Die juristische Presseschau vom 17. August 2018: Justiz-Debatte / Eck­punkte für Ein­wan­de­rungs­ge­setz / Pro­zess­ma­ra­thon nach Neo­na­zi­an­griff

17.08.2018

Nach dem Beschluss des OVG NRW zu Sami A. wird über die Rolle der Justiz diskutiert. Außerdem in der Presseschau: Innenministerium legt Eckpunkte für Einwanderungsgesetz vor und AG Leipzig verhandelt zu Connewitz-Krawallen.

Thema des Tages

Debatte zum Fall Sami A.: Im Anschluss an den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, nach dem der abgeschobene Islamist Sami A. vorläufig zurück nach Deutschland geholt werden muss, ist eine Kontroverse um die politische Verantwortung sowie das Verhältnis von Recht und Politik neu entfacht. Die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts Ricarda Brandts erhob in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur, das lto.de veröffentlicht, den Behörden schwere Vorwürfe. Dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen seien bewusst Informationen vorenthalten worden, was mit rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem Gewaltenteilungsprinzip unvereinbar sei. Der für die Ausländerbehörde zuständige NRW-Flüchtlings- und Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) sieht sich derweil mit Rücktrittsforderungen konfrontiert, will jedoch im Amt bleiben. Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) steht in der Kritik, weil er gefordert hatte, Richter müssten "immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen". Über die Kontroverse berichten die FAZ (Helene Bubrowski u.a.), die SZ (Christian Wernicke), die taz (Christian Rath) und spiegel.de (Matthias Gebauer/Severin Weiland).

Heribert Prantl (SZ) verteidigt die OVG-Entscheidung gegen den Vorwurf der Prinzipenreiterei. Die Ausländerbehörden hätten die Balance der Gewalten im Fall Sami A. massiv gestört. Sie wieder herzustellen diene der Rechtssicherheit. Constantin van Lijnden (FAZ-Einspruch) begründet, warum der Umgang mit Sami A. alles andere als skandalös sei. Problematisch sei es jedoch, das "Rechtsempfinden der Bevölkerung" zum Entscheidungsmaßstab machen zu wollen. Reiner Burger (FAZ) hält die Reaktion der schwarz-gelben Landesregierung für unsäglich: Innenminister Herbert Reul übe "populistische Gerichtsschelte". Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler bezeichnet die Abschiebung von Sami A. auf zeit.de zwar als "krass rechtsstaatswidrig". Die Entscheidung, Sami A. zurückzuholen, sei jedoch "gefährliche Prinzipienreiterei", die das Vertrauen der Bürger in die Justiz untergrabe. Torsten Krauel (Welt) meint, die OVG-Präsidentin habe "den falschen Anlass für eine Prinzipiendiskussion" gewählt. Auch das Verwaltungsgericht habe Fehler gemacht, indem es das Abschiebeverbot "weder per Eil-Vorratsbeschluss angeordnet noch seine normale Entscheidung am selben Abend per Fax an die zuständige Behörde geschickt" habe. Christian Rath (taz) fordert den Rücktritt von Flüchtlingsminister Joachim Stamp.

Die OVG-Präsidentin Ricarda Brandts wird von der FAZ (Alexander Haneke) porträtiert. zeit.de (Kai Biermann/Karsten Polke-Majewski) beschäftigt sich auch mit anderen Fällen rechtswidriger Abschiebungen. Die taz (Christian Rath) erläutert, was es bedeutet, dass Sami A. als Gefährder mit "hohem Risiko" eingestuft wurde. zeit.de (Martin Gehlen) befasst sich mit der Frage, ob Sami A. seitens der tunesischen Justiz nach Deutschland zurückzureisen darf, sowie mit den Foltervorwürfen gegen die tunesischen Behörden.

Rechtspolitik

Abschiebungen: Die Welt (Marcel Leubecher) berichtet über Bestrebungen von CDU- und FDP-Politikern, Abschiebungen von Gefährdern zu erleichtern. Dabei wird eine Regelung ins Spiel gebracht, nach der zukünftig eine diplomatische Zusicherung, nach der im Zielstaat nicht gefoltert wird, nicht mehr erforderlich sein soll.

Einwanderungsgesetz: Das Bundesinnenministerium hat Eckpunkte für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt. Darin ist unter anderem die gezielte Anwerbung von ausländischen Fachkräften vorgesehen. Diese sollen auch ohne konkretes Jobangebot einreisen dürfen. Die Vorrangprüfung zugunsten einheimischer Bewerber soll entfallen. Das Papier wird von der FAZ (Dietrich Creutzburg), der SZ (Nico Fried) und dem Hbl (Frank Specht) vorgestellt.

Roland Preuss (SZ) meint, dass es viele Fachkräfte künftig deutlich leichter haben werden, ins Land zu kommen. Das Hauptproblem liege jedoch bei den fehlenden Sprachkenntnissen oder bei Abschlüssen, die nicht anerkannt würden. Laut Heike Göbel (FAZ) bergen die vorgeschlagenen Reformen auch "Zündstoff, da sie den Zugang leichter öffnen als vielen lieb sein wird".

Drittes Geschlecht: Kia Vahland (SZ) kritisiert den Gesetzentwurf zur Einführung eines dritten Geschlechtseintrags als Minimallösung: "Konsequent wäre es, in amtlichen Urkunden auf Geschlechtszuweisungen zu verzichten, sodass niemand mehr sich entscheiden muss, welche der drei Schubladen am ehesten passen könnte."

Klimaschutz im Grundgesetz: Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter, begründet im Interview mit der taz (Ulrich Schulte) seine Forderung nach einer Verankerung des Klimaschutzes als Staatszielbestimmung im Grundgesetz. Dies würde dazu führen, dass Abwägungsentscheidungen von Gerichten, etwa zum Braunkohleabbau, eher gegen Kohlekonzerne ausfielen.

Steuern nach Paul Kichhof: "Paul Kirchhof musste erkennen, dass eine Steuerreform, die diesen Namen verdiente, so weit weg ist von Deutschland wie der Mars von der Erde. Er hat das durchaus disruptive Moment seines Denkens aufgegeben und wirkt resigniert." So kommentiert Andrea Seibel (Welt) die Forderung des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof nach einer Obergrenze für Steuern.

Illiberale Demokratien: Andreas Zielcke (SZ) glaubt, dass westliche Demokratien sich nicht selbst aufgeben werden, jedoch ihren liberalen Charakter zu verlieren drohen, wie in Polen oder Ungarn. Indem populistische Machthaber sich als "Feinde der Volksfeinde" inszenierten und die demokratische Gewalt monopolisierten, entstehe ein "Volksstaat im Rechtsstaat".

Justiz

VG Gelsenkirchen zu Abschiebungsandrohung: Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat laut FAZ-Einspruch (Constantin van Lijnden) in einem Beschluss von Donnerstag sein Misstrauen gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum Ausdruck gebracht. Der Beschluss stellt die aufschiebende Wirkung der Klage einer Albanerin gegen die Abschiebungsandrohung des BAMF wieder her. In der Begründung heißt es, dass das Gericht "zur Sicherstellung effektiven Rechtsschutzes gegen jedwede Maßnahme der öffentlichen Gewalt verpflichtet sei". Da die Ausländerbehörde des Landes Abschiebungen "mit einem Höchstmaß an Diskretion vorbereitet", sei nicht sichergestellt, dass das Gericht vorab informiert würde.

AG Leipzig – Connewitz-Krawalle: Vor dem Amtsgericht Leipzig hat der erste Prozess wegen der Ausschreitungen im Leipziger Stadtteil Connewitz begonnen. 2016 waren über 200 Neonazis durch das linke Szeneviertel gezogen und hatten mutwillig Geschäfte und Bars angegriffen, wobei ein Sachschaden von über 100.000 Euro entstand. Zwei mutmaßlich Beteiligte müssen sich nun vor dem Amtsgericht Leipzig wegen Landfriedensbruch im besonders schweren Fall verantworten. Weitere Verfahren werden voraussichtlich folgen. Insgesamt sind 202 Personen angeklagt, die meisten vor dem Amtsgericht Leipzig. Die SZ (Ulrike Nimz), mdr.de und spiegel.de berichten.

LG Hannover – Säure-Angriff: Das Landgericht Hannover hat die Klage von Vanessa Münstermann verhandelt, die vor zweieinhalb Jahren von ihrem Ex-Freund mit Säure angegriffen wurde. Sie fordert insgesamt 300.000 Euro Schmerzensgeld. Der Anwalt des Beklagten will das selbstbewusste Auftreten der Klägerin als mildernden Umstand berücksichtigt wissen. Es berichten SZ (Thomas Hahn) und spiegel.de.

EuGH zu Genome Editing: In der taz erläutert Rosine Kelz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) das Genome Editing, das nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von Ende Juli unter die EU-Gentechnikverordnung fällt. Das Urteil sei zu begrüßen, weil es am Vorsorgeprinzip festhalte. Wichtig sei jedoch eine breite öffentliche Debatte über Entwicklungen in der Landwirtschaft.

Recht in der Welt

Polen – Wahlrecht: Polens Präsident Andrzej Duda hat ein Gesetz zur Änderung des Wahlrechts für die Europawahl mit einem Veto vorerst gestoppt. Das Gesetz hätte wahrscheinlich dazu geführt, dass die regierende PiS-Partei mehr Sitze im Europaparlament erringt. Die FAZ (Gerhard Gnauck) berichtet über die "Emanzipation des Zöglings" Duda, der mit Hilfe der PiS sein Amt bekam.

Sonstiges

Algorithmen: Das Hbl (Dana Heide u.a.) befasst sich in mehreren Beiträgen mit der Anwendung von Algorithmen. Dabei werden unter anderem die Methode des "Predictive Policing", mit der Straftaten vorhergesagt werden sollen, sowie der Einsatz beim Vorgehen gegen rechtswidrige Inhalte in sozialen Medien beleuchtet.

Vererbung von Kryptowährungen: lhr-law.de (Tim Strack) widmet sich der Vererbung von Kryptowährungen. Die BGH-Entscheidung zum digitalen Nachlass sei nicht relevant, da bei Kryptowährung das Fernmeldegeheimnis nicht einschlägig sei. Die Bitcoins selbst seien nicht vererbbar, jedoch erlange der Erbe die verdinglichten Private-Keys oder zumindest einen Anspruch gegen den Anbieter der Online-Wallets nach den allgemeinen erbrechtlichen Vorschriften.

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.

Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/dw

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 17. August 2018: Justiz-Debatte / Eckpunkte für Einwanderungsgesetz / Prozessmarathon nach Neonaziangriff . In: Legal Tribune Online, 17.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30389/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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