Die juristische Presseschau vom 17. Juni 2020: Lübcke-Mord-Pro­zess beginnt / Corona-App wir­k­lich frei­willig? / Pro "Rasse" im GG

17.06.2020

Am OLG Frankfurt/M. wurde das Verfahren zur Tötung von Walter Lübcke eröffnet. Kann die Nutzung der neuen Corona-App wirklich freiwillig bleiben und Debattenbeiträge für eine Beibehaltung des Begriffs "Rasse" im Grundgesetz.

Thema des Tages

OLG Frankfurt/M. – Mordfall Walter Lübcke: Am Oberlandesgericht Frankfurt begann der Prozess zur Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 mit der Verlesung der Anklageschrift. Die wegen Mordes bzw. Beihilfe hierzu angeklagten Stephan E. und Markus H. unterließen am ersten von 32 geplanten Verhandlungstagen Wortmeldungen. Dagegen beschäftigte die Verteidigung das Gericht mit zahlreichen Aussetzungs- und Befangenheitsanträgen. Über letztere werde gemäß einer Ende 2019 in Kraft getretenen Gesetzesänderung erst später entschieden, schreibt lto.de (Markus Sehl). Für die als Nebenkläger am Verfahren beteiligte Familie des Getöteten sei die Antragsflut "schwer erträglich" gewesen, so ihr Anwalt. Die Angeklagten bzw. ihre Vertreter hätten "im Teich rechtsstaatlicher Prinzipien gefischt" ohne zu erkennen zu geben, "worin die Verletzung der Prinzipien liegen soll." Weitere ausführliche Berichte bringen SZ (Annette Ramelsberger), FAZ (Marlene Grunert), taz (Konrad Litschko), spiegel.de (Julia Jüttner), tagesschau.de (Frank Bräutigam) und zeit.de (Martin Steinhagen). Der Bericht von bild.de (Daniela Pfad u.a.) macht darauf aufmerksam, dass Stephan E. vom türkischstämmigen Anwalt Mustafa Kaplan verteidigt wird. Das Verfahren wird am morgigen Donnerstag fortgesetzt.

Detlef Esslinger (SZ) räsoniert im Leitartikel über den Charakter politischer Attentate und das ihnen den Boden bereitende gesellschaftliche Klima. Der "Klimaschutz" vor verrohender Sprache in sozialen Netzwerken sei nicht nur Aufgabe "juristischer und politischer Profis", sondern "jedermanns."

Corona und Recht

Corona – App: Die SZ (Wolfgang Janisch) macht darauf aufmerksam, dass sich die rechtliche Freiwilligkeit der Nutzung der nun eingeführten Corona-Warn-App faktisch "anders entwickeln" könnte. So bliebe es Wirten oder Ladenbesitzern im Rahmen der Privatautonomie unbenommen, zum Schutz vor behördlichen Schließungen ihrer Lokale den Zugang von Kunden von der App-Nutzung abhängig zu machen. Eine entsprechende Anordnung von Arbeitgebern dürfte dagegen nicht mehr vom Direktionsrecht gedeckt sein. Zu dieser Einschätzung gelangt auch Rechtsanwalt Thomas Köllmann (Hbl-Rechtsboard) in einer vertieften Analyse der arbeitsrechtlichen Implikationen der App aus Arbeitgeberperspektive.

Corona – Vertragsrecht: In einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ erinnern die Rechtsanwälte Daniel Busse und Sven Lange daran, dass corona-betroffene Unternehmen erforderliche Anpassungen von Verträgen zeitnah in Angriff nehmen sollten. Hierfür käme eine Störung der Geschäftsgrundlage oder auch, soweit vorhanden, die Berufung auf "force majeure"-Klauseln in Frage, in jedem Fall dürfte die rechtliche Aufarbeitung der Krisenfolgen Jahre in Anspruch nehmen.

Rechtspolitik

"Rasse" und Grundgesetz: In der Debatte über die grundgesetzliche Verwendung des Begriffs "Rasse" meinen die Postdocs Cengiz Barskanmaz und Nahed Samour auf verfassungsblog.de, dass die Forderung nach Streichung Symbolpolitik betreibe und damit letztlich dem Antidiskriminierungsrecht schade. Sie verspreche eine Signalwirkung und Steuerung des Rechts, die sich empirisch nicht belegen lasse. Statt "symbolischem Aktionismus" sei eine Versachlichung der Debatte notwendig, um "strukturelle Diskriminierung bekämpfen zu können". In einem Gastkommentar für die Welt argumentiert Gregor Thüsing, Rechtsprofessor, ähnlich. Juristen wüssten, was mit dem auch in internationalen Abkommen verwendeten Begriff "gemeint ist". Es sei wichtiger, "den Rassismus aus unserer Gesellschaft zu entfernen", als "die Rasse aus der Verfassung zu entfernen".

Unternehmenssanktionen: Trotz weiterhin anhaltender Kritik von Wirtschaftsvertretern und Berufsverbänden hat die Bundesregierung das nun als "Gesetz zur Stärkung der Integrität der Wirtschaft" firmierende Verbandssanktionengesetz beschlossen. lto.de (Annelie Kaufmann) fasst dessen Kernregelungen ebenso zusammen wie die FAZ (Marcus Jung). Die Welt (Daniel Zwick) berichtet ebenfalls.

Verjährungsfrist Steuerhinterziehung: Die Pläne der Bundesregierung zur Verlängerung der bei Steuerhinterziehung geltenden Verjährungsfrist stoßen nach Bericht der FAZ (Marcus Jung) auf die Kritik der Bundesrechtsanwaltskammer. In einem Brief an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) beklagte deren Präsident Ulrich Wessels die geplante Gesetzesänderung "durch die Hintertür" und den behaupteten Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.

Verfassungsrichterwahl: Bis zum heutigen Tag hat sich die SPD nicht auf einen Nachfolger für Verfassungsrichter Johannes Masing einigen können. In einer vertieften Analyse analysiert lto.de (Christian Rath) die seit einigen Wochen ungewöhnlich öffentlich ausgetragene Debatte. Bei Repräsentationsargumenten (erster Ostrichter für das BVerfG) könne jeder mitreden, eine Qualitätsdebatte sei aber nicht in Gang gekommen, weil sich kaum Wissenschaftler und Richter zu Wort meldeten. 

Justiz

BVerfG – Geschlechtseintrag: Die Gesellschaft für Freiheitsrechte hat eine Verfassungsbeschwerde eingereicht, mit der eine personenstandsrechtliche Registrierung als "divers" auch ohne medizinische Begutachtung erreicht werden soll. Die Beschwerde richte sich gegen einen Beschluss des Bundesgerichtshofs von Ende Mai, erläutert lto.de. Der BGH hatte festgestellt, dass die seit Ende 2018 mögliche Registrierung "Personen mit lediglich empfundener Intersexualität" nicht offen stehe.

BGH zu Fax-Sendungen: Bei Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax hat der absendende Rechtsanwalt jedenfalls dann das seinerseits erforderliche zur Fristwahrung getan, wenn unter normalen Umständen mit ihrer Beendigung vor Mitternacht gerechnet werden kann. Dies ist nach einem von community.beck.de (Christian Rolfs) gemeldeten Urteil des Bundesgerichtshofs von Ende April dann der Fall, wenn für die Übertragung 30 Sekunden pro Seite angesetzt werden und zusätzlich ein Sicherheitszuschlag von 20 Minuten für die gesamte Übermittlung kalkuliert wird.

OLG Dresden zu Facebook: Nach einem Eilbeschluss des Oberlandesgerichts Dresden kann Facebook auch weiterhin vom Netzwerk als "Hassorganisation" eingestufte Vereine von der Nutzung ausschließen. Dem nationalistischen Verein "Ein Prozent" bleibt damit ein Facebook-Auftritt verwehrt, berichtet zeit.de.

LG Kiel – Christian B./Fall Maddie: Nach Bericht der SZ (Peter Burghardt) hat der im Zusammenhang des Falls Madeleine McCann verdächtige Christian B. beim Landgericht Kiel beantragt, seine noch ausstehende Reststrafe in einer anderen Sache zur Bewährung auszusetzen. Das LG Kiel halte sich aber nicht für zuständig und verweise den Fall daher an das Landgericht Braunschweig, wo B. im Jahr 2016 wegen Kindesmissbrauch verurteilt wurde. Eine weitere, noch nicht rechtskräftige Verurteilung B.s in Braunschweig betreffe die Vergewaltigung einer US-Amerikanerin in Portugal. Dieser Fall und seine möglichen Parallelen zu anderen Taten, unter ihnen auch die mögliche Entführung und Tötung von Madeleine McCann, wird in der FAZ (Reinhard Bingener u.a.) ausführlich dargestellt.

Recht in der Welt

EGMR – Meinungsfreiheit und BDS: Rechtsprofessor Kai Ambos macht auf verfassungsblog.de auf ein "hierzulande bisher wenig beachtetes" Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus der vergangenen Woche aufmerksam. Darin wurde die französische Verurteilung von Aktivisten der BDS-Bewegung (die wegen der Besatzung von palästinensischen Gebieten zum Boykott Israels aufruft) als unverhältnismäßiger Verstoß gegen das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention aufgehoben. Die Kammer habe sich "in weiser Zurückhaltung jeglicher Bewertung von BDS" enthalten, gleichzeitig aber klar gestellt, dass  "Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit, die mit pauschalen Rassismus- und/oder Antisemitismusvorwürfen begründet" würden, "in Straßburg kaum Bestand haben dürften."

Kroatien/USA – Diesel-Skandal: In einiger Ausführlichkeit schreibt das Hbl (Volker Votsmeier u.a.) die vor kurzem auf Betreiben von US-Behörden in Kroatien erfolgte Festnahme eines früheren Audi-Dieselmotorenentwicklers. Die Vollstreckung des internationalen Haftbefehls folge einer bereits Anfang 2019 in den USA erhobenen Anklage gegen den Ingenieur wegen mutmaßlicher Verwicklung in den Diesel-Skandal.

USA – LGBTQ-Rechte: Über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, ein Diskriminierungsverbot des Civil Rights Act von 1964 auch auf Arbeitnehmer der sogenannten LGBTQ-Community anzuwenden, berichten nun auch FAZ (Majid Sattar) und taz (Bernd Pickert). Christian Zaschke (SZ) bezeichnet die Entscheidung in einem Kommentar als "besonders bemerkenswert", weil sie "von einem mehrheitlich konservativ besetzten Gericht getroffen wurde".

Sonstiges

Flightright: Die taz (Klaudia Lagozinski) interviewt den Juristen und Gründer der Plattform Flightright Philipp Kadelbach zum Geschäftsmodell des Portals.

Markenrecht/Virtuelle Messen: Nicht erst seit Corona experimentieren Veranstalter mit der Organisation von virtuellen Messen, Ausstellungen und Konferenzen. Mit wachsender Aktualität des Themas werden auch Markenrechtler auf mögliche Rechtsverletzungen aufmerksam. Für lto.de beschreiben Louisa Wagner und Nico Kuhlmann, Referendarin und Rechtsanwalt, wie bei Markenverletzungen im virtuellen Raum vorgegangen werden kann.

Das Letzte

Keine Chance für die Liebe: Nicht das geringste Verständnis für zarte Gefühle hinter Gittern zeigt das Oberverwaltungsgericht Koblenz. Wie u.a. bild.de und lawblog.de (Udo Vetter) berichten, hat es die dienstliche Entfernung einer vormaligen JVA-Mitarbeiterin gebilligt, die in intime Beziehungen zu einem ihrer "Kunden" getreten war. Als Belege der Beziehung dienten Liebesbriefe und Nackfotos.

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mpi

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 17. Juni 2020: Lübcke-Mord-Prozess beginnt / Corona-App wirklich freiwillig? / Pro "Rasse" im GG . In: Legal Tribune Online, 17.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41919/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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