Ist es richtig, dass die Versammlungsfreiheit auch ein Nazi-Konzert schützt? Außerdem in der Presseschau: OLG Stuttgart erlaubt Verwertung von Dashcam-Aufzeichnungen und bedeutet die polnische Justizreform das Ende des Rechtsstaats?
Thema des Tages
Versammlungsfreiheit: Am vergangenen Wochenende fand im thüringischen Themar ein von knapp 6.000 Neonazis besuchtes Musikfestival unter dem Motto "Rock gegen Überfremdung" statt. Warum die Veranstaltung unter Verweis auf die Versammlungsfreiheit durch die thüringische Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht verboten wurde, legt taz.de (Christian Rath) dar. Dem von Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) unterbreiteten Vorschlag, Rechtsvorschriften "zu präzisieren", um eine Handhabe gegen derartige Veranstaltungen zu haben, räumt die SZ (Wolfgang Janisch/Cornelius Pollmer) nur geringe Chancen ein. Es seien zwar Details des Versammlungsrechts Ländersache, der Vorschlag aber ziele auf den Kern der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit. Bei Verboten komme "es am Ende immer auf den Einzelfall an", in dem geprüft werden müsse, ob "eine angeblich politische Botschaft nur ein durchsichtiger Vorwand für ein bizarres Extremistenfest" sei.
Torsten Krauel (Welt) behauptet im Leitartikel, dass die Besucher des Festivals "schlau genug" waren, "sich friedlich zu verhalten". Ein polizeiliches Eingreifen wäre nur bei einer zu beweisenden "akuten Gefährdung" der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt gewesen. Ramelows Vorschlag ziele darauf, "Gesetze so hinzubiegen, dass Richter Meinungen bestrafen sollen statt Taten". Dies sei willkürlicher "DDR-Geist" und verfassungswidrig. "Gewalt, Bedrohung und andere Straftaten" müssten nach dem Kommentar von Helene Bubrowski (FAZ) "unabhängig von der Gesinnung der Täter" bestraft werden, nur so bleibe die Demokratie wehrhaft. Nach Christian Rath (taz) wäre es widersinnig, einen engen Versammlungsbegriff gegenüber Rechten zu vertreten und gleichzeitig linken Veranstaltungen einen erweiterten Versammlungsbegriff zuzuerkennen. "Wer anderen die Versammlungsfreiheit nicht gönnt, schneidet sich am Ende meist ins eigene Fleisch." Der Vergleich zwischen Hamburg und Thüringen wird von Till Eckert (zeit.de) ganz bewusst angestellt. Dass die örtliche Polizei mitteile, in Themar alles im Griff gehabt zu haben, während Festivalbesucher ungestört "Sieg Heil" skandieren durften, sei "ein fatales Signal".
Rechtspolitik
Algorithmen: Ein Hintergrund-Artikel im Technik-und-Motor-Teil der FAZ (Michael Spehr) erklärt die Funktionsweise von Algorithmen u.a. im Social-Media-Bereich und geht auch auf die von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sowie der Bundeskanzlerin erhobenen Forderungen nach Offenlegung der von Internetplattformen verwendeten Systeme ein. Die Tücke liege hier im technischen Detail. Würden Facebook und Google ihre Algorithmen offenlegen, würde letztlich "jeder mit den gleichen Tricks auf die besten Plätze größter Sichtbarkeit streben". Es sei nötig, über Spielregeln und Grenzen der Systeme zu diskutieren und Konzerne zu zwingen, darzulegen, dass die von ihnen verwendeten Algorithmen so funktionierten wie behauptet.
"Ehe für alle": Die Ausfertigung des Gesetzes zur Öffnung der Ehe für Partner gleichen Geschlechts werde womöglich noch in diesem Monat erfolgen. Das Bundespräsidialamt gehe von einer durchschnittlichen Prüfungszeit aus, meldet der Tsp (Jost Müller-Neuhof).
Elternschaft: In einer vertieften Analyse diskutiert der Tsp (Jost Müller-Neuhof) einige der wegen fortpflanzungsmedizinischer Fortschritte möglichen rechtlichen Neubestimmungen des Elternbegriffs.
Justiz
EGMR – Deniz Yücel: Zu der von Deniz Yücel beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unter anderem wegen eines Verstoßes gegen das Folterverbot und das Verbot unmenschlicher Behandlung eingelegten Individualbeschwerde wird die Bundesregierung eine Stellungnahme abgeben. Die Forderung nach einem rechtsstaatlichen Verfahren solle dabei sehr deutlich gemacht werden, hat Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) der Welt erklärt.
BVerfG zu "ACAB": Den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu den Voraussetzungen einer strafbaren Beleidigung von Polizisten durch Verwendung des Kürzels "ACAB" von Mitte Juni liest sich für Udo Vetter (lawblog.de) als "Gebrauchsanweisung" für Polizisten, "sofern sich diese beleidigt fühlen wollen". Im zugrunde liegenden Strafurteil sei hinreichend genau beschrieben worden, "was auf jeden Fall in einer ACAB-Anzeige drin zu stehen hat".
OLG Stuttgart zu Dashcam: Als erstes Obergericht hat das Oberlandesgericht Stuttgart in einem Schadensersatzstreit die Bilder einer sogenannten Dashcam als zulässiges Beweismittel herangezogen. Der Eingriff in die Privatsphäre Gefilmter sei relativ gering, gibt die SZ (Wolfgang Janisch) das Gericht wieder. Zudem müsse im öffentlichen Raum jedermann damit rechnen, gefilmt oder fotografiert zu werden. Zu einer Prüfung durch den Bundesgerichtshof werde es nicht kommen, da sich die Parteien schließlich vergleichsweise geeinigt hätten.
LG Stuttgart – Schlecker: Im Verfahren gegen Anton Schlecker und seine Kinder wurde vor dem Landgericht Stuttgart der Insolvenzverwalter des Unternehmens vernommen. Dabei wurden nach den Berichten von SZ (Stefan Mayr) und Hbl (Martin Buchenau) in einiger Ausführlichkeit erarbeitete und schließlich gescheiterte Rettungsszenarien vorgestellt. Der Zeuge beschrieb zudem die Vergleichsvereinbarung mit der Schlecker-Familie aus dem November 2012, durch den die jetzigen Angeklagten rund zehn Millionen Euro an ihn zurückzahlten. Der Firmen-Patriarch sei auf jeden Fall "unvorbereitet" in die Insolvenz gegangen.
LG Frankfurt/M. – Lasermann: Auch die SZ (Susanne Höll) berichtet nun über den Fall des als Lasermann bekannt gewordenen schwedischen Rechtsextremen, der nach Ansicht der Staatsanwaltschaft im Jahr 1992 in Frankfurt eine Garderobenfrau erschossen haben soll. Das Landgericht müsse noch über die Eröffnung der Hauptverhandlung entscheiden.
LG Berlin zu BRH-Anträgen: Unter anderem wegen gewerbsmäßigem Betrug und Missbrauchs von Berufsbezeichnungen hat das Landgericht Berlin einen Mann zu annähernd drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, der als vermeintlicher Anwalt selbst gefertigte Beratungshilfeanträge eingereicht hatte. Besonders erfolgreich sei er hierbei nicht gewesen, schreibt bild.de (Karin Hendrich). Nach eigener Darstellung habe er vor allem etwas darstellen wollen. An seinem Plan, Jura zu studieren, halte er fest.
VG Stuttgart – Dieselfahrverbot: Am morgigen Mittwoch verhandelt das Verwaltungsgericht Stuttgart zu einer Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gegen den Luftreinhalteplan der baden-württembergischen Landeshauptstadt aus dem Jahr 2013. Die DUH strebe dabei vor allem Dieselfahrverbote an, erläutert die taz (Christian Rath). Diese seien ursprünglich auch vom beklagten Land erwogen worden. Mittlerweile vertrete man dort aber die Ansicht, dass über die hierdurch praktisch eingerichteten Fahrverbotszonen nur der Bund entscheiden dürfe. Diese Frage beschäftige derzeit auch das Bundesverwaltungsgericht in einem Düsseldorfer Fall. Mit einer Entscheidung in Leipzig sei aber erst Anfang des kommenden Jahres zu rechnen.
AG Luckenwalde – Kopftuch: In einer Scheidungssache vor dem Amtsgericht Luckenwalde hat das Gericht der muslimischen Ehefrau gegenüber verfügt, nicht mit Kopftuch zu erscheinen. Dass dies mit der sitzungspolizeilichen Generalklausel begründet wurde, halten Rechtsprofessor Klaus F. Gärditz und die Wissenschaftliche Mitarbeiterin Maria Geismann auf lto.de für falsch, weil das Tragen eines Kopftuchs offensichtlich keine Störung der Sitzungsordnung darstelle. Die Anordnung stehe auch im Widerspruch zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nach der eine Kopftuch tragende Teilnehmerin nicht aus dem gerichtlichen Zuschauerraum verwiesen werden dürfe. Die dort genannten Maßstäbe müssten erst recht gegenüber der Partei eines Rechtsstreits gelten.
Asylrecht: Auch das Hbl (Heike Anger) berichtet nun über die anhaltend hohe Belastung von Verwaltungsgerichten durch Asylklagen. Jüngste Gesetzesänderungen zur erleichterten Abschiebung von Ausreisepflichtigen hätten keinen merkbaren Rückgang bewirkt, zitiert der Beitrag den Vorsitzenden des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter, Robert Seegmüller.
Recht in der Welt
Polen – Justizreform: Die jüngst vom polnischen Parlament beschlossenen Maßnahmen zur Reform des Justizwesens sind nun auch Thema einer vertieften Analyse des Doktoranden Oscar Szerkus auf lto.de. Reinhard Müller (FAZ) erinnert im Leitartikel daran, dass auch in anderen Ländern versucht werde, politischen Einfluss auf die Justiz zu nehmen und trotz Selbstverwaltung der Justiz "nicht alles zum Besten" stehe. In Deutschland spiele "spätestens von einer bestimmten Ebene an die Politik herein". Demokratische Rückkopplung könne zum Missbrauch führen, gerade deshalb sei es wichtig, "dass die politische Einflussnahme in den Bahnen der Verfassung" verlaufe. Auch eine große, verfassungsändernde Mehrheit habe nicht das Recht, "sich die Justiz untertan zu machen". Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit durch die Sicherung der Gewaltenteilung sei keine innere Angelegenheit Polens.
USA – Patentrecht: Die im vergangenen Monat ergangene Entscheidung des US-amerikanischen Supreme Court zur sogenannten Erschöpfung von Patentrechten durch den Verkauf von Produkten auch außerhalb des Landes begrüßt Rechtsanwalt Christian Harmsen in einem Gastbeitrag für das Hbl. Während die jetzige Regierung Freihandel und Globalisierung bei jeder Gelegenheit bekämpfe, breche das Gericht "eine Lanze für die globalen Märkte". So funktioniere demokratische Gewaltenteilung.
Sonstiges
Gläserne Gesetze: Die taz (Dinah Riese) berichtet über die Kampagne "Gläserne Gesetze", die nun die Ankündigung der Bundesregierung erreicht habe, rund 17.000 Dokumente zu Gesetzgebungsverfahren online stellen zu wollen. Hierdurch solle der Einfluss von Lobbyisten sichtbar gemacht werden. Das Bundesjustizministerium veröffentliche entsprechende Daten bereits seit April 2016. Nach dem Bericht der FAZ (Mona Jaeger) ist die vollständige Veröffentlichung aller Dokumente noch offen. Einschränkungen seien sowohl bei berührten Sicherheitsinteressen im Sinne des Informationsfreiheitsgesetzes als auch zum Schutz geistigen Eigentums möglich. Die Kampagne fordere im nächsten Schritt die Einrichtung eines Lobbyregisters.
Heiko Maas: Auf Einladung der Technischen Universität hat Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) in Dresden seine Position zum neuen Netzwerkdurchsetzungsgesetz dargelegt. Der Auftritt wurde von lautstarken Protesten vor dem Veranstaltungsort begleitet, schreibt zeit.de (Doreen Reinhard).
Das Letzte zum Schluss
Party-Hauptstadt: Vor den Hamburger G-20-Ausschreitungen erregten die Feier-Gewohnheiten Berliner Polizisten das öffentliche Interesse. Zerknirschten Worten des Sprechers der Ordnungshüter in der Hauptstadt folgte nun eine Nachricht für den Dienstgebrauch vom Polizeipräsidenten persönlich. Um "nicht an einer Verfestigung des Partybullen-Images aktiv mitzuwirken", mögen betreffende Beamte doch auf die Verwendung eines auf die Vorfälle anspielenden "Wappens" verzichten. Die Welt (Michael Pilz) berichtet.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 18. Juli 2017: Versammlung Nazi-Konzert / Beweismittel Dashcam / Rechtsstaat Polen? . In: Legal Tribune Online, 18.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23458/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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