Die juristische Presseschau vom 30. August 2018: Chemnitz: Haft­be­fehl ver­öf­f­ent­licht / Eini­gung bei Mie­ter­schutz­ge­setz / Anleger-Mus­ter­pro­zess gegen VW

30.08.2018

Die Veröffentlichung des Chemnitzer Haftbefehls im Internet sorgt für Aufregung. Außerdem in der Presseschau: Die Bundesregierung hat eine Einigung beim Mieterschutz gefunden und ein Ausblick auf den Anleger-Musterprozess gegen VW.

Thema des Tages

Haftbefehl veröffentlicht: Der Haftbefehl der Chemnitzer Staatsanwaltschaft gegen einen Iraker und einen Syrer, die im im Verdacht stehen, einen 35-Jährigen am Sonntagmorgen in Chemnitz durch Messerstiche tödlich verletzt zu haben, wurde unerlaubter Weise veröffentlicht. Am Dienstagabend wurde das Dokument zunächst von Pegida, der rechten Bürgerbewegung "Pro Chemnitz" und dem AfD-Kreisverband ins Internet gestellt. § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch verbietet explizit die Veröffentlichung der Anklageschrift oder anderer amtlicher Dokumente des Strafverfahrens, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert wurden oder das Verfahren abgeschlossen ist. Davon ist auch die weitere Verbreitung der Dokumente erfasst. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz hat inzwischen Ermittlungen wegen des Vorfalls eingeleitet. Denkbar ist sogar, dass die Veröffentlichung sich bei einer Verurteilung strafmildernd auswirken könnte, weil ein Vorverurteilungseffekt eingetreten ist. Es berichten SZ (Jens Schneider), FAZ (Carsten Peter), Welt (Uwe Müller), taz.de (Christian Rath) und lto.de (Hasso Suliak).

Rechtspolitik

Mieterschutzgesetz: Laut FAZ (Hendrik Wieduwilt), Welt (Michael Fabricius) und lto.de haben die Koalitionäre eine Einigung bei den Nachbesserungen zur Mietpreisbremse erzielt. Am nächsten Mittwoch sollen diese im Kabinett im Entwurf zum Mieterschutzgesetz beschlossen werden. Der Entwurf sieht eine besondere Begründungspflicht für Vermieter vor, die den Mietzins auf 10% oder mehr über der ortsüblichen Miete festlegen wollen. Die Umlage für Modernisierungsmaßnahmen soll zudem auf 8% reduziert werden. In einem Interview mit der Zeit (Marc Brost/Marcus Rohwetter) verteidigt Justizministerin Katarina Barley (SPD) die bisherigen Erfolge der Mietpreisbremse und begründet gleichzeitig die Notwendigkeit für das neue Mieterschutzgesetz. "Wohnraum ist die große soziale Frage unserer Zeit", so Barley. Auch Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) fordert in einem Gastbeitrag im Hbl eine stärkere Regulierung des Wohnungsmarktes. Er fordert, die Umlage für Modernisierungsmaßnahmen auf 6% zu begrenzen und den Betrachtungszeitraum für den Mietpreisspiegel auf 10 Jahre zu erweitern.

Kindergrundrechte: Rechtsprofessor Arnd Uhle widmet sich in der FAZ der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Einführung von Kinderrechten in das Grundgesetz. Die Einführung von Kindergrundrechten sei nicht erforderlich, Kinder seien selbstverständlich bereits Grundrechtsträger, eine Schutzlücke bestehe nicht. Die bisherigen in der Sache gemachten Vorschläge könnten jedoch die Elternrechte beschränken und so zu einem "Paradigmenwechsel" im Verhältnis zwischen Elternrecht und staatlichem Wächteramt führen.

Wettbewerbsrecht: Dem Hbl (Heike Anger/Dietmar Neurer) liegt der sich in der Ressortabstimmung befindliche Gesetzentwurf des Justizministeriums zum Kampf gegen die "Abmahnindustrie" vor. Mitbewerber sollen nach dem Entwurf nur noch klagebefugt sein, wenn sie in nicht unerheblichen Maße ähnliche Waren oder Dienstleistungen vertreiben oder nachfragen. Geplant ist auch eine Reduzierung des Streitwerts bei unerheblichen Verstößen auf maximal 1.000 € und die Abschaffung des fliegenden Gerichtsstands.

Pakt für den Rechtsstaat: Einer Online-Vorabmeldung der NJW (Joachim Jahn) zufolge verzögert sich die Schaffung von 2.000 zusätzlichen Stellen für Richter und Staatsanwälte im Rahmen des von der Koalition beschlossenen „Pakts für den Rechtsstaat“ weiter. Eigentlich sollten zwischen Bund und Ländern, die für die Schaffung der Stellen zuständig sind, im September konkrete Einigungen erzielt werden. Der Tagesordnungspunkt sei aber nun verschoben worden.

Justiz

BVerfG zu EU-Schule: Überträgt der Gesetzgeber Hoheitsrechte an zwischenstaatliche Einrichtungen, hier an die europäische Schule Frankfurt, dann muss er dafür sorgen, dass ein Minimum an Grundrechtsschutz sichergestellt wird. Dieser sei an der europäischen Schule durch eine entsprechende Beschwerdekammer gewahrt, so das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss, der eine Verfassungsbeschwerde klagender Eltern als unzulässig verwarf. Diese hatten sich gegen ein Urteil des Bundesgerichtshofs gewandt, in dem ihnen kein innerstaatlicher Rechtsschutz gegen die Erhöhung des Schulgeldes gewährt worden war. Es berichtet lto.de.

Rechtsprofessor Franz Mayer bewertet den Beschluss auf verfassungsblog.de. Die Entscheidung sei keine Überraschung und fasse im Wesentlichen die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zusammen. Dabei prüfe das Gericht bei Übertragung von Hoheitsrechten, ob das geplante Rechtsschutzsystem deutschen Grundrechtsstandards entspreche und diese in der Praxis auch durchgesetzt werden. Dabei könne aber nicht jeder Fehler, sondern nur strukturelle Defizite durch eine Verfassungsbeschwerde angegriffen werden.

BGH zu anonymisierten Urteilen: Der Rechtsanwalt Martin Huff kritisiert in einem Gastbeitrag auf lto.de einen bisher nicht veröffentlichten Beschluss des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, der einen Antrag des Bürgerrechtlers und Piratenpolitikers Patrick Breyer ablehnte, ihm ein anonymisiertes Strafurteil des Landgerichts Kiel zu übersenden. Zur Begründung hieß es, Strafurteile tangierten teilweise den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts. Für Huff widerspricht diese Entscheidung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und auch der bisherigen zivilrechtlichen Rechtsprechung des BGH. Der Vereinigte Große Senat hätte daher angerufen werden müssen.

AG Kassel – Werbung für Abtreitung: taz (Patricia Hecht) und spiegel.de berichten über den Strafprozess vor dem Amtsgericht Kassel gegen zwei Gynäkologinnen, denen Werbung für Abtreibungen vorgeworfen wird, strafbar nach § 219 a Strafgesetzbuch. Nachdem das Gericht einen Antrag der Verteidigung ablehnte, einen Sachverständigen zu hören, stellte die Verteidigung einen Befangenheitsantrag. Über diesen muss nun ein anderer Richter entscheiden.

OLG Celle – PKV-Beitrag: Nach Urteil des Oberlandesgerichts Celle hat ein Verbraucher kein Recht zu erfahren, welche Rechnungsgrundlagen von seiner privaten Krankenkasse für eine Beitragserhöhung herangezogen worden sind. Voraussetzung für eine Erhöhung sei lediglich gewesen, dass die erforderlichen und die kalkulierten Leistungsausgaben eines Jahres um 10 Prozent voneinander abweichen oder sich die Sterbewahrscheinlichkeit um 5 Prozent ändere, so die Richter. In dem Verfahren ging es auch um die Unabhängigkeit der Treuhänder, die Beitragsanpassungen von privaten Krankenversicherungen prüfen. Gegen das Urteil wurde inzwischen Revision eingelegt. Es berichten SZ (Anne-Christin Gröger/Friederike Krieger) und FAZ (Philipp Krohn).

OLG Braunschweig – VW: Vor dem Oberlandesgericht Braunschweig beginnt übernächste Woche das Kapitalanleger-Musterverfahren gegen den Volkswagen Konzern. Zu klären ist die Frage, ob der Konzern die Anleger zu spät über den Abgasskandal informiert hat und deshalb zu Schadensersatzzahlungen verpflichtet ist. Die Welt (Nikolaus Doll) berichtet insbesondere über die Rolle des US-Anwalts Michael Hausfeld, der nun erstmals auch Anleger gegen VW vertreten wird. Die Kanzlei Hausfelds macht dabei Ansprüche der Mandanten auf eigenes Kostenrisiko geltend, nur im Erfolgsfall müssen die Mandanten für die Anwaltskosten aufkommen.

OVG Berlin–Brandenburg zu Polizeibewerber: Laut lto.de hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entschieden, dass es zur Ablehnung eines Polizeibewerbers, wegen sichtbarer aber inhaltlich nicht zu beanstandenden Tätowierungen, einer Rechtsgrundlage bedürfe. Die Entscheidung der Polizei beruhte auf Verwaltungsvorschriften, erforderlich sei aber eine gesetzliche Regelung des zulässigen Ausmaßes von Tätowierungen bei Beamten.

VG Trier zu Reichsbürger-Polizist: Das Verwaltungsgericht Trier hat einen Polizeibeamten aus dem Dienst entfernt, der sich mit dem Reichsbürger-Spektrum identifiziert. Er erkenne die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik und damit auch das Verwaltungsgericht nicht mehr an. Ein Polizeibeamter, der sich selbst nicht mehr als Beamter sehe und sich nicht an Recht und Gesetz gebunden fühle, stelle zudem eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Es berichten lto.de und spiegel.de.

Recht in der Welt

EU/Großbritannien  Brexit: Der französische Rechtsprofessor Sébastien Platon befasst sich auf verfassungsblog.de (in englischer Sprache) mit britischen Staatsbürgern, die auch nach dem Brexit EU-Bürger bleiben wollen. In diesem Zusammenhang setzt sich eine neu gegründete Initiative für eine EU-Staatsbürgerschaft ein.

Polen – Małgorzata Gersdorf: Die Zeit (Heinrich Wefing) porträtiert die von der polnischen Regierung abgesetzte Präsidentin des polnischen Obersten Gerichtshofs Małgorzata Gersdorf. Die Regierung hatte das Renteneintrittsalter für Richter gesenkt und damit auch Gersdorf entlassen. Gersdorf beruft sich aber auf die Verfassung, in der ihre Amtszeit als Gerichtspräsidentin mit sechs Jahren bestimmt wird und geht weiter ihren Aufgaben nach.

Türkei – Deniz Yücel: Wie spiegel.de meldet, klagt der Journalist Deniz Yücel auf Entschädigung für seine unrechtmäßige Inhaftierung in der Türkei. Yücel war ein Jahr lang inhaftiert. 

Sonstiges

Völkermord an den Herero?: Anlässlich einer Gedenkveranstaltung für die Gräueltaten deutscher Truppen an Herero und Nama in Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts wird laut SZ (Susanne Klein) und spiegel.de diskutiert, ob die Taten den Tatbestand des Völkermordes erfüllen. Für die Staatsministerin des Auswärtigen Amts Michelle Müntefering (SPD), die im Namen der Bundesregierung um Vergebung bat, waren die damaligen Gräueltaten das, was wir heute als Völkermord bezeichnen würden, der Tatbestand habe aber zum Zeitpunkt der Verbrechen noch nicht bestanden. Vertreter Namibias fordern hingegen eine solche Anerkennung.

In einem Gastbeitrag auf spiegel.de fordert auch die ehemalige Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) eine formelle Entschuldigung der Bundesregierung und eine offizielle Anerkennung der Taten als Völkermord.

DSGVO und M&A: Die Auswirkungen der DSGVO auf M&A-Prozesse beleuchten die Rechtsanwälte Axel Funk und Tobias Grau in einem Gastbeitrag für lto.de. Erstmal drohen bei Verstößen gegen Datenschutzvorschriften erhebliche Bußgelder. Problematisch ist, dass den Geheimhaltungsinteressen der Unternehmen Transparenzvorschriften der DSGVO gegenüberstünden.

Thomas Fischer: meedia.de meldet, dass der Ex-Bundesrichter Thomas Fischer auf der genannten Seite fortan alle 14 Tage eine Medienkolumne mit dem Titel "Fischers kleine Presseschau" veröffentlichen werde.

Zurückweisungen an Grenze: Laut taz (Christian Jakob) hat Deutschland erstmals einen Schutzsuchenden, der in einem anderen Mitgliedstaat registriert ist, direkt an der Grenze zu Österreich "zurückgewiesen". Die Zurückweisung beruhte auf einem bilateralen Abkommen mit Griechenland.

In einem weiteren Beitrag vertritt Christian Jakob (taz) die Auffassung, dass Schutzsuchende bei solchen direkten Zurückweisungen einen nur unzureichenden Rechtsschutz hätten. Dies sei besonders problematisch, weil Griechenland Geflüchtete immer häufiger ohne entsprechendes Verfahren in die Türkei abschiebe, von wo sie dann weiter abgeschoben werden.

Kleinreparaturen im Mietrecht: Die SZ (Berrit Gräber) beschreibt unter welchen Bedingungen Vermieter die Kosten für kleinere Reparaturen auf den Mieter abwälzen können. Erforderlich sei eine entsprechende Regelung im Vertrag. Viele Klauseln seien aber unwirksam. In der Regel sei es auch die Aufgabe des Vermieters die Handwerker zu bestellen. Abgeraten wird von einer Selbstvornahme.

NSU-Skandal: Die FAZ (Martin Otto) berichtet über einen Bericht des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz zum NSU-Komplex, welcher bis zum Ablauf des Jahres 2134 als Verschlusssache eingestuft worden ist. Dies sei ungewöhnlich, denn üblich seien Sperrfristen von 30 Jahren, in besonderen Fällen kann die Sperrfirst auch 60 Jahre betragen. Im Bericht soll es um die Versäumnisse der hessischen Behörde in den Wirkungsjahren des NSU gehen.

Spekulationsgeschäfte von Ländern und Kommunen: Die wissenschaftlichen Assistenten Christian Brand und Sven Luther gehen in der FAZ der Frage nach, inwieweit bei Spekulationsgeschäfte von Kommunen und Ländern der Straftatbestand der Untreue erfüllt wird. In einem Fall des Derivate Erwerbs durch das Land Hessen könnte der Tatbestand erfüllt sein

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lto/kk

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 30. August 2018: Chemnitz: Haftbefehl veröffentlicht / Einigung bei Mieterschutzgesetz / Anleger-Musterprozess gegen VW . In: Legal Tribune Online, 30.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30643/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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