Staatsbürger "in die deutschen Lebensverhältnisse" einordnen sollten, beschwöre eine vermeintliche Einheit der Lebensverhältnisse in Deutschland und suggeriere zudem die moralische und zivilisatorische Überlegenheit dieser Gruppe. Jost Müller-Neuhof (Tsp) verteidigt die geplante Änderung demgegenüber. Sie würde ohnehin nur in wenigen Ausnahmefällen zur Anwendung kommen und lohne deshalb die Aufregung nicht. Keinesfalls handele es sich um "die reaktionäre Wiederkehr nationalistischen Ungeists in das Recht der deutschen Staatsangehörigkeit".

Cyber-Grooming: Das Bundeskabinett hat eine Verschärfung der Strafbarkeit des sogenannten Cyber-Groomings beschlossen, also des gezielten Ansprechens von Kindern im Internet zur Anbahnung sexueller Kontakte. Dies berichtet lto.de (Markus Sehl). Nach dem Entwurf des Bundesjustizministeriums soll dies bereits dann strafbar sein, wenn am anderen Ende gar kein Kind chattet, sondern etwa ein verdeckter Ermittler oder die Eltern. Dies solle über eine Ausweitung der Versuchsstrafbarkeit in § 176 Abs. 6 Strafgesetzbuch (StGB) erreicht werden. Kritiker argumentieren, dass diese Vorverlagerung der Strafbarkeit zu weit gehe und die bloße Absicht des Täters kriminalisiere.

Entschädigungsrecht: Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf zur Erhöhung der finanziellen Entschädigung für Opfer von Gewalttaten beschlossen, meldet lto.de. Betroffene sollten sich mit ihrem Schicksal nicht mehr allein gelassen fühlen, so Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD). Das neue Recht soll ab Anfang 2024 gelten, um den Bundesländern, die für die Umsetzung zuständig sind, genügend Zeit für die Vorbereitungen zu geben.

"Klima-Veto": Im Interview mit der Zeit (Martin Klingst/Petra Pinzler) fordert Rechtsprofessor Christian Calliess ein Vetorecht für das Bundesumweltministerium gegen Gesetzesvorhaben, welche die Klimaschutzziele gefährden. Aus Artikel 20a Grundgesetz (GG) lasse sich ein Recht auf ein ökologisches Existenzminimum ableiten, das die Regierung zu garantieren habe.

Mietendeckel: Das Hbl (Matthias Streit/Julian Olk/Carsten Herz/Silke Kersting) stellt Fragen und Antworten zu den vergangene Woche in Berlin beschlossenen Mietendeckel-Eckpunkten zusammen. Fraglich sei etwa, ob das Land die Gesetzgebungskompetenz habe.

Justiz

GBA – Fall Lübcke: Der inhaftierte Stephan E. hat gestanden, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke getötet zu haben. Das berichteten der Generalbundesanwalt Peter Frank und sein Vize Thomas Beck den Innenausschüssen des Bundestags und des Hessischen Landtags, wie u.a. SZ (Florian Flade, Georg Mascolo und Ronen Steinke) und lto.de berichten. Stephan E. habe behauptet, alleine gehandelt und keine Mittäter und Mitwisser gehabt zu haben. Allerdings müssten erst die weiteren Ermittlungen zeigen, ob dies zutreffe. Die Zuständigkeit des Generalbundesanwaltes bleibt aufgrund des vermuteten politischen Motivs der Tat bestehen.

Gudula Geuther (deutschlandfunk.de) ruft vor diesem Hintergrund dazu auf, die lange unterschätze Bedrohung von rechts ernst zu nehmen.

EuGH zu Schadstoffmessung: Der Europäische Gerichtshof hat in einem Grundsatzurteil die Vorgaben für die Bestimmung der Luftbelastung in der EU gestärkt. Schon die Überschreitung von Grenzwerten an einzelnen Messstationen stellt danach einen Verstoß gegen EU-Regeln dar. Schließlich drohten dort Gesundheitsschäden. Der von allen Anlagen ermittelte Mittelwert sei demgegenüber nicht entscheidend. Überdies hätten Bürger einen individuellen Anspruch darauf, dass an den richtigen Stellen gemessen werde, also auch an Stellen, an denen die höchste Konzentration der betreffenden Schadstoffe auftritt. Das Gericht folgte damit der Empfehlung der Generalanwältin Juliane Kokott. Es berichten FAZ (Martin Gropp/Marcus Jung), SZ (Markus Balser), taz (Christian Rath), Welt (Philipp Vetter) und lto.de.

EuGH zu Pkw-Maut: Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, wonach die deutsche Pkw-Maut europarechtswidrig ist, hat Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) die Verträge mit den künftigen Mautbetreibern gekündigt. Unklar ist nun, ob aus dieser Kündigung Schadensersatzansprüche gegen die Bundesrepublik resultieren können. Scheuer wies am Mittwoch Vorwürfe zurück, nach denen er die Verträge vorschnell unterzeichnet habe, ohne das EuGH-Urteil abzuwarten: Wenn die Politik auf Gerichtsurteile bis zum Schluss warten müsse, "könnten wir den Politikbetrieb einstellen". Es berichten u.a. SZ (Markus Balser) und lto.de (Anja Hall).

Daniel Delhaes (Hbl) kritisiert, Scheuer habe die Maut "ohne Rücksicht auf Verluste" vorangetrieben. Robert Nestler weist auf verfassungsblog.de darauf hin, dass das Urteil des EuGH keinesfalls überraschend gewesen sei, da sich die Fachwelt über die Rechtswidrigkeit des Vorhabens einig gewesen sei. Wie auch bei anderen politischen Vorhaben der jüngeren Vergangenheit habe man es aus politischem Kalkül in Kauf genommen, "zu einem späteren Zeitpunkt von Gerichten in die juristischen Schranken verwiesen zu werden".

EuGH zu Flugverspätung: Eine Flugverspätung aufgrund von ausgelaufenem Treibstoff auf der Rollbahn löst keine Entschädigungspflicht aus. Wie der Europäische Gerichtshof entschieden hat, stellt dies vielmehr einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne der EU-Fluggastrechteverordnung dar, der die eigentlich bestehende Entschädigungspflicht entfallen lässt. Dies sei jedoch nur der Fall, wenn der ausgelaufene Treibstoff nicht von einem Flugzeug der betroffenen Airline stamme. Es berichten lto.de und FAZ (Marcus Jung).

StA Kiel – Abrechnungsbetrug: Die Staatsanwaltschaft Kiel hat ein Ermittlungsverfahren gegen die Landesdatenschutzbeauftragte Marit Hansen eingestellt. Dabei ging es um den Vorwurf des Betrugs bei der Abrechnung von Förderprojekten. Die Ermittlungen hätten den Verdacht nicht bestätigt, meldet lto.de. Nach Angaben Hansens war Auslöser des Verfahrens ein Streit mit einem ehemaligen Mitarbeiter, der die Strafanzeige nach seinem Weggang gestellt habe.

LG Detmold – Fall Lügde: Vor dem Landgericht Detmold beginnt an diesem Donnerstag der Prozess im Missbrauchsfall von Lügde. SZ (Britta von der Heide, Jana Stegemann und Ralf Wiegand) berichtet vor diesem Hintergrund, dass es bereits vor Jahren Hinweise auf einen Missbrauch auf dem Campingplatz gab, denen jedoch nicht nachgegangen worden sei.

Ralf Wiegand (SZ) appelliert, jedem der betroffenen Kinder den Zugang zu einer Trauma-Ambulanz zu gewähren.

LG Oldenburg – Niels Högel: Im Interview mit der Zeit (Karsten Krogmann) spricht die Nebenklage-Vertreterin Gaby Lübben über das Verfahren gegen Niels Högel, in dem der ehemalige Krankenpfleger wegen Mordes in 85 Fällen verurteilt wurde. Dabei spricht sie sich auch dafür aus, die Lehren aus der Mordserie in die Ausbildung von Ärzten und Pflegern einzuarbeiten. Diese müssten dazu motiviert werden, eventuell auftretende Verdachtsmomente zu melden.

LG Freiburg – Gruppenvergewaltigung: Vor dem Landgericht Freiburg hat der Prozess um eine mutmaßliche Gruppenvergewaltigung einer Studentin begonnen. Der Hauptangeklagte soll die Frau in einem Gebüsch bei einer Diskothek vergewaltigt und danach noch weitere Männer hierzu angestiftet haben. Insgesamt sind elf Männer angeklagt. Es berichten u.a. FAZ (Rüdiger Soldt), Welt (Christine Kensche) und spiegel.de (Wiebke Ramm).

Recht in der Welt

Brasilien – Haft für Ex-Präsident da Silva: Der Oberste Gerichtshof Brasiliens hat zwei Anträge zur sofortigen Freilassung des Ex-Präsidenten Lula da Silva abgelehnt. Dieser war 2017 wegen angeblicher Korruption zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Inzwischen veröffentlichte Mitschnitte von Gesprächen belegen jedoch konkrete Absprachen zwischen dem damaligen Richter Sérgio Moro und den zuständigen Staatsanwälten, um Lula in Haft zu bringen. Lula konnte aufgrund seiner Inhaftierung nicht an den Präsidentschaftswahlen 2018 teilnehmen, der neu gewählte Präsident Jair Bolsonaro erklärte den ehemaligen Richter umgehend zum Justizminister. Dies habe Kritiker zu der Annahme geführt, das Verfahren sei "ein hinter Paragraphen versteckter Putsch" gewesen, so SZ (Christoph Gurk).

Türkei – Putschversuch vor Gericht: In der Türkei sind erneut zahlreiche Menschen wegen des Putschversuches 2016 zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Ein Gericht in Ankara ordnete für 47 Personen eine lebenslange Freiheitsstrafe an, für 19 davon eine lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen. Bei einem Großteil der Verurteilten handele es sich um Soldaten, so zeit.de.

Sonstiges

Grundrechtsverwirkung: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich gegen jüngst von Peter Tauber (CDU) und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) ins Spiel gebrachte Pläne ausgesprochen, Rechtsextremen nach Artikel 18 Grundgesetz (GG) Grundrechte zu entziehen. Dies meldet Welt (Thomas Vitzthum). Der Artikel sei "absolute Ultima Ratio", die politische Arbeit finde in anderen Bereichen statt. Auch Wolfgang Janisch (SZ) lehnt die Grundrechtsverwirkung ab. Stattdessen solle man den Kampf gegen Rechtsextremisten mit dem Strafrecht führen, das dafür ein "stattliches Paragraphen-Arsenal" biete.

BAMF-Außenstellen: In einem Gastbeitrag für lto.de argumentieren die Wissenschaftlichen Mitarbeiter Lennart Laude und Hendrik Jürgensen, dass es für Errichtung der 35 sogenannten Außenstellen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an einer verfassungsrechtlichen Grundlage mangele. Ein kompetenzrechtlicher Titel müsse erst durch Grundgesetzänderung nach Art. 79 Abs. 2 GG geschaffen werden. Nach derzeitiger Rechtslage seien die an den Außenstellen des BAMF entschiedenen Asylanträge wegen Unzuständigkeit formell rechtswidrig.

Das Letzte zum Schluss

Ein bisschen Spaß muss sein: Nach einer saftigen Flugverspätung bis auf den nächsten Tag machten zwei Passagiere Gebrauch von ihrem Anspruch auf Erstattung von Hotel- und Restaurantkosten. Und die hatten es in sich: 200 Euro Kosten produzierten die beiden laut lawblog.de über Nacht, davon allein 50 Euro für alkoholische Getränke. Das Amtsgericht Düsseldorf übte sich in Verständnis für den (möglicherweise dem Frust geschuldeten) Konsum, segnete die Rechnung ab und führte aus: "Es ist für das Amtsgericht Düsseldorf allgemein bekannt, dass zu einem gelungenen Essen nicht nur der Verzehr begleitender Biere und/oder Weine gehört, sondern darüber hinaus auch der Genuss von Champagner und Dessertwein, so dass sich auch diese Kosten als angemessen erweisen. Bei der Beurteilung der Angemessenheit ist insoweit insbesondere zu berücksichtigen, dass gerade im Champagnersegment auch deutlich hochpreisigere Produkte angeboten werden."

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lto/mps

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 27. Juni 2019: Organspende-Debatte im Bundestag / Streit um Pkw-Maut-Folgekosten / EuGH zu Pflichten der Schadstoffmessung . In: Legal Tribune Online, 27.06.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36123/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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