Die juristische Presseschau vom 18. August 2021: Polen ant­wortet wegen Dis­zi­p­li­nar­kammer / LG Köln zu Video­über­wa­chung im Sta­dion / Af­gha­nistan-Rück­ho­lung und Recht

18.08.2021

In der Auseinandersetzung über die Disziplinarkammer antwortet Polen der EU-Kommission fristgerecht, aber unkonkret. LG Köln stößt sich an anlasslosen polizeilichen Videoaufnahmen im Stadion und Rechtliches zur Evakuierung aus Afghanistan.

Thema des Tages

Polen – Justizreform/Disziplinarkammer: Die polnische Regierung hat in einem Schreiben an die EU-Kommission mitgeteilt, die umstrittene Disziplinarkammer abschaffen zu wollen, terminliche Details jedoch nicht mitgeteilt. Auch fehlten Angaben zur Umsetzung des Urteils und der einstweiligen Anordnung des Europäischen Gerichtshofs, schreiben FAZ (Thomas Gutschker), taz (Gabriele Lesser) und LTO. Der Rechtswissenschaftler Jakub Jaraczewski spricht mit der Welt (Philipp Fritz) über die Eskalationsstufen des Konflikts zwischen EU und Polen, macht darauf aufmerksam, dass auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in diesem Jahr mehrfach gegen Polen geurteilt hat und weist schließlich darauf hin, dass das polnische Verfassungsgericht in einer für den 31. August terminierten Entscheidung urteilen könnte, dass polnisches Recht mit Unionsrecht "überhaupt nicht" vereinbar sei.

Rechtspolitik

Insolvenzantragspflicht/Hochwasser: Hochwassergeschädigte Unternehmen sollen nach dem Willen der Bundesregierung bis Ende Januar von der Pflicht befreit werden, bei drohender Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag zu stellen. Voraussetzung sei, dass die wirtschaftliche Notlage auf der Flutkatastrophe beruhe, gibt das Hbl (Heike Anger) Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) wieder. Über das Vorhaben solle in einer Bundestags-Sondersitzung in der kommenden Woche beraten werden. Es sei aktuell noch unklar, ob es bereits bei dieser Gelegenheit oder erst in der Sitzung vom 7. September zur Verabschiedung komme.

Tarifeinheit: Aus Anlass des jüngsten Lokführerstreiks rekapituliert der Ökonom Gerd Grözinger auf dem Verfassungsblog den Weg zum aktuellen Tarifeinheitsgesetz. Dessen erklärtes Ziel, den Einfluss von Spartengewerkschaften zugunsten der im Betrieb mitgliederstärksten Gewerkschaft zurückzudrängen, sei nicht erreicht worden. Zum einen sei es Arbeitgebern überlassen, über Abspaltungen von Organisationseinheiten den jeweiligen "Betrieb" beliebig zu definieren, um gewünschte Mehrheiten sicherzustellen. Zum anderen würde gerade bei knappen Mehrheitsverhältnissen die Konkurrenz zwischen Gewerkschaften angeheizt. Als Alternative böte sich ein entsprechend den Mitgliedsverhältnissen gewichtetes Losverfahren an, durch das festgelegt wird, welche Gewerkschaft für einen festgelegten Zeitraum pro Betrieb tariffähig ist.

Klagetool: Das Bundesjustizministerium möchte den digitalen Zugang zu den Gerichten erleichtern und hat in Umsetzung eines entsprechenden JuMiKo-Beschlusses die Entwicklung eines Online-Klagetools in Auftrag gegeben. Nach Bericht von LTO solle ein Prototyp für mietrechtliche Ansprüche bereits in zwölf Wochen vorliegen.

Ökozid am IStGH: Dem Vorschlag einer zivilgesellschaftlichen Initiative, Umweltzerstörungen mittels eines neuen Straftatbestandes "Ökozid" im Römischen Statut zu ahnden, steht der in Dänemark lehrende Rechtsprofessor Kevin Jon Heller "ambivalent" gegenüber. Im Interview mit spiegel.de (Nicola Abe) erläutert der Experte für internationales Recht seine Bedenken. Bereits die Realisierung sei chancenlos, darüber hinaus würde die aktuelle Entwurfsversion eine Kosten-Nutzen-Abwägung umweltzerstörerischer Handlungen befördern und damit eine tatsächliche Verurteilung so gut wie unmöglich machen. Sinnvoller wäre es, unnötige Umweltschädigungen den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuzuordnen.

Corona – Kinderimpfung: Nach der nun erfolgten allgemeinen Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission auch für Kinder untersuchen die Rechtsreferendar:innen Ann Katrin Isermeyer und Timm Düwel im FAZ-Einspruch denkbare rechtliche Probleme. Die für jeden medizinischen Eingriff erforderliche Einwilligungsfähigkeit sei nach gefestigter Rechtsprechung an keine starre Altersgrenze gebunden. Überwiegend werde sie jedoch 16-Jährigen zuerkannt. Bei fehlender Einwilligungsfähigkeit sei die Einwilligung der Sorgeberechtigten einzuholen. Besteht unter diesen Uneinigkeit, müsse ein Familiengericht auf Antrag die fehlende Zustimmung ersetzen. Der Impfwunsch eines Kindes gegen den Willen beider Sorgeberechtigter dürfte dagegen praktisch, aber auch juristisch kaum durchsetzbar sein.

Justiz

LG Köln zu Videoüberwachung im Fußballstadion: Anlasslose polizeiliche Videoaufnahmen von Fußballfans greifen nach Ansicht des Landgerichts Köln ungerechtfertigt in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Aufgenommenen ein. Der dem Beschluss von Anfang April zugrundeliegende Sachverhalt betraf ein Regionalligaspiel, bei dem Schmähgesänge in Richtung anwesender Polizeikräfte zu vernehmen waren, erläutert LTO (Hasso Suliak). Nach Freisprüchen in der ersten Instanz habe das LG die präsentierten Videoaufnahmen mit einem Beweisverwertungsverbot belegt, weil die anlasslosen Aufnahmen als vorsätzlicher oder zumindest grob fahrlässiger Verstoß gegen Polizeirecht gewertet wurde. Auch wenn es legitim sei, dass der Staat seine Polizei vor "Insultationen grobschlächtiger Leute" zu schützen gedenke, rechtfertige dies nicht längere und wiederholte Aufnahmen ohne jeden hinreichenden Anlass.

BVerfG – Corona-Maßnahmen: Das Bundesverfassungsgericht hat Eingangs- und Erledigungszahlen zu Eilanträgen gegen coronabedingte Freiheitsbeschränkungen bekanntgegeben. Seit Beginn der Pandemie bis Ende Juli sei lediglich zwei von 124 reinen Eilanträgen Erfolg beschieden gewesen, schreiben FAZ (Corinna Budras) und LTO. Bei den erfolgreichen Eilanträgen ging es um Demonstrations- und Gottesdienstverbote. Thematischer Schwerpunkt der häufig auch mit Verfassungsbeschwerden verbundenen Anträge seien Bestimmungen der im Frühjahr beschlossenen Bundes-Notbremse gewesen.

BGH zu Inkasso-Sammelklage: Der Bundesgerichtshof hat die Gründe seines bereits Mitte Juli verkündeten Urteils zur Zulässigkeit der gebündelten Vertretung von Schadensersatzansprüchen mehrerer Kunden durch einen Inkassodienstleister veröffentlicht. Der II. Zivilsenat habe nun den Begriff der erlaubten Rechtsdienstleistung noch weiter gefasst als der VIII. Zivilsenat in seiner wenigermiete.de-Entscheidung vom November 2019, analysiert Rechtsanwalt Martin W. Huff auf LTO. Weder dem Wortlaut noch der Systematik der entsprechenden Bestimmungen des Rechtsdienstleistungsgesetzes ließe sich entnehmen, dass Geschäftsmodelle, die ausschließlich auf der gerichtlichen Einziehung von Forderungen beruhten, unzulässige Inkassoformen seien oder deren Bearbeitung ausschließlich der Anwaltschaft vorbehalten sei. Über die von der klagenden Airdeal GmbH gesammelten Ansprüche früherer Air Berlin-Kunden müsse daher das Berliner Kammergericht erneut entscheiden.

BGH zu Lindt-Goldhase: Ende Juli urteilte der Bundesgerichtshof, dass Schokoladenhasen der Firma Lindt wegen des besonderen Goldtons ihrer Verpackung Markenschutz genießen. Im Recht und Steuern-Teil der FAZ erläutert Rechtsanwältin Julia Luther die Entscheidung und macht darauf aufmerksam, dass im zugrundeliegenden Verfahren nun noch das Oberlandesgericht München zu prüfen habe, ob eine beklagte Konkurrenzfirma die Lindt-Marke durch die eigene Verwendung einer goldenen Folie verletzt habe.

BGH zu Berufungsbegründungsfrist: Im Streit über eine ein Fristversäumnis auslösende, missverständlich formulierte Aktennotiz eines Anwalts hat der Bundesgerichtshof Mitte Juni eine Entscheidung der Vorinstanz aufgehoben. Entscheidend für die Einordnung als sorgfaltspflichtwidrig sei nicht die abstrakte Eignung der Notiz, Verwirrung zu schaffen, sondern die konkreten Umstände der jeweiligen Büroorganisation. Nach diesen sei die fragliche Notiz nicht als Arbeitsanweisung an die betreffende Mitarbeiterin zu verstehen gewesen. Auch community.beck.de (Oliver Elzer) berichtet nun über diese Entscheidung.

BGH – NSU: Vor der für den morgigen Donnerstag angekündigten Mitteilung des weiteren Fortgangs der gegen das NSU-Urteil des Oberlandesgerichts München eingelegten Revisionen durch den Bundesgerichtshof schreibt die taz (Konrad Litschko), dass für André Eminger "am meisten auf dem Spiel" stehe. Seine Verurteilung wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bezog sich auf einen verhältnismäßig späten Zeitraum von NSU-Aktivitäten. Dass ihm das OLG zu früheren Zeiträumen einen lediglich "sporadischen" Kontakt zum NSU-Trio unterstellte, werde von der Bundesanwaltschaft in ihrer Revisionsbegründung heftig kritisiert. Er müsse wohl von den Banküberfällen des Trios gewusst haben.

DFB-Sportgericht zu VfL Wolfsburg: Der Bundesligaverein VfL Wolfsburg hat gegen seinen vom DFB-Sportgericht wegen eines Wechselfehlers verhängten Ausschluss vom laufenden DFB-Pokal fristgerecht Berufung zum DFB-Bundesgericht eingelegt, berichtet bild.de (Kevin Schwank). Die Chancen dürften gering sein, schätzt Johannes Aumüller (SZ). Schon das Versäumnis, die "genauen Regeln eines Wettbewerbs" zu kennen, ließe den Ausschluss gerechtfertigt erscheinen. Andererseits erfordere die Wertung eines sportlich gewonnenen Spiels als verloren nach den Buchstaben der Bestimmungen den Einsatz nicht spiel- oder einsatzberechtigter Akteure und damit bei Lichte betrachtet einen anderen Fall.

Recht in der Welt

Polen – Holocaust-Forschung: Ein Warschauer Berufungsgericht hat die Verurteilung der Holocaust-Forschenden Barbara Engelking und Jan Grabowski wegen Verleumdung aufgehoben. Grundlage der erstinstanzlichen Verurteilung waren angeblich sachlich falsche Passagen eines Buches zum Schicksal polnischer Juden während der deutschen Besatzung. Die Verwandte eines Dargestellten hatte hierin die Verletzung ihres nationalen und familiären Stolzes erkannt. Die jetzige Aufhebung des Urteils wurde damit begründet, dass ein Gerichtssaal nicht der richtige Ort für eine historische Debatte sei, schreibt die taz (Gabriele Lesser). Die SZ (Florian Hassel) porträtiert die renommierte Historikern Engelking und berichtet, dass die die Anzeige unterstützende Stiftung bereits den Antrag zur Aufhebung des Freispruchs beim Obersten Gericht angekündigt habe.

Spanien – Rückführung Minderjähriger: Ein Gericht der spanischen Exklave Ceuta hat die vor kurzem begonnenen Rückführungen minderjähriger marokkanischer Flüchtlinge von Spanien nach Marokko vorläufig ausgesetzt. Es bestünden Zweifel an der "Rechtmäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen", gibt die SZ (Karin Janker) die Eilentscheidung wieder.

Spanien – Justiz: Die FAZ (Hans-Christian Rößler) beleuchtet eine fortwährende politische Blockade bei ausstehenden Neubesetzungen von Spitzenpositionen im spanischen Justizapparat. So sei das Mandat des wichtigsten Justizgremiums, des Generalrats der rechtsprechenden Gewalt, bereits 2018 abgelaufen, auch im Verfassungsgericht würden Richter auch nach Ablauf ihrer Amtszeit verbleiben. Die meisten der Neubesetzungen erforderten eine Dreifünftelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments. Der früheren Regierungspartei Partido Popular sei somit de facto ein – von ihr auch so ausgenutztes – Vetorecht eingeräumt.

USA – SpaceX/Blue Origin: Das vom Amazon-Gründer geleitete Raumfahrtunternehmen Blue Origin greift mit einer Klage gegen die US-Regierung die Vergabe eines milliardenschweren Auftrags der Raumfahrtbehörde NASA an. Diese hatte im Frühjahr einen Auftrag zur Entwicklung einer Mondlandefähre an den von Elon Musk geleiteten Konkurrenten SpaceX vergeben. Blue Origin behaupte nun "Fehler im Akquisitionsprozess", berichtet die FAZ (Roland Lindner) im Unternehmens-Teil.

USA – Bob Dylan: Der US-amerikanische Sänger und Literaturnobelpreisträger Bob Dylan ist in New York wegen vermeintlicher sexueller Übergriffe gegenüber einem 12-jährigen Mädchen im Jahr 1965 verklagt worden. Dylan bestreitet die Vorwürfe. Die SZ (Jürgen Schmieder) schreibt, dass die jetzige Klage im Zusammenhang mit einem Gesetz von 2019 stehe, das die Verjährungsfrist bei Kindesmissbrauch für zwei Jahre aufhob und am vergangenen Wochenende auslief. Zeitgleich mit Dylan seien auch die Sängerin Nicki Minaj und der Komiker Horatio Sanz verklagt worden.

Sonstiges

Evakuierung aus Afghanistan: In einem ausführlichen Gastbeitrag fasst der akademische Mitarbeiter Simon Gauseweg auf LTO die rechtlichen Implikationen möglicher Evakuierungen aus Afghanistan zusammen. Während das völkerrechtliche Gewaltverbot die Entsendung bewaffneter Truppen grundsätzlich ausschließe, dürfte die Rettung deutscher Staatsangehöriger und Angehöriger verbündeter Staaten angesichts des in Afghanistan herrschenden Notstandes völkerrechtlich gerechtfertigt sein, wenngleich die zumindest nachträgliche Zustimmung des Bundestages erforderlich sein dürfte. Der Aufenthaltsstatus geretteter Nicht-Deutscher lasse sich durch die im Aufenthaltsgesetz vorgesehene Ausnahmebefugnis des Innenministeriums absichern.

Vertragsverletzungsverfahren/EZB-Urteil: Werner Mussler (FAZ) meint in einem Kommentar im Wirtschafts-Teil, dass die EU-Kommission gut beraten wäre, sich mit der jüngsten Stellungnahme der Bundesregierung im Vertragsverletzungsverfahren wegen des EZB-Urteils des Bundesverfassungsgerichts "zufriedenzugeben". Die deutsche Antwort sei keineswegs "juristisch brillant" gewesen. Sie biete aber eine hinreichende Möglichkeit, eine "weitere Eskalation zu vermeiden". Die Verantwortung für den Konflikt liege jedenfalls in Karlsruhe, wo man sich für die Klärung der "verfassungsrechtlichen Grenzen der EU und ihrer Organe" mit der europäischen Geldpolitik ein "verfassungsrechtlich besonders schwer zugängliches" Thema ausgesucht habe.

Anwaltsranking: Über den Stellenwert und die Aussagekraft sogenannter Anwaltsrankings oder auch Bestenlisten spricht beck-aktuell (Tobias Freudenberg/Monika Spiekermann) mit Rechtsanwalt Marcus C. Funke. Der frühere Partner einer internationalen Großkanzlei und jetzige Chief Legal & Strategy Officer des Legal Tech-Unternehmens RightNow spricht über eigene "Ranking-Erfahrungen" und erläutert verschiedene methodische Ansätze der Ermittlung solcher Listen.

 

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lto/mpi

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 18. August 2021: Polen antwortet wegen Disziplinarkammer / LG Köln zu Videoüberwachung im Stadion / Afghanistan-Rückholung und Recht . In: Legal Tribune Online, 18.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45759/ (abgerufen am: 17.04.2024 )

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