Die juristische Presseschau vom 18. November 2020: Wie weiter im EU-Rechts­staats­st­reit? / Kosten für Viel­kläger? / Großrazzia wegen Ein­bruch

18.11.2020

Findet sich eine Lösung im Streit zum EU-Rechtsstaatsmechanismus? Können Dauerkläger von Sozialgerichten künftig zur Kasse gebeten werden? Die Großrazzia bei Clan-Familien in Berlin-Neukölln wird teilweise kritisiert.

Thema des Tages

EU-Haushalt/EU-Rechtsstaatlichkeit: Am morgigen Donnerstag wollen die Staats- und Regierungschefs der EU auf einem virtuellen Gipfel Möglichkeiten ausloten, den Konflikt über die Verbindung des kommenden EU-Haushalts mit einem Rechtsstaatsmechanismus zu lösen. Zur anhaltenden Blockade Ungarns und Polens berichten u.a. Hbl (Moritz Koch/Hans-Peter Siebenhaar) und FAZ (Thomas Gutschker). In einem Interview mit der FAZ (Stephan Löwenstein) beklagt die ungarische Justizministerin Judit Varga eine Ungleichbehandlung ihres Heimatlandes. Die Rechtsstaatsberichte der Europäischen Kommission könnten keine Objektivität für sich in Anspruch nehmen, sie beabsichtigten vielmehr eine "gewöhnliche Erpressung solcher Länder, die auf Feldern wie der Migration oder der Familie nicht der Mehrheitsströmung folgen". Ungarn sei ein Rechtsstaat mit unabhängigen Staatsanwaltschaften und Richtern.

Eric Bonse (taz) wirft der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und der Kanzlerin vor, beim entscheidenden EU-Gipfel im Juli "Appeasement betrieben" zu haben. Nun müsse man "Farbe bekennen und für den Rechtsstaat kämpfen". Dagegen plädiert Alan Posener (zeit.de) dafür, "verbal abzurüsten" und eine Kompromissformel zu "finden, die allen erlaubt, ihr Gesicht zu wahren". Auch wenn dies einen "faktischen Erfolg" der ungarischen und polnischen Regierung bedeuten mag, blieben Anstrengungen zur Stärkung der dortigen "europäischen Öffentlichkeit" weiterhin sinnvoll.

Rechtspolitik

Gerichtskosten am Sozialgericht: Über eine Bundesratsinitiative will Hessen eine Gebühr für Vielkläger in sozialgerichtlichen Verfahren einführen. In einem vertieften Gespräch mit lto.de (Tanja Podolski) bezeichnet Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, das Vorhaben als diskussionswürdigen Versuch, "um das Spannungsverhältnis zwischen niedrigschwelligem Rechtsschutz und der Abwehr missbräuchlicher Inanspruchnahme der Sozialgerichte" aufzulösen. Der BSG-Präsident setzt die Diskussion über das Vorhaben am heutigen Mittwoch in einer öffentlichen Video-Schalt-Diskussion mit der hessischen Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) und weiteren Experten fort. Die Adresse für die Zugangsdaten ist im Beitrag vermerkt.

Corona – Infektionsschutzgesetz: Vor der für den heutigen Mittwoch geplanten Verabschiedung der jüngsten Reform des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) fasst das Hbl (Martin Greive/Gregor Waschinski) die auch weiterhin erhobene Kritik zusammen. So habe der Haushaltsausschuss des Bundestags durch einen sogenannten Maßgabebeschluss klargestellt, dass das Bundesfinanzministerium bei haushaltsrelevanten Entscheidungen auf Grundlage des IfSG beteiligt werden müsse. Die von Linken, Grünen und FDP geäußerte Kritik, vorrangig am Tempo des Gesetzgebungsverfahrens, fasst die taz (Stefan Reinecke) zusammen. 

FAZ (Markus Wehner) und taz (Konrad Litschko) berichten, dass das Bundesinnenministerium die Durchführung angemeldeter Versammlungen innerhalb der parlamentarischen Bannmeile untersagt hat. Begründet werde dies mit Aufrufen, den Bundestag zu blockieren.

Corona – Beschränkungen: Im Geisteswissenschaften-Teil wendet sich Marlene Grunert (FAZ) gegen die von Rechtsprofessor Oliver Lepsius vertretenen Thesen zum vorgeblich geringen Anteil der Judikative am Fortbestand des Rechtsstaates auch in Corona-Zeiten. So richtig es sei, "die Parlamente sehr viel stärker in die Pflicht zu nehmen", bestehe für die Annahme, Gerichte hätten sich "praktisch zur Genehmigungsbehörde" gemacht, tatsächlich kein Anlass.

Justiz

BGH zu MFK bei Widerrufsjoker: Wie schon zuvor das Oberlandesgericht Stuttgart hat nun auch der Bundesgerichtshof dem Verein "Schutzgemeinschaft für Bankkunden" abgesprochen, eine im Sinne von § 606 Zivilprozessordnung qualifizierte Einrichtung und damit befugt zu sein, eine Musterfeststellungsklage zu erheben. Der Verein wollte Kunden der Mercedes-Bank die Ausübung des sogenannten Widerrufsjokers sichern, berichtet LTO.

BVerwG zu Fehmarnbelttunnel: In einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ begrüßt Rechtsanwältin Christiane Kappes die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Planfeststellung des Fehmarnbelttunnels Anfang November. Der betriebene Planungsaufwand sei indes für die allermeisten Vorhaben "schlicht nicht realisierbar". Um große Infrastrukturprojekte auch weiterhin zu ermöglichen, bedürfe es neben "sinnvollen Verfahrenserleichterungen" wie dem bereits auf den Weg gebrachten Investitionsbeschleunigungsgesetz auch weiterer Maßnahmen, etwa einer "praxistauglichen Stichtagsregelung" für Umweltuntersuchungen.

LVerfG S-A – U-Ausschuss: Das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt wird am 8. Dezember verkünden, ob der Landtag berechtigt war, den von der AfD-Fraktion mit der erforderlichen Abgeordnetenanzahl beantragten Untersuchungsausschuss "Linksextremismus" abzulehnen. In der von LTO dargestellten Verhandlung habe der Landtagsvertreter ein unbestimmtes Thema und eine Kompetenzüberschreitung des Parlaments geltend gemacht.

BayVerfGH zu Corona-Beschränkungen: Die in Bayern geltenden coronabedingten Beschränkungen des öffentlichen Lebens verletzen nicht offensichtlich Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte der Landesverfassung. Dies entschied nach LTO in Eilverfahren der bayerische Verfassungsgerichtshof. Auch die gegenwärtige Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes belege nicht, dass es der Landesverordnung an einer gesetzlichen Grundlage fehle.

OLG Naumburg – Anschlag auf Synagoge: Im Verfahren zum Anschlag auf die Hallenser Synagoge hörte das Oberlandesgericht Naumburg den Leiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Benjamin Steinitz. Der Sachverständige beschrieb das durch den Anschlag negativ beeinflusste Sicherheitsempfinden von Juden in Deutschland und darüber hinaus eine hierzulande "ungebrochene Tradition extremer Gewalt gegen Juden", so die FAZ (Mona Jaeger). Der Angeklagte habe die Ausführungen höhnisch kommentiert. Sein Antrag auf Aussetzung wurde laut LTO abgewiesen. Das Gericht hatte mitgeteilt, eine als fahrlässige Körperverletzung angeklagte Tat während der Flucht Stephan B.s möglicherweise als versuchten Mord zu werten.

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Im Verfahren zur Tötung Walter Lübckes hat die Verteidigung des Hauptangeklagten Stephan E. die Vernehmung des Dresdner Justizsekretärs Daniel Z. beantragt. Die SZ (Annette Ramelsberger) berichtet, dass Z. – der wegen der Veröffentlichung des Haftbefehls eines Verdächtigen der tödlichen Messerstecherei in Chemnitz verurteilt und dabei von Stephan E.s früherem Anwalt verteidigt wurde – zwei Monate nach der Tat an Lübckes Wohnhaus aufgegriffen wurde. Er solle nun darlegen, was ihm sein Anwalt über den Mord erzählt hatte.

LG Bremen – BAMF-Skandal: Das Strafverfahren zum vermeintlichen Bamf-Skandal wird am Landgericht Bremen nicht mehr in diesem Jahr beginnen. Nachdem die Staatsanwaltschaft nun ihre Beschwerdefrist gegen die Anklagezulassung hat verstreichen lassen, ist aber klar, dass die zur Verhandlung stehenden Taten gegenüber den ursprünglich erhobenen Vorwürfen verschwindend gering sind, resümiert LTO (Markus Sehl).

LG Bonn – Cum-Ex: Zum Auftakt des Strafverfahrens gegen Christian S., früherer Generalbevollmächtigter der Privatbank M.M. Warburg, hat die Verteidigung die Anklage scharf kritisiert. Durch die speziell für Cum-Ex-Fälle zuständige Kammer des Landgerichts Bonn sei ein "Ausnahmegericht" geschaffen worden, zudem sei zunächst ein Verfahren gegen den vermeintlichen Strippenzieher Hanno Berger zu betreiben. FAZ (Marcus Jung) und SZ (Jan Willmroth/Nils Wischmeyer) berichten.

LG Bonn zu DSGVO-Bußgeld: Rechtsprofessor Michael Kubiciel zeichnet im Recht und Steuern-Teil der FAZ die Entwicklung zur aktuellen Sanktionspraxis auf Grundlage der Datenschutzgrundverordnung nach. Er begrüßt, dass das Landgericht Bonn vorige Woche in seiner Entscheidung zu einem gegen einen Telekommunikationsanbieter verhängten Bußgeld "dem Leitbild verhältnismäßiger Sanktionen Rechnung trägt".

LG Mönchengladbach – Kita-Tod: Am Landgericht Mönchengladbach ist eine 25-jährige Kita-Erzieherin wegen des Mordes einer Dreijährigen sowie der Misshandlung von Schutzbefohlenen in acht Fällen angeklagt. Die Angehörigen der Geschädigten erhoffen sich vom Verfahren auch eine Klärung möglicher Versäumnisse des Landesjugendamts, das Vorfälle in Kitas überprüfen soll, schreibt die FAZ (Reiner Burger/Julia Schaaf).

LG Potsdam – Horst Mahler: Der Wissenschaftliche Mitarbeiter Andreas Zöllner untersucht im Verfassungsblog die gegenwärtig beim Landgericht Potsdam anhängige Frage der Rechtmäßigkeit der gegen den verurteilten Volksverhetzer Horst Mahler nach dessen Haftverbüßung beantragten Weisungen. Angesichts des Gewichts der grundrechtlichen Meinungsfreiheit dürfte sich die angedachte Anzeige geplanter Publikationen Mahlers vor allen wegen der einwöchigen Vorlauffrist als Verstoß gegen das Zensurverbot nach Art. 5 Abs. 1 Satz 3 Grundgesetz erweisen.

VG Köln – Drugchecking: Hessen will vor dem Verwaltungsgericht Köln vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Sondererlaubnis für einen wissenschaftlich begleiteten Modellversuch eines sogenanntes Drugchecking-Projekts erstreiten, berichtet die taz (Alina Leimbach). Durch Drugchecking können Konsumenten von Betäubungsmitteln ihre Drogen auf besonders gefährliche Inhaltsstoffe untersuchen lassen.

AG Berlin-Tiergarten – Holocaust-Leugnerin: Die bereits mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilte 92-jährige Ursula Haverbeck ist zwei Wochen nach ihrer jüngsten Haftentlassung erneut wegen Leugnung des Holocausts angeklagt. Von der Verhandlung am Berliner Amtsgericht Tiergarten berichtet spiegel.de (Wiebke Ramm).

StA Dresden – Grünes Gewölbe: Mit über 1.600 Polizeibeamten wurden auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft Dresden zahlreiche Objekte in Berlin nach Beweismitteln zum Einbruch im Dresdner Grünen Gewölbe durchsucht. Wie die FAZ (Markus Wehner) berichtet, haben die Ermittler dabei Angehörige einer arabischen Großfamilie, die dem sogenannten Clan-Milieu zugerechnet werde, im Blick. Gareth Joswig (taz) stellt die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes in Frage, Reinhard Müller (FAZ) bezeichnet "die Durchsetzung des Rechts" im Leitartikel dagegen als "Selbstverständlichkeit, mehr noch: eine Pflicht". Auch wenn zu befürchten sei, "dass das große Polizeiaufgebot in jenen Kreisen auch als Ehrenbezeugung gedeutet" werde, sei die durchgeführte Razzia auch in ihrem Ausmaß und zu diesem Zeitpunkt wichtig, um das "Vertrauen in die rechtsstaatliche Ordnung" zu stärken.

Recht in der Welt

USA – Präsidentschaftswahl: Im Interview mit LTO (Hasso Suliak) äußert sich Rechtsprofessor Kirk W. Junker zu den aus seiner Sicht aussichtslosen Versuchen des US-Präsidenten, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl anzufechten und prognostiziert eine termingerechte Amtseinführung Joe Bidens am 20. Januar. Sollte Donald Trump mit seinen Klagen "wider Erwarten doch Erfolg haben", wäre dies nach der von Jens Münchrath (Hbl) im Leitartikel geäußerten Ansicht ein untrügliches Zeichen dafür, dass "diese stolze Demokratie" sich "tatsächlich am Rande eines Kollapses bewegt". Auch "noch so klug formulierte Verfassungstexte" müssten "gelebt werden".

USA – Föderalismus: Sebastian Runschke konstatiert auf dem JuWissBlog eine Krise des politischen Systems der USA und macht hierfür die dortige spezifische Ausgestaltung des Föderalismus verantwortlich. Die verfassungsmäßig verankerten föderalistischen Prinzipien hätten zwar dazu beigetragen, die USA zur "längsten aktiven Demokratie der Welt" zu machen, wirkten aber mittlerweile als gesellschaftspolitische Reformhürden.

Sonstiges

Ökozid: Die ARD zeigt an diesem Mittwoch-Abend "Ökozid", eine von Regisseur Andres Veiel stammende Pseudo-Dokumentation eines im Jahr 2034 am Internationalen Gerichtshof stattfindenden Prozesses, bei dem Länder des Südens von der Bundesrepublik Schadensersatz wegen Versäumnissen in der Klimapolitik fordern. In der Besprechung der FAZ (Oliver Jungen) im Medien-Teil gehört der Film zur "nicht nur hierzulande beliebten Gattung der sich moralisch überhebenden Verurteilungsfilme". Er setze diese dabei auch noch "mit einem Schauprozess und Scheinjustiz auf eine neue Stufe". Die SZ (Alex Rühle) preist dagegen ein "analytisches Feuerwerk", dem es gelinge, "politische Prozesse sichtbar" zu machen.

Corona – Betriebsschließungsversicherungen: Nach Ansicht von Carsten Herz (Hbl) legen die zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen über Ansprüche von Gastwirten aus abgeschlossenen Betriebsschließungsversicherungen "einen grundsätzlichen Mangel" der Branche offen. Diese hätte ihre "Bringschuld" klarer und verständlicher Bedingungen derartiger Versicherungen auch in Pandemiezeiten nicht erfüllt und sähe sich nun "enttäuschten und verbitterten Kunden" gegenüber.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mpi

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 18. November 2020: Wie weiter im EU-Rechtsstaatsstreit? / Kosten für Vielkläger? / Großrazzia wegen Einbruch . In: Legal Tribune Online, 18.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43460/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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