Das BVerfG beanstandete Teile des hessischen Verfassungsschutzgesetzes. Heute will das BVerfG eine Grundsatzentscheidung zu Oppositionsrechten verkünden. Auch eine Zeugin Jehovas hat Anspruch auf Beachtung ihrer Patientenverfügung.
Thema des Tages
BVerfG zu Verfassungsschutzgesetz Hessen: Teile des 2023 novellierten hessischen Verfassungsschutzgesetzes sind verfassungswidrig. Wie das Bundesverfassungsgericht in einem nun veröffentlichten Beschluss von Mitte Juli feststellte, verstoßen mehrere im Gesetz geregelte Datenerhebungs- und Übermittlungsbefugnisse gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, insbesondere weil Eingriffschwellen fehlen oder zu niedrig sind. Beanstandet wurden die Befugnisse zur Handyortung, zum Einsatz von verdeckten Mitarbeiter:innen, zu Auskunftsersuchen an Verkehrsbehörden sowie zur Datenübermittlung an Strafverfolgungsbehörden und andere inländische öffentliche Stellen. Die meisten der beanstandeten Regelungen müssen bis Ende des nächsten Jahres nachgebessert werden, die Handyortung dagegen dürfe ab sofort nur noch punktuell und ohne die Möglichkeit, Betroffene längerfristig zu orten, eingesetzt werden. Die Verfassungsbeschwerden waren u.a. von der Gesellschaft für Freiheitsrechte unterstützt worden. Es berichten u.a. FAZ (Marlene Grunert), LTO, beck-aktuell und netzpolitik.org (Anna Biselli).
Nach Ansicht von Reinhard Müller (FAZ) betreffen die Karlsruher Beanstandungen "Wiederholungsfehler", die zu beseitigen nun die schwarz-rote Koalition in Hessen aufgerufen ist. Gleichwohl brauche, "wer eine wehrhafte Demokratie will", "Sicherheitsbehörden mit wirksamen Befugnissen".
Rechtspolitik
EU-Kommission: Ursula von der Leyen (CDU) hat als Präsidentin der EU-Kommission die designierten Mitglieder der kommenden Kommission vorgestellt. Der irische Politiker Michael McGrath soll dabei Kommissar für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit werden. Der österreichische ÖVP-Politiker Magnus Brunner wird für Asyl und Migration zuständig. Die Vorgeschlagenen müssen noch vom EU-Parlament betätigt werden; die diesbezüglichen Anhörungen beginnen voraussichtlich Mitte Oktober. Es berichten u.a. FAZ (Thomas Gutschker) und taz (Eric Bonse).
Mord/Femizid: Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Hanna Welt stellt auf dem Verfassungsblog Inhalt und Herkunft des Femizidbegriffs vor und plädiert im Weiteren für die Schaffung des Mordmerkmals "Tötung aufgrund geschlechtsspezifischer Motive". Dies würde zu einer interessengerechteren Sichtbarmachung geschlechtsspezifischer Tötungen von Frauen führen, diese Taten angemessen bestrafen und so zu mehr Gerechtigkeit beitragen.
Sicherheitspaket: Rechtsprofessor Clemens Arzt kritisiert auf dem Verfassungsblog die in der vergangenen Woche in erster Lesung im Bundestag debattierten Gesetzentwürfe des sogenannten Sicherheitspakets. Die Vorlagen zur Verhinderung von Messerangriffen, dem polizeilichen Einsatz biometrischer Gesichtserkennung und automatisierter Datenanalyse ließen "rationale und evidenzbasierte Antworten auf die wirkliche Bedrohungslage" vermissen. Sie dienten zuvörderst der Absicht, nach der Attacke von Solingen Tatkraft zu demonstrieren.
DJT - Beschlagnahme von Mobiltelelefonen: In einem Gastbeitrag kritisiert Rechtsanwältin Gül Pinar auf beck-aktuell Praxis und Rechtslage bei der Beschlagnahme von Mobiltelefonen. Angesichts der Bedeutung der Geräte und der auf ihnen vorhandenen Daten sei es dringend erforderlich, die Durchsicht an strengere Voraussetzungen zu knüpfen und auch genauer zu dokumentieren. Das Thema wird beim Deutschen Juristentag in der nächsten Woche diskutiert.
Bürokratie: Über die jüngsten Änderungsanträge zum Bürokratieentlastungsgesetz, das vor der Verabschiedung steht, informieren LTO und beck-aktuell. So sollen Steuerbescheide künftig auch digital abrufbar sein oder Aufbewahrungsfristen für Rechnungskopien und Kontoauszüge verkürzt werden.
Resilienz des Rechtsstaates: Der Deutsche Anwaltverein hat verstärkte Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz des Rechtsstaates gefordert. Vorschläge des DAV zur Lage in Thüringen seien leider nicht berücksichtigt worden. Dabei hätten die auf Bundesebene erarbeiteten und vereinbarten Maßnahmen zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts bewiesen, dass eine "konstruktive und ergebnisorientierte Zusammenarbeit zwischen Parteien" möglich sei. Es berichtet beck-aktuell.
Justiz
BVerfG – AfD-Ausschussvorsitze: Am heutigen Mittwoch wird das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen in zwei Organstreitverfahren zu Oppositionsrechten verkünden. Der erste Fall betrifft den Anspruch der klagenden AfD-Bundestags-Fraktion auf den Vorsitz eines oder mehrerer Ausschüsse. Die AfD leitet ihren Anspruch aus der Geschäftsordnung des Bundestags ab, nach der die Posten "im Verhältnis der Stärke der Fraktionen" zu verteilen sind, konnte aber bislang nicht verhindern, dass ihre Personalvorschläge von den übrigen Fraktionen nicht gewählt wurden. Vor dem BVerfG hat sie daher vertreten, dass eine ausdrückliche Wahl der Ausschussvorsitzenden – im Gegensatz zur früheren, bloßen Bestätigung – einen Traditionsbruch darstelle. Der andere Fall betrifft die Abwahl des AfD-Abgeordneten Stephan Brandner als Vorsitzender des Rechtsausschusses im Jahr 2019. Die berichterstattende Richterin Christine Langenfeld hatte in der mündlichen Verhandlung Ende März eine Grundsatzentscheidung angekündigt. FAZ (Marlene Grunert) und LTO (Markus Sehl) berichten ausführlich vorab.
EGMR zu Christian Olearius: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine Beschwerde des Bankiers Christian Olearius abgelehnt. Das Cum-Ex-Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs von 2021 im Fall zweier Bank-Mitarbeiter habe ihn nicht unzulässig vorverurteilt. Auch die von Olearius beanstandete Veröffentlichung von Tagebuchauszügen durch Medien habe seine EMRK-Rechte nicht verletzt. FAZ (Marcus Jung), SZ (Nils Heck) und LTO berichten.
EuGH – Mindestlohn: Am Europäischen Gerichtshof ist seit dem vergangenen Jahr eine Nichtigkeitsklage Dänemarks gegen die Wirksamkeit der ein Jahr zuvor in Kraft getretenen EU-Mindestlohn-Richtlinie anhängig. Dänemark mache geltend, dass die EU bei der Verabschiedung der Richtlinie außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt habe, erläutert die FAZ (Dietrich Creutzburg/Katja Gelinsky). Gleichwohl lasse sich auch vertreten, dass die Richtlinie lediglich Empfehlungen erteile und somit kein zwingendes Recht setze.
EuGH zu Fusionskontrolle: Das Anfang des Monats verkündete Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall "Grail/Illumina" zur – verneinten – Prüfungsbefugnis der EU-Kommission für die Kontrolle von Fusionen von Unternehmen außerhalb des EU-Marktes wird von Rechtsanwältin Andrea Pomana im Recht und Steuern-Teil der FAZ besprochen. Die Entscheidung sei "sehr zu begrüßen", da sie dem Trend zu "regulatorischen Interventionen" zuwiderlaufe und somit Rechtssicherheit schaffe.
BVerwG zu Compact-Verbot: Die Doktorandin Miriam Schmitt prüft im Wissenschaftsblog Jean Monnet Saar die Vereinbarkeit der Verbotsverfügung des Bundesinnenministeriums gegen den rechtsextremistischen Compact-Verlag mit Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und beschreibt diesbezüglich erhebliche Begründungsanforderungen. Mitte August hatte das Bundesverwaltungsgericht den sofortigen Vollzug des Verbots in einem Eilbeschluss außer Vollzug gesetzt.
BGH – Überschuss bei Altersvorsorge: Am heutigen Mittwoch verhandelt der Bundesgerichtshof über eine Klage der Verbraucherschutzzentrale Hamburg gegen die Allianz Versicherung bzw. deren Regelungen zu Überschussbeteiligungen bei privaten Altersvorsorgeverträgen. Nach Ansicht der Verbraucherschützer:innen werden ältere Verträge gegenüber neueren benachteiligt, so die FAZ (Katja Gelinsky). In den Vorinstanzen konnte sich diese Ansicht nicht durchsetzen.
OVG Berlin-BB zu Klimaschutzprogramm: Das Mitte Mai verkündete Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg zum Klimaschutzprogramm der Bundesregierung ist teilweise rechtskräftig. Das Bundesumweltministerium hat bezüglich des den Sektor Landnutzung betreffenden Teils keine Revision eingelegt. Dies gelte jedoch nicht für den zweiten Urteils-Teil, "eine Art Gesamtplan der Bundesregierung, um Treibhausgasemissionen" in verschiedenen Sektoren zu senken, schreibt LTO. Hier hat das für Klimapolitik zuständige Wirtschaftsministerium Revision eingelegt, es stehe nun eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts an.
KG Berlin zu Befangenheit: Ein an einen Anwalt gerichteter richterlicher Hinweis, dieser solle sich einen angedrohten Befangenheitsantrag "besser mal überlegen", begründet laut einer Entscheidung des Berliner Kammergerichts keine Besorgis der Befangenheit. Zwar enthalte die auf vermeintliche Interessen der Mandantschaft des Anwalts abzielende Aussage einen "paternalistischen Zungenschlag", zitiert beck-aktuell aus der Mitte Juli ergangenen und nun veröffentlichten Entscheidung. Sie sei aber in der Sache richtig, da das Gericht seine Rechtsansicht nicht davon abhängig machen könne, ob ein Befangenheitsantrag im Raum steht oder nicht.
AG Stuttgart – Varta-Insolvenz: Am Amtsgericht Stuttgart ist gegenwärtig ein die Varta AG betreffendes Insolvenzverfahren anhängig. Die Insolvenz wurde auf Grundlage des erst vor einigen Jahren in Kraft getretenen Gesetzes über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen angemeldet. Der hierzu vorgelegte, vom AG bislang noch nicht akzeptierte Sanierungsplan sieht einen praktischen Totalverlust für Privatanleger vor. Im Interview mit LTO erklärt Rechtsanwalt Thomas Hausbeck den rechtlichen Rahmen und beschreibt denkbare Alternativen.
AG München zu Neuwertigkeit: Wenn ein Händler eine "neuwertige" Ware nicht liefert, hat der Käufer keinen Anspruch auf die Mehrkosten, wenn er anderweitig als Ersatzkauf eine teurere "neue" Ware ersteht. Dies stellte das Amtsgericht München in einem nun veröffentlichten Urteil von Ende Februar fest. Dies galt auch im konkreten Fall - einem Felgenkauf -, obwohl die ursprüngliche Ware vom Verkäufer als "neu" bezeichnet worden war. Aus dem Gesamtzusammenhang sei jedoch deutlich geworden, dass es nur um den Verkauf “neuwertiger” Felgen ging. LTO berichtet.
Recht in der Welt
EGMR/Spanien – Bluttransfusion: Eine während einer Notoperation vorgenommene Bluttransfusion verletzt das im Lichte der Religionsfreiheit auszulegende Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wenn die Patientin sich in einer Patientenverfügung unter allen Umständen gegen eine solche Behandlung ausgesprochen hat. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Falle einer in Spanien lebenden Ecuadorianerin, die den Zeugen Jehovas angehört. Spanien muss der Frau nun Schadensersatz leisten. Das Land müsse sicherstellen, dass das von ihm eingerichtete System einer Datenbank mit Patientenverfügungen auch tatsächlich funktioniere. LTO (Franziska Kring) berichtet.
Frankreich – Vergewaltigung als Angebot: Im Strafprozess von Avignon hat sich der Hauptangeklagte Dominique Pelicot erstmals zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen geäußert. Er räumte dabei ein, ein Vergewaltiger zu sein, "wie alle anderen hier im Saal", so spiegel.de (Britta Sandberg). Die von ihm zur Vergewaltigung seiner damaligen Ehefrau Eingeladenen hätten ausnahmslos um den sedierten Zustand der Geschädigten gewusst. Er selbst habe in seiner Kindheit sexuellen Missbrauch erfahren und bitte seine Ex-Frau um Verzeihung.
USA – Sean Combs: Der Musiker Sean Combs alias P. Diddy ist in New York vorläufig festgenommen worden. Gegen ihn wurde Anklage u.a. wegen Menschenhandel und Vergewaltigung erhoben, schreibt u.a. die SZ. Er habe zwei minderjährige Frauen mit seinem Privatjet aus einem anderen US-Bundesstaat einfliegen lassen, um sie zu vergewaltigen.
Juristische Ausbildung
Jurastudium: Rechtsprofessor Hinnerk Wißmann legt auf dem Verfassungsblog dar, warum es sinnvoll sei, das bestehende System der juristischen Ausbildung im Grundsatz beizubehalten. Die auf das Staatsexamen hinauslaufende Ausbildung ermögliche einen allgemeinen Zugang, mit dem universitären Schwerpunkt stehe Studierenden zudem die Möglichkeit offen, auch Spezialinteressen zu vertiefen. Die zurecht erhobene Kritik an der mit dem Examen für viele verbundenen Angst müsse sich demgegenüber auch fragen lassen, auf welch alternativem Weg sichergestellt werden kann, "dass Juristen andere Menschen nicht ins Unglück stürzen, die sich ihnen anvertrauen?"
Sonstiges
Fluchthilfe/Schlepperei: Nun berichtet auch die taz (Christian Jakob), dass die Hilfsorganisation medico international einen "Fonds für Bewegungsfreiheit" eingerichtet hat, mit dessen Mitteln sie die Verteidigung von kriminalisierten Flüchtlingen unterstützt. In einer Reportage wird beschrieben, wie Hilfe für andere Flüchtlinge europaweit als Schlepperei eingestuft und bestraft wird.
Berufswechsel: Nach zwölf Jahren als internationale M&A-Projektleiterin bei Siemens hat sich die Juristin Corinna-Rosa Falkenberg für einen beruflichen Wechsel entschieden und lebt jetzt als freischaffende Künstlerin, Achtsamkeitstrainerin und Autorin. Mit LTO-Karriere (Franziska Kring) spricht sie über die Beweggründe ihrer beruflichen Neuorientierung und ihren jetzigen Arbeitsalltag.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi/chr
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Die juristische Presseschau vom 18. September 2024: . In: Legal Tribune Online, 18.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55437 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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