Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz eines dritten Geschlechts an. Außerdem in der Presseschau: Thomas Fischer kritisiert die Ergebnisse des Deutschen Strafkammertages, Hamburger Sterbehilfe-Arzt freigesprochen.
Thema des Tages
BVerfG zu Intersexualität: Intersexuelle Menschen haben ein Recht darauf, unter einer eigenen Kategorie im Geburtsregister eingetragen zu werden. So hat das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss entschieden. Die bisherige gesetzliche Regelung, wonach Intersexuelle die Rubrik Geschlecht im Geburtsregister leer lassen können, verletze sie in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, denn sie seien nicht geschlechtslos. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schütze auch die sexuelle Identität derjenigen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. Das Grundgesetz schreibe keineswegs die ausschließliche Existenz zweier Geschlechter vor. Des weiteren verstoße die bisherige Regelung gegen das Verbot der Diskriminierung nach dem Geschlecht, das auch für ein "weiteres Geschlecht" gelte. Anlass des Beschlusses war die Verfassungsbeschwerde einer 27-jährigen intersexuellen Person aus Leipzig namens Vanja, die zuvor in allen Instanzen gescheitert war. Der Gesetzgeber muss nun bis Ende 2018 das Personenstandsgesetz ändern. Er kann entweder eine neue Kategorie wie „inter“ oder „divers“ in den Geburtsregistern einführen oder auf geschlechtsbezogene Einträge vollständig verzichten. Es berichten u.a. die FAZ (Constantin van Lijnden), die taz (Christian Rath) und lto.de. Laut der SZ (Wolfgang Janisch) blieben offene Fragen: Kann für einen Eintrag im Geburtsregister als intersexuell ein ärztliches Gutachten verlangt werden oder genügt das Empfinden der Person? Werden Intersexuelle als Eltern dann Mutter oder Vater oder etwas anderes?
Reinhard Müller (FAZ) spricht sich gegen die Handlungsalternative des Gesetzgebers aus, gänzlich auf eine geschlechtliche Unterscheidung im Geburtsregister zu verzichten, denn Unterschiede zwischen den Geschlechtern lägen der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes zugrunde. Heribert Prantl (SZ) bezeichnet den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als „bahnbrechend“ und kommentiert, die bisherige „sprachliche Zweigeschlechtlichkeit der Rechtsordnung“ müsse reformiert werden. Auch Klaus Hempel (tagesschau.de) begrüßt den Beschluss: Den Schutz ihrer Persönlichkeit dürfe man auch Intersexuellen nicht verwehren, "nur weil sie sich in der Minderheit befinden oder wir uns mit ihnen schwer tun".
Rechtspolitik
Jumiko – Zentrale Diskussionspunkte: lto.de (Annelie Kaufmann) stellt die zentralen Diskussionsthemen auf der Herbstkonferenz der Justizminister vor. Hierzu gehöre die Einführung einer zweiten Instanz in asylrechtlichen Eilverfahren, sodass in der Asylrechtsprechung schneller einheitliche Linien geschäffen werden könnten. Des weiteren stehen die Kennzeichnungspflicht für Social Bots sowie Änderungen des Straf- und Strafprozessrechts zur Diskusison.
Wirtschaftsstrafprozesse: Anlässlich der bevorstehenden Justizministerkonferenz erörtert Andreas Mosbacher, Strafrichter am Bundesgerichtshof, auf lto.de den besonderen Reformbedarf bei Wirtschaftsstrafverfahren. Der Autor ist dafür, dass die Schöffen in Wirtschaftsstrafverfahren wirtschaftlich vorgebildete Laienrichter sein müssten oder dass auf diese gänzlich verzichtet werde. Die anspruchsvolle Arbeit als Richter im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts müsse außerdem durch Gehaltserhöhungen und die Investition in Fortbildungsmaßnahmen attraktiver gemacht werden. Das Thema wurde allerdings kurzfristig von der Tagesordnung der Justiministerkonferenz gestrichen.
Fischer zum Deutschen Strafkammertag: Ex-Bundesrichter Thomas Fischer (Die Zeit) kritisiert die inhaltichen Ergebnisse des deutschen Strafkammertages. Der Autor warnt vor dem schnellen und unproblematischen Aburteilen zulasten der Rechte des Beschuldigten im Strafprozess. Die Reformvorschläge der teilnehmenden Richter zur Effektivierung des Strafverfahrens trügen zu einer Stimmung bei, die zum Rechtsmissbrauch einlade.
Justiz
BVerwG zu BAföG: Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass Studenten, die ihre Eltern bei sich wohnen lassen, einen Anspruch auf einen höheren Unterkunftsbedarf nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz haben. Geringere Leistungen würden ihnen gewährt, wenn sie bei ihren Eltern wohnten und dadurch Lebenshaltungskosten sparten. Dies sei jedoch gerade nicht der Fall, wenn sie ihre Eltern bei sich aufnehmen, um sie zu unterstützen. lto.de berichtet.
BGH zu AGB-Verjährungsfristen: Die Verlängerung der Verjährung von Ansprüchen gegen den Mieter in Allgemeinen Geschäftsbedingungen ist unwirksam. So hat der BGH einem Bericht von lto.de zufolge entschieden. In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen könne nicht von § 548 BGB abgewichen werden, wonach Schadensersatzansprüche des Vermieters nach Rückgabe der Wohnung innerhalb von sechs Monaten verjähren.
LG Hamburg zu Sterbehilfe: Wie die FAZ (Daniel Deckers) berichtet, hat das Landgericht Hamburg einen Arzt vom Vorwurf der Tötung auf Verlangen durch Unterlassen freigesprochen. Der im Namen des Vereins „Sterbehilfe Deutschland“ auftretende Arzt war anwesend, als zwei Frauen ein Medikament in todbringender Dosis einnahmen und verständigte die Rettungskräfte erst, als ihr Tod feststand. Das Landgericht Hamburg verneinte, dass der Angeklagte die Tatherrschaft über die gemeinschaftliche Selbsttötung der Frauen hatte.
LG Dresden zu VW-Abgasskandal: Wie die FAZ (Stefan Locke) und lto.de melden, kann ein Käufer vom Autohändler für sein vom VW-Abgasskandal betroffenes Diesel-Auto keinen Neuwagen verlangen. So lautet ein Urteil des Landgerichts Dresden. Die Richter entschieden, dass eine Neulieferung aufgrund des Alters und Kliometerstands des Dieselwagens für den Verkäufer unverhältnismäßig sei. Der Käufer hatte zuvor eine Nachbesserung in Form eines Software-Updates abgelehnt.
OLG Celle – Abu-Walaa: Im Prozess um den mutmaßlich ranghöchsten Vertreter der Terrormiliz „Islamischer Staat“ in Deutschland hat Anil O. ausgesagt, der als wichtigster Zeuge gilt. Abu-Walaa und seinen Mitangeklagten wird vorgeworfen, junge Männer wie Anil O. als IS-Kämpfer angeworben zu haben. Anil O. befindet sich im Zeugenschutzprogramm des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes. Den Verlauf des Verhandlungstages beschreibt die FAZ (Alexander Haneke).
LG München I - Aktionskunst: Vor dem Landgericht München I stand an diesem Mittwoch der Aktionskünstler Wolfram Kastner. Nachdem dieser zweimal das Aussehen eines Denkmals für die Soldaten des Ersten Weltkriegs verändert hatte, war er wegen gemeinschaftlicher Sachbeschädigung und Störung der Totenruhe angezeigt worden. Nachdem das Amtsgericht München ihn für schuldig befunden hatte, verhandelte nun das Landgericht in zweiter Instanz. Ein Urteil wird kommende Woche erwartet. Über die Geschehnisse berichtet die SZ (Bernd Kastner).
Recht in der Welt
IStGH – Aggression: Demnächst werden die Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs darüber entscheiden, ob die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs bei dem Verbrechen der Aggression gegeben ist. Rechtsprofessor Claus Kreß stellt in einem Gastbeitrag für die FAZ den theoretischen und praktischen völkerrechtlichen Umgang mit dem Verbrechen der Aggression bis heute vor. Der Autor stellt die Frage, ob wegen des Verbrechens der Aggression bestraft werden könne, wenn es im Rahmen einer humanitären Intervention begangen werde.
Frankreich – Immunität Le Pens: Wie spiegel.de meldet, hat Frankreichs Nationalversammlung die Immunität der Chefin des Front National Marine Le Pen aufgehoben. Hintergrund waren Tweets Le Pens, in denen sie Fotos von Gräueltaten an Opfern des „Islamischen Staates“ veröffentlichte. Gegen die Politikerin wird nun wegen der „Verbreitung von Gewaltbildern“ ermittelt.
Sonstiges
Paralleljustiz: Der baden-württembergische Justizminister Guido Wolf (CDU) will eine Studie über Paralleljustizstrukturen im Südwesten Deutschlands in Auftrag geben. Die Politik „müsse wissen, ob der Zugang zu den Gerichten uneingeschränkt offenstehe“ oder ob Strukturen dies verhindern. Über die Resonanz bei den anderen Landtagsfraktionen sowie ähnliche Initiativen in Nordrhein-Westfalen oder Berlin berichtet die FAZ (Rüdiger Soldt).
Neuwahlen des Bundestages: Vor dem Hintergrund der schleppenden Jamaika-Verhandlungen beschreibt Die Zeit (Heinrich Wefing) unter welchen Voraussetzungen das Grundgesetz Neuwahlen ermöglicht. In der aktuellen Situation könne es keine Neuwahlen nach einer Vertrauensfrage geben. Nach Art. 63 GG seien Neuwahlen dagegen möglich, wenn sich ein Kandidat oder mehrere zur Wahl als Kanzler stellen und in mehreren Wahlgängen hintereinander scheitern.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/man
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 9. November 2017: BVerfG zu drittem Geschlecht / Fischer zum Deutschen Strafkammertag / Freispruch in Sterbehilfeprozess . In: Legal Tribune Online, 09.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25447/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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