Der EU-Ministerrat beschließt eine Reform der Entsenderichtlinie. Außerdem in der Presseschau: Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über die Volkszählung von 2011 und das Ermittlungsverfahren gegen Carsten Kengeter läuft weiter.
Thema des Tages
EU-Entsenderichtlinie: Die europäischen Sozialminister haben eine Reform der EU-Entsenderichtlinie beschlossen, wie SZ (Thomas Kirchner), Welt (Hannelore Crolly) und taz (Eric Bonse) berichten. Dabei geht es um Arbeitnehmer, die innerhalb der EU entsandt werden, etwa Bauarbeiter oder Pflegekräfte. Ziel der Reform ist die Verhinderung von Sozialdumping. Künftig sollen Arbeitnehmer nicht mehr nur den örtlichen Mindestlohn erhalten, sondern auch ortsübliche Zulagen, Prämien und andere Gehaltsbestandteile. Die bisher unbefristeten Entsendungen sollen auf zwölf Monate begrenzt werden, wobei eine Verlängerung um sechs Monate möglich ist. Für Lkw-Fahrer gilt die Regelung nicht.
Die taz (Eric Bonse) kritisiert die vielen Schlupflöcher und warnt vor einer weiteren Aufweichung der geplanten Reform durch EU-Kommission und Parlament. Die SZ (Nikolaus Piper) nennt die Reform zwar einen Verstoß gegen die Prinzipien des Binnenmarktes, wodurch auch legitime Interessen von Arbeitgebern beeinträchtigt würden. Dennoch sei die Änderung ein Fortschritt gegenüber der aktuellen Rechtslage, da unterschiedliche Gehälter bei gleicher Arbeit vor Ort von vielen als extrem ungerecht empfunden würden. Die Welt (Dorothea Siems) sieht in der Reform "puren Protektionismus" der reicheren Länder. Sie diene nur scheinbar dem Schutz der entsandten Arbeiter vor Ausbeutung, tatsächlich schütze sie einheimische Arbeiter vor Konkurrenz, wodurch den ärmeren Mitgliedstaaten die Chance auf Wachstum genommen werde. Auch die FAZ (Hendrik Kafsack) sieht in der Reform einen "Lohn-Protektionismus", der die Wettbewerbsposition der osteuropäischen Staaten untergrabe.
Rechtspolitik
EU – Datenspeicherung bei Grenzkontrollen: Ein von den Grünen in Auftrag gegebenes Gutachten der Universität Luxemburg hält das geplante Ein- und Ausreisesystem für unvereinbar mit EU-Recht, wie die SZ (Christian Gschwendtner) meldet. Mit dem System bezweckt das Europäische Parlament eine effizientere Grenzkontrolle. Insbesondere soll verhindert werden, dass Menschen unbemerkt ihr Visum überziehen. Laut Gutachten ist die geplante anlasslose Speicherung von Gesichtsbildern, Fingerabdrücken und anderen Daten jedoch ein unverhältnismäßiger Grundrechtseingriff. Wie sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes zum Fluggastdatenabkommen zwischen Europa und Kanada ergebe, sei eine anlasslose Datenspeicherung nur bei "objektiven Anhaltspunkten" für Terrorgefahr oder schwere Kriminalität zulässig.
EU – Whistleblower: Das EU-Parlament hat die Kommission aufgefordert, bis zum Ende des Jahres einen Gesetzesvorschlag zum besseren Schutz von sogenannten Whistleblowern vorzulegen. Dies berichtet SZ (Alexander Mühlauer). Abgeordnete forderten, das Gesetz solle dabei den Begriff des Hinweisgebers weit verstehen und auch Selbständige einbeziehen. Künftige internationale Steuerabkommen sollten entsprechende Schutzklauseln enthalten. Mithilfe eines Fonds könnte Hinweisgebern angemessene finanzielle Unterstützung gewährt werden.
EU – E-Privacy: Rechtsanwalt Niko Härting kritisiert in der FAZ die Pläne der EU-Kommission zu einer neuen E-Privacy-Verordnung. Statt rote Linien zu ziehen, konzentriere sich die geplante Verordnung weiterhin auf die Einwilligung des jeweiligen Internetnutzers. Diese sei jedoch das "bequemste und zugleich wirkungsloseste Schutzinstrument für die Privatsphäre", da die wenigsten Internetnutzer die Datenschutzerklärung tatsächlich lesen würden.
EU – Soziale Grundsicherung: Eine im deutschen öffentlichen Dienst arbeitende anonyme Autorin plädiert auf verfassungsblog.de für die Einführung einer sozialen Grundsicherung in Europa. Derzeit divergiere das Niveau sozialer Sicherung erheblich: Während in Griechenland eine Grundsicherung vollständig fehle, falle sie in Deutschland verhältnismäßig großzügig aus. Aus Angst vor Sozialleistungstourismus beschränke Deutschland die Leistungen daher auf Bürger, die in Deutschland erwerbstätig waren oder sind. Da nicht einzelne Staaten für die Existenzsicherung sämtlicher europäischen Bürger zuständig sein könnten, müssten die einzelnen Staaten diese gewährleisten. Eine unionsrechtliche Kompetenz zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gewährleistung von Grundsicherungssystemen könne Artikel 153 Abs. 1 lit. c AUEV entnommen werden. Das zu gewährleistende Existenzminimum habe sich dabei an den Lebenshaltungskosten in den Mitgliedstaaten zu orientieren und sei von diesen festzulegen.
Justiz
BVerfG – Zensus 2011: Das Bundesverfassungsgericht hat über die Volkszählung von 2011 verhandelt, wie SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Helene Bubrowski), Tsp (Jost Müller-Neuhof), spiegel.de und lto.de berichten. Bei der Zählung waren nur zehn Prozent der Einwohner tatsächlich befragt worden, im Übrigen wurde auf bestehende Datenregister von Einwohnermeldeämtern und Geburtenregister zurückgegriffen. Da durch sogenannte "Karteileichen" und unangemeldete Personen Unrichtigkeiten in den Registern zu befürchten waren, wurden in Gemeinden mit mindesten 10.000 Einwohnern Stichproben vorgenommen, deren Ergebnisse hochgerechnet wurden. In diesem Vorgehen sahen die Stadtstaaten Hamburg und Berlin einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot und klagten gegen die Volkszählung. Flächenstaaten würden privilegiert, da viele kleine Gemeinden dort die nachteiligen Zählungen in den Großstädten kompensierten. Die Einwohnerzahl der beiden Städte wurde nach dem Zensus 2011 deutlich niedriger angegeben als zuvor, wodurch beide erheblich niedrigere Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich erhielten. Vor Gericht erklärten verschiedene Statistiker nun die verwendete Methode des Zensus und merkten an, dass bei jeder Volkszählung stets nur ein ungefähres Ergebnis ermittelt werden könne. Das verwendete Verfahren 2011 sei das beste gewesen, das damals zur Verfügung gestanden habe.
AG Frankfurt – Kengeter-Prozess: Das Amtsgericht Frankfurt am Main hat es abgelehnt, das Verfahren gegen Carsten Kengeter, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Börse AG, gegen eine Geldzahlung von 500.000 Euro einzustellen. Dies berichten SZ (Jan Willmroth) und FAZ (Daniel Mohr). Kengeter wird Insiderhandel vorgeworfen, weil er am 14. Dezember 2015 privat Aktien der Deutschen Börse für 4,5 Millionen Euro gekauft hatte. Zwei Monate später gab diese ihr Fusionsvorhaben mit der Londoner Börse LSE bekannt, worauf die Aktienkurse deutlich stiegen. Nach Ansicht des Gerichtes stehe die Bedeutung des Falles, die besondere Verantwortung und die berufliche Stellung des Betroffenen einer Einstellung entgegen. Die Staatsanwaltschaft hatte aus prozessökonomischen Gründen die Einstellung angeregt und auf umfangreiche Ermittlungsarbeiten verwiesen. Die FAZ (Daniel Mohr) nennt die Entscheidung eine "Ohrfeige" auch für die Staatsanwaltschaft, deren Beweise wohl trotz monatelanger Ermittlungen nicht für eine Anklage ausreichten. Andreas Kröner vergleicht im Leitartikel des Hbl die Vorwürfe des Insiderhandels gegen Kengeter als Vorstandschef der Börse mit einem Verfahren gegen einen Feuerwehrmann wegen Brandstiftung.
OLG München – NSU: Das Oberlandesgericht München hat weitere Befangenheitsanträge im NSU-Verfahren zurückgewiesen, wie spiegel.de meldet. Auslöser für die Serie der Anträge war der Haftbefehl gegen André E., den das Gericht am 13. September verhängt hatte. Durch die Anträge verzögerte sich das Verfahren weiter, die Plädoyers der Nebenklage wurden ein weiteres Mal verschoben.
EGMR – Deniz Yücel: Am Dienstag endete die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gesetzte Frist für die türkische Regierung, sich zum Fall Deniz Yücel zu äußern. Dies berichtet taz.de (Christian Rath). Yücel ist seit Februar 2017 inhaftiert und hatte am 6. April Beschwerde gegen seine Untersuchungshaft eingereicht. Fraglich ist in dem Verfahren insbesondere, ob der Straßburger Gerichtshof Yücel auf den türkischen Rechtsweg verweisen wird. Vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung weicht der Gerichtshof nur dann ab, wenn die nationale gerichtliche Kontrolle nicht mehr funktioniert. Zwei türkische Klagen vermeintlicher Gülen-Anhänger wegen Entlassung und Inhaftierung nach dem Putschversuch hatte das Gericht bereits nicht zur Entscheidung angenommen und auf den türkischen Rechtsweg verwiesen.
EuGH – Subsidiärer Schutz: Fehlende psychologische Betreuung nach Traumatisierung soll keinen Anspruch auf subsidiären Schutz begründen. Dies forderte der EU-Generalanwalt in seinem Schlussplädoyer im Fall eines Sri Lankers, der in seiner Heimat gefoltert worden war, berichtet lto.de. Der britische Supreme Court hatte den Fall des Mannes vorgelegt und den Europäischen Gerichtshof um Beantwortung der Frage ersucht, ob die Richtlinie 2004/83/EG in einem solchen Fall einen Anspruch auf subsidiären Schutz stützt. Zwar drohe dem Sri Lanker nach einer Rückkehr keine Gefahr mehr, jedoch sei er durch die erlittene Folter traumatisiert worden und in Sri Lanka sei keine adäquate psychologische Betreuung gewährleistet. Dies reicht nach Ansicht des EU-Generalanwaltes jedoch nicht aus. Andernfalls würde die Verpflichtung der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des subsidiären Schutzes über das Ausmaß hinausgehen, das mit dem Erlass der Richtlinie intendiert gewesen sei.
EuGH – Ausweisung von EU-Bürgern: EU-Bürger, die lange in einem anderen EU-Land gelebt haben, sollen auch dann nicht ohne Weiteres ausgewiesen werden können, wenn sie straffällig geworden sind. Dies forderte der EU-Generalanwalt in seinem Schlussantrag in dem Fall eines in Deutschland aufgewachsenen Griechen, wie lto.de meldet. Dem Mann war nach einem Überfall auf eine Spielhalle die Aufenthaltserlaubnis entzogen worden. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hatte den Fall vorgelegt und gefragt, ob eine Ausweisung nach der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG zulässig sei. Diese erlaubt eine Ausweisung von EU-Bürgern, die mindestens fünf Jahre in einem EU-Land gelebt haben, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Nach Ansicht des Generalanwalts sei bei dieser Beurteilung neben dem Daueraufenthaltsrecht auch der Grad der Integration im Aufnahmeland entscheidend, wobei alle im Einzelfall relevanten Umstände zu ermitteln seien.
AG Herzberg – "Reichsbürgerin": Das Amtsgericht Herzberg hat eine "Reichsbürgerin" wegen eines Säureangriffs auf einen Polizisten zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten auf Bewährung verurteilt. Dies melden spiegel.de und taz. Die ebenfalls angeklagte Mutter der Verurteilten wurde freigesprochen. Der verletzte Polizist war vom Bezirksschornsteinfeger zur Hilfe gerufen worden, der anlässlich einer Heizungsinspektion nicht ins Haus gelassen worden war. Beide Frauen waren während der Verhandlung stehengeblieben und hatten das Gericht als "Lügengewalt" bezeichnet.
Recht in der Welt
Türkei – Peter Steudtner: Am Mittwoch beginnt in Istanbul der Prozess gegen Menschenrechtler, darunter der Deutsche Peter Steudtner, wegen des Vorwurfs der Unterstützung einer bewaffneten Terrororganisation. Die SZ (Christiane Schlötzer) traf sich aus diesem Anlass mit dessen Anwalt Murat Deha Boduroglu, der die Anklage als widersprüchlich und wirr kritisiert. Steudtner und die Mitangeklagten waren am 5. Juli auf einem Seminar bei Istanbul festgenommen worden. Die Staatsanwaltschaft plane, einen geheimen Zeugen zu laden, der von der Toilette aus gehört haben will, wie im Versammlungsraum auf Türkisch und in Fremdsprachen Verdächtiges besprochen worden sei. Auch die Nachricht einer Teilnehmerin des Seminars, man solle die Handys ausschalten, werde von der Staatsanwaltschaft als Indiz angeführt. Der Prozessbeginn sei erst vor einer Woche terminiert worden.
Spanien – Katalanische Unabhängigkeit: Der katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont will gegen die bevorstehende Entmachtung seines Kabinetts durch die Zentralregierung vor dem Verfassungsgericht in Madrid klagen. Dies berichtet SZ (Thomas Urban). Da das Gericht jedoch bereits in mehreren vorherigen Entscheidungen die Unabhängigkeitsbestrebungen als verfassungswidrig erklärt habe, werde seine Klage wohl keinen Erfolg haben.
Sonstiges
Großkanzlei-Schelte: Anlässlich der Durchsuchung bei der Großkanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer im Ermittlungsverfahren gegen einen führenden Juristen der Kanzlei wegen des Vorwurfs der Beihilfe zur Steuerhinterziehung kritisiert die SZ (Klaus Ott) deren Wirken. Mit "zweifelhaften Gutachten" habe die Kanzlei es Banken ermöglicht, mit "dubiosen Aktiendeals" in die Staatskasse zu greifen. Es sei ein "juristisch-industrieller Komplex" aus Großbanken und Kanzleien entstanden. Hieran trügen aber auch Regierung und Parlament eine Mitschuld. Über Jahre hinweg hätten Bundesfinanzministerium und andere Ressorts Anwaltskanzleien damit beauftragt, Gesetzestexte zu entwerfen. Wer derart zentrale Aufgaben von Regierungen und Parlamenten privatisiere, dürfe "sich über die Folgen nicht wundern".
Gerichtsdolmetscher: Die FAZ (Jörg Wenge) befasst sich mit der Situation von Gerichtsdolmetschern in Deutschland. Insbesondere in Asylverfahren bestehe ein großer Bedarf an Übersetzungen in oft seltenen Sprachen, der nicht immer gedeckt werden könne. Immer häufiger müsse daher auf nicht allgemein vereidigte Dolmetscher zurückgegriffen werden.
Das Letzte zum Schluss
Elektrifizierter Fischzug: Technikaffine Fischdiebe haben einen See in Löwenstein bei Heilbronn unter Strom gesetzt, und die daraufhin oben schwimmenden Forellen abgefischt, wie spiegel.de meldet. Der Sachschaden werde auf 400 Euro geschätzt. Es ist nicht das erste Mal: Bereits 2012 und 2015 war der See auf die gleiche Weise leergefischt worden, die Polizei vermutet die gleichen Täter am Werk.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mps
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 25. Oktober 2017: EU-Entsenderichtlinie / Zensus vor BVerfG / Keine Kengeter-Einstellung . In: Legal Tribune Online, 25.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25211/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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