Laut BKA hat Gewalt gegen Frauen 2023 zugenommen. Die Kieler Justizministerin Kerstin von der Decken hat ihre Justiz-Zentralisierungspläne aufgegeben. Rechtsprofessor Andreas Roth berichtet über sein Projekt zur Geschichte des BGH.
Thema des Tages
Gewalt gegen Frauen: Wie das Lagebild "Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten" des Bundeskriminalamtes ergab, ist Gewalt gegen Frauen 2023 angestiegen. So stieg die Zahl der registrierten weiblichen Opfer von häuslicher Gewalt gegenüber 2022 um 5,6 Prozent auf 180.715. Außerdem wurden 52.330 Frauen und Mädchen Opfer von Sexualstraftaten - und damit 6,2 Prozent mehr als 2022. Zudem wurden 938 Mädchen und Frauen Opfer von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten, ein Prozent mehr als im Vorjahr. 360 Frauen und Mädchen starben dabei. Es berichtet u.a. LTO.
Familienministerin Lisa Paus (Grüne) nahm die Vorstellung des Lagebildes zum Anlass, für die Verabschiedung des von ihrem Haus erarbeiteten Gewalthilfegesetzes zu werben. Es sieht vor, dass die Länder bis 2030 das Angebot an Frauenhäusern flächendeckend ausbauen sollen. Vom 1. Januar 2030 an soll ein Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung gelten. Zudem soll sich der Bund an den Kosten der Frauenhäuser beteiligen. So sollen auch Verpflichtungen aus der Istanbul-Konvention des Europarats erfüllt werden. Ein Kabinettsbeschluss ist für nächste Woche geplant. Schwerpunktmäßig über den Gesetzentwurf berichten SZ (Markus Balser/Sina-Maria Schweikle) und Welt (Sabine Menkens).
Rechtspolitik
Sozial- und Arbeitsgerichte SH: Die Pläne der schleswig-holsteinischen Justizministerin Kerstin von der Decken (CDU) für eine umfassende Zentralisierung der Arbeits- und Sozialgerichte in Schleswig-Holstein sind weitgehend vom Tisch. In beiden Gerichtsbarkeiten soll es zwar weiterhin zur Schließung von Standorten kommen, die verbleibenden Gerichte sollen dafür Außenstellen bekommen. Die nach erheblichem Druck von Berufsverbänden und Gewerkschaften jetzt erarbeitete Konstruktion soll auch Einsparungen von bis zu 50 Millionen Euro ermöglichen, so LTO (Tanja Podolski).
Zivilprozess: Am Oberlandesgericht Celle diskutierten am vergangenen Wochenende knapp 100 Teilnehmende aus Justiz, Rechtsanwaltschaft und Wissenschaft die Ergebnisse der seit Jahresbeginn erarbeiteten Vorschläge für einen "Zivilprozess der Zukunft". Eine der Arbeitsgruppen habe vorgeschlagenen, mit einer "zeitgemäßen und benutzerfreundlichen Kommunikationsplattform" perspektivisch den elektronischen Rechtsverkehr zu ersetzen, so beck-aktuell. Ein demnächst erscheinender Tagungsband soll die Ergebnisse zusammenfassen.
Bruch der Ampel/Familienpolitik: zeit.de (Tilmann Prüfer u.a.) zählt familienpolitische Vorhaben auf, die wegen des vorzeitigen Endes der Ampelkoalition zunächst gescheitert sind, aber "nicht in Vergessenheit geraten dürfen." Der Beitrag nennt etwa die Kindergrundsicherung, die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz oder die Schaffung einer Verantwortungsgemeinschaft.
Justiz
BGH-Geschichte: Die von Rechtsprofessor Andreas Roth geleitete fünfjährige Forschungsarbeit zu den Anfangsjahren des Bundesgerichtshofs bis 1965 ist nunmehr abgeschlossen. LTO (Markus Sehl) spricht mit Roth über die wesentlichen Erkenntnisse. Es konnte keine Belastung der BGH-Rechtsprechung mit NS-Gedankengut festgestellt werden, so Roth, auch wenn manchmal autoritäre Weltbilder sichtbar wurden. Der BGH ging davon aus, dass NS-Unrecht nur von einem kleinen elitären Führungszirkel zu verantworten sei. Den Landgerichten eröffnete er neue rechtliche Möglichkeiten, Irrtümer von NS-Tätern bei der Schuld zu berücksichtigen. Bei der Entwicklung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zeigte sich der BGH innovativ. Andere Fragen waren zwischen den Senaten umstritten, etwa die Zulässigkeit der Prügelstrafe. Manchmal sei es gelungen, die für bestimmte Urteile maßgeblichen Richter:innen zu identifizieren.
EGMR zu Elternschaft: Rechtsanwältin Lucy Chebout kritisiert im Verfassungsblog das in der vergangenen Woche verkündete Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach dem die Nicht-Eintragung der eingetragenen Lebenspartnerin als Mit-Mutter eines per Eizell- und Samenspende geborenen Kindes keine konventionswidrige Diskriminierung darstellt. Das Gericht habe trotz erheblicher Verfahrensdauer die wesentliche Frage des Falls "weder erkannt noch beschieden". Die vom Paar genutzte Stiefkindadoption sei mitnichten eine "gleichwertige Alternative zu einer automatischen Zuordnung qua Gesetz." Zum "gleichheitsrechtlichen Kernproblem des Falles" dringe der EGMR nicht durch.
BVerfG – Rundfunkbeitrag: Mit einer Verfassungsbeschwerde rügen ARD und ZDF die unterbliebene Erhöhung des Rundfunkbeitrags durch die Bundesländer. Die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarf der Rundfunkanstalten (KEF) hatte im Februar eine monatliche Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 58 Cent empfohlen. Die Länder haben dies jedoch noch nicht umgesetzt. Auch ein entsprechender Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz Mitte Dezember könnte den neuen Betrag nicht mehr zum Januar bewirken, da zunächst noch zustimmende Beschlüsse aller Landtage erforderlich seien. Schon die letzte Beitragserhöhung 2021 musste vom Bundesverfassungsgericht erzwungen werden. Es berichten SZ (Aurelie von Blazekovic/Claudia Tieschky), LTO und tagesschau.de (Kolja Schwartz).
BGH zu Bankgebühren: Im April 2021 entschied der Bundesgerichtshof, dass die einseitige Erhöhung von Kontoführungsgebühren per Zustimmungsfiktionsklausel unwirksam ist. Jetzt stellte der BGH klar, dass die Erstattung solcherart gezahlter Entgelte keineswegs auf den bei Energielieferungsverträgen maßgeblichen Dreijahreszeitraum beschränkt ist. Nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen müsse die Erstattung vielmehr in voller Höhe erfolgen. SZ (Oliver Klasen), LTO und tagesschau.de (Sabeth Wegener) berichten.
BGH zu Facebook-Datenleck: Eine vertiefte Analyse der am Montag verkündeten Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs zu Schadensersatzansprüchen gegen den Meta-Konzern im sogenannten Scraping-Komplex unternehmen die Rechtsanwälte Moritz Stilz und Simon Wegmann auf LTO. Sie erklären hierzu die technischen Hintergründe des Sachverhalts und die rechtlichen Hintergründe des neuen zivilprozessualen Instruments der Leitentscheidung, das "im engeren Sinne" gar nicht zum Einsatz gelangt sei. Immerhin habe der BGH zu erkennen gegeben, dass er die ihm nunmehr eingeräumte Möglichkeit offensiv nutzen wolle. Im zugrundeliegenden Fall sei immer noch unklar, ob die – grundsätzlich befürworteten - Ansprüche von Geschädigten wegen ihrer geringen Höhe wirtschaftlich sinnvoll geltend gemacht werden können. Die FAZ (Marcus Jung) fasst die Entscheidung und ihre Auswirkungen in Frage-und-Antwort-Form zusammen.
Andrian Kreye (SZ) begrüßt das Urteil. Auch wenn die als Schadensersatz für den zeitweiligen Kontrollverlust im Raum stehenden 100 Euro gering erschienen, etablierten sie doch immerhin eine "digitale Parallele zur Unversehrtheit in der echten Welt."
BGH zu Abschiebehaft: beck-aktuell berichtet über die erfolgreiche Rechtsbeschwerde eines ausreisepflichtigen russischen Staatsangehörigen. Dessen Abschiebehaft war rechtswidrig, da er die ihm gesetzte Ausreisepflicht wegen einer in anderer Angelegenheit ergangenen Ersatzfreiheitsstrafe nicht erfüllen konnte.
LG Bonn – Cum-Ex/Gabriele Berger: Am 10. Dezember verhandelt das Landgericht Bonn über eine Klage des Landes Nordrhein-Westfalen, das von Gabriele Berger, der Frau des Cum-Ex-Masterminds Hanno Berger 300.000 Euro fordert. Hiermit wäre ein Bruchteil der rechtskräftigen Rückerstattungsforderung des Fiskus gegen Hanno Berger beglichen, mehr als 13 Millionen Euro aber weiterhin offen. Deren Verbleib sei unbekannt, schreibt das Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier). Ermittlungsbehörden nähmen an, dass die Bergers Vermögenswerte bereits vor der Flucht Bergers in die Schweiz zur Seite gebracht hätten.
AG Bamberg – Habeck-Beleidigung "Schwachkopf": Nach Ansicht von Jost Müller-Neuhof (Tsp) ist es "ein Fehler" von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), Social-Media-Posts wie das nun in Frage stehenden "Schwachkopf"-Meme nicht auszuhalten. Habeck und seine Ministerkollegin Annalena Baerbock (Grüne) seien innerhalb des Kabinetts bei der Erstattung von Strafanzeigen unangefochten in Führung. Dass sie sich hierbei auf den "noch recht neuen Paragraf 188 Strafgesetzbuch" stützen können, bediene ein in geneigten Kreisen mit Vorliebe ausgeschlachtetes Ressentiment, nach dem "Grüne als abgehobene Elite" den Staat für ihre Zwecke missbrauchen.
AG Hamburg zu Hausfriedensbruch in Kita: Wegen Hausfriedensbruchs wurde ein Gärtner vom Amtsgericht Hamburg zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Angeklagte hatte im vergangenen Dezember auf dem umzäunten Gelände einer Kita einen Weihnachtsbaum aufgestellt. In der mündlichen Verhandlung hatte seine Verteidigung bestritten, dass das Tor der Kita abgeschlossen gewesen und das Aufstellen mit dem Einwurf unerwünschter Werbepost vergleichbar sei. LTO berichtet.
Recht in der Welt
EuGH/Polen und Tschechien – Parteimitgliedschaft von EU-Ausländern: Regelungen in Polen und Tschechien, nach denen die Mitgliedschaft in einer politischen Partei vom Besitz der jeweiligen Staatsangehörigkeit abhängt, verletzen das im EU-Vertrag garantierte passive Wahlrecht von EU-Bürger:innen, weil es so nur erschwert möglich ist, für Kommunalwahlen zu kandidieren. beck-aktuell berichtet.
Frankreich – Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot: Unmittelbar vor Beginn der Plädoyers fand der Strafprozess zu den Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot mit Aussagen von Familienangehörigen des Hauptangeklagten einen weiteren dramatischen Höhepunkt. Die Söhne von Dominique Pelicot sagten sich vom Vater los und lasteten ihm die Zerstörung ihrer Familie an. Die Tochter beschrieb ihr Unbehagen über die Ungewissheit, ob auch sie Opfer von Übergriffen geworden war. Der Hauptangeklagte gestand derweil einen bislang bestrittene Vergewaltigungsversuch an einer weiteren Frau im Jahr 1999. Die nun angeklagten Taten seien einer sexuellen Fantasie entsprungen, so zeit.de (Annika Joeres). Ein Urteil soll noch vor Weihnachten verkündet werden. In einer Kolumne beschreibt Nina Monecke (zeit.de), dass der Prozess in Frankreich eine rechtspolitische Diskussion über die strafrechtlichen Voraussetzungen der Vergewaltigung in Gang gesetzt habe.
Niederlande – Klimaschutz/Shell: Nach dem letztwöchigen Berufungsurteil zugunsten des Ölkonzerns Shell beschreiben Rechtsanwalt Moritz Becker und Rechtsanwältin Stefanie Spancken-Monz im Recht und Steuern-Teil der FAZ Auswirkungen auf vergleichbare Klimaschutzverfahren in Deutschland. Die Anwält:innen, die als Vertretung des RWE-Konzerns in der Auseinandersetzung mit einem peruanischen Bauern tätig sind, erinnern an die deutlich größere Offenheit des niederländischen Zivilrechts für "kreative" Argumente und Anspruchsherleitungen aus Generalklauseln. Deshalb habe sich in deutschen Urteilen die Argumentation durchgesetzt, die die Verantwortung für den Klimaschutz beim Gesetzgeber sieht.
Norwegen – Anders Breivik: Ein norwegisches Amtsgericht prüft derzeit, ob der unter seinem Geburtsnamen Anders Breivik verurteilte rechtsextreme Massenmörder die Voraussetzungen einer vorzeitigen Haftentlassung auf Bewährung erfüllt. Hierfür müsste ausgeschlossen sein, dass er eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt und in Freiheit keine schweren Straftaten mehr begeht, erklärt LTO. Während Staatsanwaltschaft und Gefängnisleitung dies bestreiten, setzt die Verteidigung von Fjotolf Hansen – so der Name des Mörders seit 2017 – ihre Hoffnung auf eine psychologische Begutachtung, die erstmals von Sachkundigen außerhalb des Vollzugsdienstes vorgenommen wurde.
USA – Donald Trump/Stormy Daniels: Im Schweigegeld-Verfahren des designierten US-Präsidenten Donald Trump hat die Staatsanwaltschaft eine Einstellung abgelehnt. In einer Stellungnahme gegenüber dem Richter wurde jedoch dargelegt, dass die Abwägung "konkurrierender verfassungsrechtlicher Interessen" eine Aussetzung der weiterhin ausstehenden Strafmaßverkündung bis zum Ende der Präsidentschaft Trumps rechtfertigen könnte. spiegel.de berichtet.
China – Hongkong: In Hongkong sind 45 Mitglieder der Demokratiebewegung zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Die von den Angeklagten im Jahr 2020 veranstaltete, inoffizielle Vorwahl für die spätere Wahl des Stadtparlaments verwirklichte nach Bestimmungen des im gleichen Jahr in Kraft getretenen Sicherheitsgesetzes die Straftatbestände Verschwörung zum Umsturz sowie Staatsgefährdung. FAZ (Sara Wagener) und taz (Sven Hansen) berichten.
Im Leitartikel argumentiert Ulf Poschardt (Welt), die durch das Urteil zum Ausdruck gekommenen Entwicklungen bewiesen, dass China "kein Partner für irgendwas sein" könne.
Sonstiges
Einstufung der AfD/Neutralitätsgebot: LTO gibt sachverständige Einschätzungen wieder, nach denen sich aus dem Neutralitätsgebot keine Verpflichtung des Bundesamts für Verfassungsschutz ableiten lässt, die noch für dieses Jahr angekündigte Neubewertung der AfD zurückzuhalten. Der emeritierte Rechtsprofessor Ulrich Battis etwa erinnert daran, dass dem Bundesamt bei der Erfüllung seines gesetzlichen Auftrags kein Ermessen eingeräumt ist.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi/chr
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Die juristische Presseschau vom 20. November 2024: . In: Legal Tribune Online, 20.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55906 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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