Die juristische Presseschau vom 18. September 2019: Straf­lose Poli­zei­ge­walt? / Befan­gen­heit durch recht­li­chen Hin­weis? / Ver­fas­sungs­krise in Großbri­tan­nien?

18.09.2019

Eine Studie zu Polizeigewalt erstattet Zwischenbericht. Außerdem in der heutigen Presseschau: Befangenheit gegenüber Auswärtigem Amt am OVG Berlin-Brandenburg und bedroht das britische Brexit-Chaos die Verfassungsordnung des Landes?

Thema des Tages

Polizeigewalt: Eine unter der Leitung des Kriminologen Tobias Singelnstein unternommene Studie zu Polizeigewalt hat nun einen Zwischenbericht vorgestellt. Die Auswertung einer nicht repräsentativen Umfrage habe dabei eine erhebliche Dunkelziffer polizeilicher Übergriffe und eine ausgeprägte Nichtbereitschaft zur Anzeigenerstattung von Geschädigten ergeben. Übergriffe fänden vor allem im Umfeld von Demonstrationen und Fußballspielen statt, fasst lto.de den Zwischenbericht zusammen. In der FAZ (Marlene Grunert/Timo Steppat) kommt auch Rainer Wendt zu Wort. Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft kritisiert die Methodik der Untersuchung, vor allem die Selbstdefinition der Geschädigten "halte keiner rechtsstaatlichen Überprüfung stand".

Auch diese Verteidigungsstrategie kritisiert Markus Reuter (netzpolitik.org) in einem Kommentar. Dass Täter in Uniform weitgehend mit Straflosigkeit rechnen könnten, "schreit eigentlich nach sofortigen Reaktionen aus der Politik". Konzepte hiergegen seien vorhanden, es könne nicht eingesehen werden, warum "eine selbstbewusste, selbstkritische und demokratische Polizei" sich auch weiterhin "bis aufs Messer" gegen Maßnahmen wie eine "eindeutige und klare Kennzeichnungspflicht" wehre. Nach Meinung von Reinhard Müller (FAZ) könne man Namensschilder "kritisch sehen" und bedeute auch eine relativ hohe Einstellungsquote bei Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte "nicht automatisch", dass "etwas vertuscht wird". Gleichwohl müsse "der Bürger, für den die Polizisten ja da sind", erkennen, "wem er gegenübersteht". Mehr Offenheit schade nicht.

Rechtspolitik

EU-Urheberrechtsreform: Nach einer dem Hbl (Heike Anger) vorliegenden Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion hat das Bundesjustizministerium mit der Arbeit an einem Umsetzungsgesetz der vor einem halben Jahr beschlossenen Reform des EU-Urheberrechts begonnen, hierbei aber noch keine Lösung für die Frage der umstrittenen Uploadfilter gefunden. Unter anderem seien vom Ministerium Experten mit der Aufforderung angeschrieben worden, "konkrete Regelungstexte" für die Umsetzung vorzulegen.

Öffentlichkeitsarbeit der StA: In einer Analyse der Rechtsgrundlagen öffentlicher Mitteilungen der Staatsanwaltschaft zu laufenden Ermittlungsverfahren bemängelt die Wissenschaftliche Mitarbeiterin Julia K. Eßwein (juwiss.de) fehlende "klare Kriterien". Die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren erwähnten zwar eine Pflicht, beteiligte Grundrechtsgüter im Wege der praktischen Konkordanz miteinander in Einklang zu bringen, unterließen aber eine Nennung der hierfür relevanten Kriterien.

Anwaltschaft und Rechtsstaat: Im Gespräch mit dem FAZ-Einspruch (Helene Bubrowski) äußern sich Edith Kindermann, Präsidentin des Deutschen Anwaltvereins, und Ulrich Wessels, Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer, zur rechtsstaatlichen Funktion der Anwaltschaft, ihrer geringen Erwähnung im von der Bundesregierung beschlossenen "Pakt für den Rechtsstaat" und aktuellen Forderungen, deren Nutzen allgemein und notwendigen gesetzlichen Änderungen aus Sicht der Anwaltschaft.

Justiz

EuGH – Europäischer Haftbefehl: In Österreich ausgestellte Europäische Haftbefehle genügen den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz. Im Unterschied zur deutschen Organisation der Staatsanwaltschaft werde in Österreich ein auch von der Anklagebehörde ausgestellter Haftbefehl vorab von einem Gericht bewilligt. Dieser wesentliche Unterschied erlaube eine andere Einschätzung, so Generalanwältin Eleanor Sharpton in ihren Schlussanträgen in einem auf Vorlage des Berliner Kammergerichts am Europäischen Gerichtshof geführten Verfahren, über das lto.de (Annelie Kaufmann) berichtet.

BGH – Siegfried Mauser: In Anwesenheit des Angeklagten verhandelte der Bundesgerichtshof zur Revision von Siegfried Mauser, des erstinstanzlich wegen sexueller Nötigung in drei Fällen zu einer Haftstrafe verurteilten früheren Präsidenten der Münchner Musikhochschule. Das Gericht habe "sich nicht in die Karten schauen" lassen, schreibt die SZ (Wolfgang Janisch), dabei sei anhand der tatsächlichen Feststellungen auch eine Verurteilung wegen Vergewaltigung denkbar.

OLG Braunschweig – VW: Am 30. September beginnt am Oberlandesgericht Braunschweig die Musterfeststellungsklage zu Diesel-Manipulationen des VW-Konzerns. In Vorbereitung des Verfahrens mit 438.000 Klägern bringt das Hbl (Frank M. Drost) einen großen Überblick. In Frage-und-Antwort-Form werden das neue Verfahren der Musterfeststellungsklage, dessen Vor- und Nachteile für Verbraucher und mögliche Alternativen vorgestellt. Im Weiteren wird darauf hingewiesen, dass Kläger auch im Erfolgsfall und einem stattgebenden Schadensersatzurteil eine Nutzungsentschädigung zu leisten hätten. Die taz (Anja Krüger) thematisiert die Vergleichsbereitschaft der Streitparteien.

OVG BE-BB – IS-Rückkehrerin: In einem beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg anhängigen Beschwerdeverfahren über die Verpflichtung der Bundesrepublik, auch die als IS-Anhängerin identifizierte deutsche Mutter dreier Kinder nach Deutschland zu holen, ist nach einem lto.de (Markus Sehl) vorliegenden Beschluss vom Anfang des Monats der berichterstattende Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ausgewechselt worden. Der vom Auswärtigen Amt beanstandete Richter hatte die eingelegte Beschwerde "wohl unter keinem erdenklichen rechtlichen Gesichtspunkt" für begründet gehalten und dem Ministerium angeraten, Rücksprache mit den Referaten Grundrechte und Menschenrechte des Bundesjustizministeriums zu halten, weil man dort "zumindest mit den hier einschlägigen Grundlagen des Verfassungs- und Völkerrechts vertraut" sei.

OVG NRW zu Demo-Aufnahmen: Die Anfertigung von Fotos von Demonstrationsteilnehmern zum Zwecke der polizeilichen Öffentlichkeitsarbeit stellt einen Eingriff in das Versammlungsgrundrecht dar, für den es keine gesetzliche Grundlage gibt. Dies entschied das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster nach Bericht von lto.de. Über das die Entscheidung der Vorinstanz bestätigende Urteil berichten auch FAZ (Reiner Burger) und lawblog.de (Udo Vetter).

LSG Hessen zu Klassenfahrt-Unfall: Ein Sturz infolge eines epileptischen Anfalls ist auch dann nicht gesetzlich unfallversichert, wenn er auf einer Klassenfahrt geschieht. Notwendig sei vielmehr ein Zusammenhang mit der Schülereigenschaft des Verletzten. Dies entschied nach Meldung von spiegel.de das Hessische Landessozialgericht.

LG Mannheim zu Patent-Streit: Das Landgericht Mannheim wies die Klage des hauptsächlich von ARD und ZDF betriebenen Instituts für Rundfunktechnik (IRT) mit einer Forderung von 280 Millionen Euro ab. Das IRT hatte geltend gemacht, von einer italienischen Patentverwertungsfirma bei der gemeinsamen Verwertung einer hochrentablen Technologie übervorteilt worden zu sein, erläutert die SZ (Kathrin Müller-Lancé). Mit einem ursprünglich ebenfalls beklagten Anwalt habe man sich auf einen Vergleich in Höhe von 60 Millionen Euro verständigt.

LG Duisburg zu Volksverhetzung: zeit.de (Dennis Pesch) schreibt über ein am Landgericht Duisburg geführtes Berufungsverfahren gegen einen Holocaust-Leugner, der seinen Auftritt vor Gericht dafür genutzt habe, auch weiter rechtsextreme Propaganda zu betreiben.

AG Sonthofen – Kirchenasyl: Weil er einen Strafbefehl wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt nicht akzeptieren wollte, muss sich ein evangelischer Pfarrer am heutigen Mittwoch vor dem Amtsgericht Sonthofen verantworten. Die Verhandlung könnte "so etwas wie der Präzedenzfal" zur umstrittenen Rechtmäßigkeit des sogenannten Kirchenasyls sein, mutmaßt die SZ (Florian Fuchs).

StA Köln – Cum-Ex: Die nordrhein-westfälische Justiz erhöht ihre Ermittlungsanstrengungen zum Komplex Cum-Ex-Steuerdeals. So werde die Zahl der Stellen für die Bearbeitung der Verfahren auf zehn verdoppelt, schreibt lto.de über eine Pressekonferenz der zuständigen Oberstaatsanwälte und von Justizminister Peter Biesenbach (CDU). Bei der Schwerpunktstaatsanwaltschaft Köln seien mittlerweile 56 Verfahren mit rund 400 Beschuldigten anhängig. bloomberg.com (Karin Matussek) hat Einsicht in den von der Staatsanwaltschaft erwirkten Durchsuchungsbeschluss gegen die Deutsche-Börse-Tochter Clearstream nehmen können und berichtet hierzu (in englischer Sprache), dass die Ermittler auch einem Verdacht auf Bildung einer kriminellen Vereinigung nachgingen.

Recht in der Welt

EU – Ungarn: Im nächsten Schritt des von der EU eingeleiteten Rechtsstaatlichkeitsverfahren hat sich Ungarn einer offiziellen Anhörung im EU-Ministerrat stellen müssen. Als kommender Schritt stehe eine Abstimmung im Ministerrat über die "eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" von Grundwerten der EU an, schreibt lto.de.

EuG – Apple-Rulings: Die nun am Gericht der Europäischen Union begonnene Verhandlung zur Rechtmäßigkeit von irischen Steuervergünstigungen an den Apple-Konzern beschreibt die SZ (Björn Finke) auch als persönlichen Kampf von Margrethe Vestager, der zukünftigen Exekutiv-Vizepräsidentin der EU-Kommission. Sollte das Gericht der von ihr vertretenen Auffassung, bei den Nachlässen handele es sich um unionsrechtswidrige Beihilfen, nicht folgen, hätte dies nachteilige Folgen für "das Sieger-Image der Dänin", die sich künftig auch um die Regulierung der Internetbranche kümmern solle. Die Fakten des Verfahrens fasst tagesschau.de (Christoph Kehlbach) zusammen.

Großbritannien – Parlamentspause: Am Londoner Supreme Court begann der auf drei Verhandlungstage terminierte Prozess über die Rechtmäßigkeit der von Premierminister Boris Johnson veranlassten fünfwöchigen Parlamentspause. Die Präsidentin des Gerichts habe dabei zu Beginn der Verhandlung klargestellt, dass keine Entscheidung über den Brexit gefällt würde, so der Bericht der SZ (Cathrin Kahlweit). In ihren Eröffnungsstatements legten im Anschluss Kläger- und Beklagtenvertreter dar, warum die sogenannte "prorogation" oder Zwangspause eine justitiable Frage sei bzw. warum nicht. Die Berichte von taz (Dominic Johnson) und lto.de gehen auf die vorangegangenen, divergierenden Entscheidungen der Vorinstanzen ein, die Welt (Stefanie Bolzen) beschreibt auch die aufgeladene politische Stimmung im Land.

Eine vertiefte Analyse von zeit.de (Bettina Schulz) erläutert die Inhalte der verschiedenen anhängigen Klagen. In einem Gastbeitrag für zeit.de legt Rechtsprofessor Mark Dawson dar, dass im vergangenen Monat die "zwei Säulen" der britischen Verfassungsordnung auseinandergebrochen seien. Deren Funktionieren beruhe auf der Annahme der Einhaltung von Regeln durch die politischen Akteure. Sollte das Gericht nun im Sinne der Regierung urteilen, würde "ein folgenschwerer Präzedenzfall" geschaffen.

USA – Opioide: Nach Bericht der taz (Felix Lee) beabsichtigt die Eigentümerfamilie des US-amerikanischen Pharmakonzerns Purdue, drohende Strafzahlungen wegen der mutmaßlich vom Konzern mitverursachten Opioid-Krise im Lande durch einen Antrag auf Gläubigerschutz zu deckeln. Mit Hilfe einer Besonderheit des nationalen Insolvenzrechts sollten mögliche Zahlungen bis zu einer Höhe von zehn Milliarden über eine zu gründende Stiftung abgewickelt werden. In einem separaten Kommentar fordert Felix Lee (taz), die Eigentümerfamilie nicht nur finanziell zu belangen. Wenn Kleindealer "absurd hohe Strafe" absäßen, müsse dies "auch für den Sackler-Clan gelten".

USA – Edward Snowden: Die US-Regierung will sich durch eine Klage an den Einnahmen dem nun veröffentlichten Buch Edward Snowdens beteiligen, schreibt spiegel.de. Der Whistleblower habe mit der Veröffentlichung gegen Vertraulichkeitsvereinbarungen verstoßen. Nach Ansicht von Joachim Käppner (SZ) ist es "nicht nur traurig, sondern auch beschämend", dass sich nach wie vor kein EU-Staat zur Aufnahme Snowdens bereit erklärt hat.

Sudan – Omar al-Bashir: In einer Reportage über den Strafprozess gegen den gestürzten Diktator Omar al-Bashir beschreibt die Welt (Christian Putsch) die Bemühungen der aus Zivilisten und Militärs gebildeten Übergangsregierung des Sudan, den fragilen Frieden im Lande aufrechtzuerhalten. So sei nicht zu erwarten, dass sich der Angeklagte in Bälde wegen der massenhaften Tötungen in Darfur verantworten müsse.

Sonstiges

Forschungsvorhaben Eingangszahlen: lto.de weist auf ein vom Bundesjustizministerium geplantes Forschungsvorhaben zu den Gründen stetig sinkender Eingangszahlen bei den Zivilgerichten erster Instanz hin. Noch bis Mitte Oktober könne sich beworben werden für die Durchführung einer Studie, die "verschiedene Forschungsmethoden" vereinen und dabei unter anderem Akteure, aber auch "die rechtssuchende Bevölkerung" befragen und Gerichtsakten auswerten solle. Ebenfalls erforscht werden solle ein möglicher Zusammenhang fallender Eingangszahlen bei gleichzeitigem Anstieg der durchschnittlichen Verfahrensdauer sowie der Einfluss alternativer Streitbeilegungsmodelle. Sowohl Deutscher Anwaltverein als auch Deutscher Richterbund forderten seit Jahren eine derartige "unmet-legal-needs"-Studie.

 

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lto/mpi

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 18. September 2019: Straflose Polizeigewalt? / Befangenheit durch rechtlichen Hinweis? / Verfassungskrise in Großbritannien? . In: Legal Tribune Online, 18.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37685/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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