Ex-Verfassungsrichter Dieter Grimm spricht über die Regierungsbildung und Europa. Außerdem in der Presseschau: Karlsruhe hält Strafe gegen 93-jährigen Ex-SS-Mann für vollstreckbar, BRAK verspricht Vorlauf für Anwaltspostfach.
Thema des Tages
Dieter Grimm im Interview: Die Dienstags-Welt (Thorsten Junghold/Jacques Schuster) sprach mit Ex-Verfassungsrichter Dieter Grimm über die deutsche Regierungsbildung und über Reformen der EU. Eine erneute große Koalition bezeichnete er als "kleinstes Übel". Minderheitsregierungen seien zwar weniger leistungsfähig, aber auch keine demokratische Katastrophe, solange sie Ad-hoc-Mehrheiten für bestimmte Vorhaben organisieren können. Eine Demokratie könne eine Weile ohne Parlament auskommen, aber nicht ohne Regierung. Die EU sei derzeit überkonstitutionalisiert, weil die als Verfassung verstandenen Verträge zu viele technische Regeln enthalten, die nach Auslegung durch den EuGH nur noch schwer geändert werden können. Das Europäische Parlament solle gestärkt werden, aber nicht durch mehr Kompetenzen, sondern durch bessere Repräsentation. Es müsse nach einem einheitlichen europäischen Wahlrecht gewählt werden, und bei der Wahl müssten europäische Parteien antreten.
Rechtspolitik
Altersfeststellung: Nachdem ein angeblich 15-jähriger afghanischer Flüchtling in Kandel (Rheinland-Pfalz) seine 15-jährige Ex-Freundin erstach, forderten Politiker der CDU-CSU, dass künftig bei allen Flüchtlingen eine medizinische Altersfeststellung durchgeführt werden solle, berichtet die WamS (Manuel Bewarder u.a.). Politiker der SPD forderten zumindest bundesweit einheitliche Regeln. Bisher entscheiden Jugendämter nach Augenschein. Andreas Schmeling, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik sagte:"Zwar kann man nicht das exakte Alter bestimmen, doch der zweifelsfreie Nachweis der Volljährigkeit ist möglich." Die Dienstags-SZ (Kristiana Ludwig) zitiert auch kritische Stimmen von Ärzte-Organisationen. Röntgen ohne medizinische Indikation sei ein "Eingriff in die körperliche Unversehrtheit" und allenfalls im Rahmen von Strafprozessen zulässig. Die Untersuchung von Geschlechtsorganen überschreite "Schamgrenzen" und sei medizinisch ebenfalls nicht zu rechtfertigen.
NetzDG: Zum Jahreswechsel trat das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Kraft, das soziale Netzwerke verpflichtet, ein effizientes Beschwerdemanagement für strafbare Postings einzurichten. Die Dienstags-SZ (Simon Hurtz - verlängerte sz.de-Fassung) beantwortet Fragen zum Gesetz und referiert dort vor allem die Sicht der Kritiker, die fürchten, soziale Netzwerke würden nun vorsorglich legale Inhalte löschen.
§ 103 StGB: Seit Jahresbeginn ist die "Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten" kein eigener Straftatbestand (neben der normalen Beleidigung) mehr. Auf die Streichung von § 103 StGB wies spiegel.de hin und erinnert an die Böhmermann/Erdogan-Affäre.
Justiz
BVerfG zu Gröning: Der 93-jährige Ex-SS-Mann Oskar Gröning, der wegen Beihilfe zum Massenmord in Ausschwitz zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, muss seine Haftstrafe antreten. Dies entschied laut lto.de und tagesschau.de (Klaus Hempel) das Bundesverfassungsgericht. Das bloße Alter schütze nicht vor Strafvollzug. Im Falle medizinischer Probleme könne die Strafe auf Bewährung ausgesetzt werden.
BVerfG zu VW-Sonderermittler: Das Bundesverfassungsgericht hat einen Antrag auf einstweilige Anordnung abgelehnt, mit dem VW die vom OLG Celle angeordnete Installation eines Sonderermittlers in der Abgasaffäre verhindern wollte. Über die parallele Verfassungsbeschwerde des Konzerns sei aber noch nicht entschieden, berichtet n-tv.de.
LG Düsseldorf zu Birkenstock/Amazon: Auf Antrag des Schuhherstellers Birkenstock hat das Landgericht Düsseldorf eine einstweilige Verfügung gegen das Internet-Kaufhaus Amazon beschlossen. Bei der falsch geschriebenen Eingabe des Suchbegriffs "Birkenstock" dürfe Amazon nicht mehr auf Angebote verlinken, die teilweise auch gefälschte Birkenstock-Sandalen im Angebot haben, meldet der Spiegel (Simone Salden).
VGH Mannheim zur Anwesenheitspflicht von Studierenden: Die Dienstags-SZ (Jan-Martin Wiarda) stellte eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim aus dem November vor. Danach verstößt die Regelung der Anwesenheitspflicht für Politikstudierende in der Prüfungsordnung der Uni Mannheim gegen das Grundrecht auf Berufsfreiheit der Studierenden. Eine Anwesenheitspflicht sei zwar möglich, aber nur wenn das die Freiheit der Lehre erfordere und pädagogisch sinnvoll sei. Die Regelung müsse daher präzisiert werden. Auch die politische Diskussion pro und contra Anwesenheitspflicht wird dargestellt.
BGH - Streupflicht und Millionenschaden: Der Spiegel (Dietmar Hipp/Andreas Wassermann) schildert den Fall des Geschäftsmannes Olver Seeberg, der im Januar 2014 vor dem Berliner Maritim-Hotel ausrutschte, den Oberschenkel brach und dadurch nach eigenen Angaben ein Geschäft mit einem möglichen Gewinn von 37 Millionen Euro nicht realisieren konnte. Vor den Berliner Zivilgerichten scheiterte Seeberg. Nun soll der Bundesgerichtshof die Revision zulassen, weil grundsätzliche Fragen der Streupflicht von Hotels zu klären seien. Das Landgericht Berlin hatte den Streitwert auf den gesetzlichen Höchstwert von 30 Mio. Euro festgelegt, womit das Verfahren "einer der teuersten Zivilprozesse" sei, die es in Deutschland je gegeben hat.
Lesestrafen: Die Samstags-SZ (Ronen Steinke) interviewte den Jugendrichter Edwin Pütz über die im Jugendstrafrecht bestehende Möglichkeit, Leseweisungen zu geben. Der verurteilte Straftäter muss dann ein Buch lesen, einige Seiten dazu schreiben und anschließend mit einem Richter oder Sozialarbeiter darüber diskutieren. "Wir müssen an die inneren Einstellungen herankommen. Dafür sind kleine Maßnahmen manchmal wirkungsvoller als die große Keule, mit der ich vielleicht Gegendruck erzeuge."
BVerfG-Entscheidungen 2017: lto.de (Annelie Kaufmann) fasst sechs Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zusammen, die Deutschland 2017 möglicherweise verändert haben: Anerkennung eines dritten Geschlechts, bessere parlamentarische Auskunftsrechte bei Staatsbetrieben, Begrenzung der strafbaren "Schmähkritik", besserer Eilrechtsschutz für Hartz IV-Empfänger, NPD wird nicht verboten, Zugang zum Medizinstudium muss neu geregelt werden.
Richter Jens Maier: Christian Bommarius (berliner-zeitung.de) kritisiert den Richter am Landgericht Dresden Jens Maier, der inzwischen für die AfD im Bundestag sitzt. Maier stehe der NPD offenkundig näher als dem Bekenntnis zur Menschenwürde. Richter wie Maier "sollten in der Justiz der Bundesrepublik unmöglich sein". Es sei "offensichtlich, dass Maier als Richter unerträglich ist und eine Beleidigung der Dritten Gewalt". Ein kollektiver Protest der Richterschaft gegen ihn sei bisher ausgeblieben, das sei "beschämend".
Ex-Generalstaatsanwalt Manfred Nötzel: Zum Jahreswechsel ging der Münchener Generalstaatsanwalt Manfred Nötzel in Ruhestand. Die Samstags-FAZ (Marcus Jung) portraitiert ihn. Nötzel war erst 2015 als Nachfolger für den jetzigen Generalbundesanwalt Peter Frank ins Amt gekommen. Er galt als Experte für Wirtschaftsstrafverfahren.
Recht in der Welt
Brasilien - Gnadenerlass gekippt: Die Präsidentin des Obersten Gerichts Brasiliens hat einen Gnadenerlass von Präsident Temer fast vollständig annuliert, berichtet die Samstags-FAZ (Matthias Rüb). Von dem Erlass hätten vor allem Wirtschaftsstraftäter und wegen Korruption verurteilte Politiker profitiert. Begnadigungen nach diesem Dekret wären "einer Belohnung für Kriminelle und der Tolerierung ihrer Straftaten" gleichgekommen. Das Plenum des Obersten Gerichts könne die Entscheidung aber noch revidieren.
Sonstiges
beA: Falls die Plattform für das Anwaltspostfach beA wieder online geht, sollen zwischen Ankündigung und Nutzbarkeit der Plattform voraussichtlich zwei Wochen liegen. Das erklärte die Bundesrechtsanwaltskammer laut lto.de (Pia Lorenz).
Persönlichkeitsrecht und MeToo-Debatte: tagesschau.de (Michael-Matthias Nordhardt) beschreibt differenzierend, wann mutmaßliche Täter der sexuellen Belästigung in Medien mit Namen und Bild genannt werden dürfen. Bei Normalbürgern sei dies erst möglich, wenn es ein Gerichtsurteil gebe, bei Prominenten schon früher.
Das Letzte zum Schluss
"Trust me": Im US-Bundesstaat Pennsylvania hat die Polizei einen 24-Jährigen wegen Autodiebstahls festgenommen. Er trugt ein T-Shirt mit der Aufschrift "Trust me", meldet spiegel.de.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/chr
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Die juristische Presseschau vom 30. Dezember 2017 bis 2. Januar 2018: Dieter Grimm und das kleinere Übel / Gröning muss für Auschwitz büßen / beA kommt mit Ankündigung . In: Legal Tribune Online, 02.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26239/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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