Der Ausgang des türkischen Verfassungsreferendum wird noch Gerichte beschäftigen. Außerdem in der Presseschau: Karlsruhe lehnt neue Eilanträge gegen anlasslose Massendatenspeicherung ab, Straßburg verurteilt Russland wegen Beslan.
Thema des Tages
Türkei – Verfassungsreferendum: Die türkische Opposition will das Verfassungsgericht der Türkei und notfalls auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen, nachdem die oberste türkische Wahlkommission feststellte, dass die Ja-Stimmen im Referendum um die Einführung einer Präsidialverfassung knapp überwogen. Potenzielle Kläger können sich dabei vor allem auf zwei Punkte stützen, die auch von den OSZE-Wahlbeobachtern kritisiert werden. So ermöglichte die Wahlkommission, abweichend von gesetzlichen Vorgaben, dass Wahlzettel, die von der Wahlkommission nicht autorisiert waren, als gültig gewertet werden können. Außerdem seien die Bedingungen für das Ja- und Nein-Lager im Vorfeld der Abstimmung nicht gleich gewesen. Es berichten tagesschau.de (Christoph Tanneberger) und zeit.de.
Den Inhalt der nun beschlossenen Verfassungsänderungen beschreiben die Montags-FAZ (Michael Martens) und die Montags-Welt (Boris Kalnoky).
Rechtspolitik
Sperrklausel Europaparlament: Die CDU will erneut eine Drei-Prozent-Hürde für die Wahlen zum Europäischen Parlament einführen. Nach einer Meldung des Spiegel (Ralf Neukirch) soll die Sperrklausel diesmal aber statt nur auf nationaler Ebene europaweit festgeschrieben werden.
Leistungsschutzrecht: Wie die Samstags-FAZ (Hendrik Wieduwilt) berichtet, stoßen die Pläne des früheren Digitalkommissars Günther Oettinger (CDU) zur Einführung eines Leistungsschutzrechts für Presseverlage auf Widerstand im EU-Parlament. Die Streichung eines entsprechenden Passus in Oettingers Vorschlag sei beantragt worden. Ein Leistungsschutzrecht wurde in Deutschland bereits eingeführt.
NetzDG: Auch der wissenschaftliche Mitarbeiter Lukas Gerhardinger befürchtet auf verfassungsblog.de, dass das vom Justizministerium geplante Gesetz zur Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken die Netzwerke zur vorsorglichen Löschung auch legaler Inhalte verleite. Es gelte dann der Grundsatz: "Im Zweifel gegen die Meinungsfreiheit."
Justiz
BVerfG – Vorratsdatenspeicherung: Das Bundesverfassungsgericht hat die Einführung der Vorratsdatenspeicherung zum 1. Juli dieses Jahres nicht gestoppt und Eilanträge dagegen erneut abgelehnt. Die Eilanträge waren mit neuer Hoffnung gestellt worden, nachdem der Europäische Gerichtshof die Vorratsdatenspeicherung in Großbritannien und Schweden für unionsrechtswidrig erklärt hatte. Das BVerfG habe die Klärung der vom EuGH aufgeworfenen Rechtsfragen jedoch im Eilrechtsschutzverfahren abgelehnt und auf das Hauptsacheverfahren verwiesen, berichtet taz.de (Christian Rath). Die Entscheidung über elf Verfassungsbeschwerden sei erst in einigen Jahren zu erwarten.
BVerfG zu Cum-Ex-Ermittlungen: Nun stellt auch die Samstags-SZ (Klaus Ott) die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen im Zusammenhang mit Cum-Ex-Geschäften dar. Das Gericht hat die Verfassungsbeschwerde des Verdächtigen, gegen den sich Ermittlungsmaßnahmen gerichtet hatten, nicht zur Entscheidung angenommen. Nun könnten die Ermittler weiter gegen die Akteure der Cum-Ex-Deals vorgehen, durch die der Fiskus in Milliardenhöhe geschädigt worden ist. Spätestens im nächsten Jahr sei mit den ersten Anklagen zu rechnen.
BVerwG – Planerhaltung: Das Bundesverwaltungsgericht hat im Streit um eine Windkraftanlage dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB mit der UVP-Richtlinie der EU vereinbar ist, so lto.de. Die BauGB-Vorschrift erklärt Verfahrensfehler für unbeachtlich, wenn sie trotz entsprechender Belehrung nicht innerhalb eines Jahres gegenüber der Gemeinde gerügt wurden.
EGMR zu besonderem Kirchgeld: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärte Anfang April die deutsche Verrechnungspraxis beim sogenannten besonderen Kirchgeld für konventionsgemäß. Nun stellt auf lto.de auch die Rechtsanwältin Jacqueline Neumann die Entscheidung sowie die Problematik des Kirchgeldes vor. Bei dieser Praxis wird die Kirchensteuer bei gemeinsamer Veranlagung eines konfessionsangehörigen und eines konfessionsfreien Ehepartners am gemeinsamen Einkommen berechnet, sodass der konfessionslose Partner indirekt Kirchensteuer zahlt.
BAW – BVB-Bus: Die Untersuchung des Bekennerschreibens zum Anschlag auf den Bus von Borussia Dortmund hat ergeben, dass es sich höchstwahrscheinlich um kein authentisches Schreiben des IS handelt. Sowohl der Duktus des Schreibens als auch die erhobenen Forderungen seien für einen islamistischen Hintergrund untypisch. Es werde weiterhin in alle Richtungen ermittelt, berichtet die Samstags-SZ (Hans Leyendecker/Georg Mascolo) ausführlich.
OLG München zu Marlene-Dietrich-Show: Die Samstags-FAZ (Patrick Bahners) berichtet über ein Urteil des Oberlandesgerichts München. Danach können die Erben von Marlene Dietrich nicht verhindern, dass Filmaufnahmen einer Show der Sängerin bei Youtube gezeigt werden. Da es sich um ein Werk der Filmkunst handele, stünden die Rechte dem Regisseur und nicht der Sängerin zu.
LG Neubrandenburg – SS-Sanitäter: Nun greift auch lto.de (Till Mattes) den Eklat um das Verfahren vor dem Landgericht Neubrandenburg gegen den ehemaligen SS-Sanitäter Hubert Zafke auf. Nachdem der Vorsitzende Richter Klaus Kabisch bereits den Vorprozess platzen ließ und nun den Eintritt in die Beweisaufnahme hinauszögert, hat der Nebenklagevertreter Thomas Walther Anzeige wegen Rechtsbeugung erstattet. Die Generalstaatsanwaltschaft Rostock bezeichnete das Vorgehen in einer Stellungnahme als "schwer erträglich". Dem Angeklagten wird Beihilfe zu Mord in 3.681 Fällen im Vernichtungslager Auschwitz zur Last gelegt.
StA Stade – Bushido-Foto: Der Rapper Bushido hat die Polizei in Stade wegen Verfolgung Unschuldiger und Verleumdung angezeigt, meldet focus.de. Die Polizei hatte nach einem Raubüberfall eine Fotografie Bushidos als Vorlage für ein Phantombild benutzt.
Großkanzleien und Arbeitszeit: Großkanzleien stellen sich auf die neue Generation von Anwälten ein, denen die Work-Life-Balance zunehmend wichtiger ist, weiß die Samstags-FAZ (Hendrik Wieduwilt). Linklaters biete beispielsweise ab dem 1. Mai ein alternatives Karrieremodell an, in dem Anwälte geregelte Arbeitszeiten bei geringerem Entgelt wählen können. Die Kanzlei McDermott Will & Emery bietet eine 35-Stunden-Woche an.
Recht in der Welt
EGMR – Russland/Beslan: Ehemalige Geiseln und Angehörige Verstorbener sollen von Russland insgesamt knapp drei Millionen Euro Entschädigung wegen der Befreiungsaktion in der Stadt Beslan erhalten. Das entschied nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wie die Samstags-taz (Christian Rath) und die Samstags-FAZ (Reinhard Veser) darstellen. Das Gericht monierte die mangelnde Vorbeugung gegen Geiselnahme, die unzureichende Planung des Einsatzes sowie die Verwendung militärischer Waffen. Im Jahr 2004 hatten tschetschenische Terroristen eine Schule besetzt und über 1.000 Geiseln festgehalten. Beim Befreiungseinsatz starben 330 Menschen unter zum Teil noch ungeklärten Umständen.
Wolfgang Janisch (Samstag-SZ) findet das Urteil mutig in einer Zeit, in der Russland auf Distanz zum Gericht gehe.
EGMR – Frankreich/Trans-Rechte: Die Lehrbeauftragte an der City University of London Flora Renz bespricht auf verfassungsblog.de das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall A.P., Garçon and Nicot v. France von Anfang April. Darin hat das Gericht eine französische Regelung für menschenrechtswidrig erklärt, die die Durchführung einer Sterilisation zur Voraussetzung der Änderung von Namen und Geschlecht machte. Die Autorin ist jedoch skeptisch, ob das Urteil die Rechte von Transpersonen stärkt, da lediglich ein Mindeststandard an Menschenwürde garantiert werde.
Türkei – Selahattin Demirtaş: Die Samstags-taz (Murat Bay) spricht mit der Anwältin Ayse Acinikli, die den inhaftierten Co-Vorsitzenden der Oppositionspartei HDP Selahattin Demirtaş vertritt. Die ihm vorgeworfenen Beleidigungs- und Propagandadelikte entbehrten der rechtlichen Grundlage, so die Anwältin. Zudem verstießen die Haftungsbedingungen gegen Menschenrechte.
Südkorea – Park Geun-hye: Die Staatsanwaltschaft Seoul hat die abgesetzte südkoreanische Präsidentin Park Geun-hye wegen Bestechung, Machtmissbrauch, Nötigung und der Weitergabe von Staatsgeheimnissen angeklagt, berichtet die Montags-SZ (Christoph Neidhardt). Geschildert werden auch prozessstrategische Fehler der Politikerin.
USA – Todesstrafe: Im US-Bundesstaat Arkansas haben mehrere Gerichte die Hinrichtung von sieben Todeskandidaten gestoppt. Der konservative Gouverneur habe die Hinrichtungen persönlich angeordnet, weil demnächst das Haltbarkeitsdatum des für den Einsatz eingeplanten Mittels verfalle, berichtet spiegel.de (Marc Pitzke).
Gibraltar – Brexit: Der Völkerrechtsprofessor Alejandro del Valle Gálvez beschäftigt sich auf verfassungsblog.de (in englischer Sprache) mit den Brexit-Folgen für Gibraltar. Er schlägt vor, dass Großbritannien und Spanien eine Interims-Vereinbarung über die grenzüberschreitende Co-Existenz abschließen und so einen Modus Vivendi zu bestimmten Fragen regeln.
England – Bigamie: lto.de (Martin Rath) schildert im Feuilleton, wie Bigamie in den letzten Jahrhunderten in England bestraft wurde und dass erstaunlicherweise erst die Säkularisierung zu übermäßigen Strafen führte.
Sonstiges
Berliner Neutralitätsgesetz: Einer Lehrerin aus Berlin ist per Dienstanweisung untersagt worden, ein Kreuz um den Hals zu tragen. Für Jost Müller-Neuhof (Tsp) stellt dies eine konsequente Anwendung des Berliner Neutralitätsgesetzes dar. Der Fall zeige jedoch, dass das Gesetz in seiner Starrheit verfassungswidrig sei.
Volksbegriff: Der Wissenschaftliche Mitarbeiter Philipp Overkamp widmet sich auf juwiss.de dem Begriff des Volkes. Er erläutert den grundgesetzlichen Begriff des Staatsvolkes, kritisiert das Verständnis des kulturellen Volksbegriffs als ein potenziell exkludierendes Konstrukt und zeigt die Absurditäten des völkischen Verständnisses der NS-Zeit auf. Die Forderung nach kultureller Homogenität des Volkes sollte mit Vorsicht behandelt werden: "Das Volk des Grundgesetzes ist das Staatsvolk."
Giftgas und Völkerrecht: Die Samstags-SZ (Ronen Steinke) erläutert, warum der Einsatz von Giftgas als Kriegswaffe völkerrechtlich geächtet ist. Giftgas ist besonders grausam und durch seine Ausbreitung unkontrollierbar. Die Verletzung von Zivilisten ist hierbei unausweichlich.
LegalTech: legal-tech-blog.de (Nico Kuhlmann) stellt (in englischer Sprache) Einsatzmöglichkeiten von juristischen Chat-Bots vor.
SS-Richter: Der Spiegel (Martin Doerry) bespricht eine Biografie des SS-Richters Konrad Morgen, der im Dritten Reich gegen SS-Funktionäre und KZ-Kommandanten wegen Korruption und Amtsmissbrauch ermittelte. Die Biografie-Autoren Herlinde Pauer-Studer und J. David Velleman betonten, dass der Richter, der sich aus idealistischen Gründen für die SS und den NS-Staat einsetzte, später einen Sinneswandel vollzog. Allerdings spreche mehr dafür, dass er seine Abkehr vom NS-Regime und die Ablehnung der Judenvernichtung erst nach Kriegsende erfand.
Das Letzte zum Schluss
Waffenattrappe in Dortmund: Ausgerechnet einen Tag nach dem Anschlag auf den Bus von Borussia Dortmund fuhr ein Rapper mit einer Waffenattrappe durch Dortmund, um ein Musikvideo zu drehen. Laut spiegel.de versetzte er Bürger in Angst und erhielt von der Polizei einen Platzverweis.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/ms/chr
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 14. bis 18. April 2017: Zweifelhaftes Türkei-Referendum / BVerfG zu Vorratsdatenspeicherung / EGMR zu Sturm auf russische Schule . In: Legal Tribune Online, 18.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22667/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag