Die juristische Presseschau vom 14. April 2021: Bund will Not­b­remse ziehen / Pro­zess­be­ginn gegen Gruppe S. / Jura bei TikTok

14.04.2021

Das Bundeskabinett beschloss den Gesetzentwurf für eine bundesweite Corona-Notbremse. In Stuttgart-Stammheim begann das Verfahren gegen die rechtsterroristische Gruppe S. und "Herr Anwalt" macht bei TikTok Karriere.

Thema des Tages

Infektionsschutzgesetz: Die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf zur Einführung einer Corona-Notbremse in einem neuen § 28b des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Dieser sieht eine bundesweit verpflichtende Beschränkung des öffentlichen Lebens vor, sobald der sogenannte Inzidenzwert in einem Landkreis drei Tage lang über 100 liegt. In einem solchen, aktuell in rund 300 von 412 Kreisen relevanten Fall sollen automatisch Beschränkungen gelten wie eine nächtliche Ausgangssperre oder die Beschränkung privater Treffen auf maximal eine Person außerhalb des eigenen Hausstandes. Rechtsschutz gegen die gesetzlichen Einschränkungen wäre dann nur noch im Wege einer Verfassungsbeschwerde möglich. Wegen Widerstands der Oppositionsfraktionen von AfD, FDP und Linke gegen eine parlamentarische Fristverkürzung ist mit einer Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag nicht vor der nächsten Woche zu rechnen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Zustimmung des Bundesrats nicht erforderlich ist. Eine ausführliche Darstellung zu Neuregelungen, Rechtsschutzmöglichkeiten und dem weiteren Verfahren bringt LTO (Christian Rath). Übersichten finden sich auch bei der SZ (Paul Munzinger/Rainer Stadler)zeit.de (Johanna Roth), deutschlandfunk.de (Gudula Geuther) und tagesschau.de (Claudia Kornmeier). Über den "Fahrplan zum Gesetz" schreibt auch die FAZ (Helene Bubrowski).

In einem Gastbeitrag für die FAZ meint Hans-Günter Henneke, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages, dass Gefahrenabwehr auch in der Pandemie "eben nicht nach "Schema F" ein für alle Mal vorgegeben werden" könne. Die jetzigen Neuerungen regelten "der Sache nach nichts anderes" als bereits Mögliches, sie stellten darüber hinaus aber "ein fälschlich Bundeseinheitlichkeit suggerierendes, in Gesetz gegossenes Misstrauensvotum gegenüber Ländern und Kommunen" dar. Rechtsprofessor Christoph Schönberger meint dagegen in der taz, dass die geplante Änderung "eine begrüßenswerte Rückkehr zur verfassungsrechtlichen Normalität" darstelle. Die Verantwortung für Maßnahmen kehre aus einem "Konsensnebel eines rechtlich nicht existierenden Gremiums" dorthin zurück, wo sie hingehöre: zur "Bundesregierung und ihrer Parlamentsmehrheit". Rechtsprofessorin Anna Leisner-Egensperger legt im Interview mit der Welt (Ricarda Breyton) verfassungsrechtliche Probleme der Neuregelung dar und nennt hier insbesondere das alleinige Abstellen auf den Inzidenzwert.

Dass mit der geplanten Ausgangssperre "eine Art Proxy-Verbot" erlassen werde, durch das ein "für sich genommen völlig harmloses" Verhalten untersagt wird, welches "angeblich mit dem gefährlichen korreliert", trifft auf Kritik von Christian Rickens (Hbl). "Rechtsstaatlich gesinnte Abgeordnete" sollten diesem Ansinnen ihre Zustimmung verweigern. Auch Angelika Slavik (SZ) hält die Bestimmung für "unverhältnismäßig – und vollkommen lebensfremd". Statt Maßnahmen "am vermeintlichen Ideal des rational agierenden Menschen" auszurichten, müsse man sich an der Realität orientieren. Alan Posener (zeit.de) schließlich beklagt, dass "Übersichtlichkeit über Freiheit" gehe. Die Bundesregierung verabschiede sich in der jetzigen Phase der Pandemiebekämpfung vom Grundsatz der Subsidiarität. Es sei bedauerlich, dass die Grünen dem Gesetz "als Morgengabe fürs Mitregieren ab September" wohl zustimmen werden.

Rechtspolitik

Corona – Tests in Unternehmen: Die Bundesregierung hat mit der Neufassung der Corona-Arbeitsschutzverordnung die von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vorangetriebene Testangebotspflicht für Unternehmen beschlossen, die voraussichtlich in der nächsten Woche in Kraft treten soll. Arbeitgeber müssen ihren Beschäftigten mindestens einmal pro Woche einen geeigneten Test anbieten. In einer Übersicht der FAZ (Dietrich Creutzburg u.a.) werden die grundlegenden Bestimmungen vorgestellt und erläutert. Dietrich Creutzburg (FAZ) hält die Maßnahme in einem separaten Kommentar angesichts der zeitgleich beschlossenen Pläne zum Bürokratieabbau für "Satire". Alexander Hagelüken (SZ) dagegen hält die Regelung für richtig. "Die Betriebe haben schlicht versäumt, das Problem selbst zu lösen".

Kindesmissbrauch: Die jüngsten gesetzlichen Verschärfungen beim sexuellen Missbrauch von Kindern verteidigt Rechtsprofessorin Elisa Hoven im FAZ-Einspruch gegen Kritik. Auch wenn die Hochstufung zum Verbrechen ohne minder schweren Fall fragwürdig sei, dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass die Angemessenheit von Strafhöhen als Ausdruck eines Unwerturteils "Ergebnis eines gesellschaftlichen Einigungsprozesses" sei. Dessen Ergebnis zu bestimmen, sei ureigenste Aufgabe des Gesetzgebers.

Umsetzung EU-Urheberrecht: In einem Kommentar zur Expertenanhörung im Rechtsausschuss des Bundestages zur Umsetzung der EU-Urheberrechtsreform schlägt Michael Hanfeld (FAZ) im Medien-Teil vor, sich vom "Märchen des freien Internets" zu verabschieden. Das vermeintliche World Wide Web sei "ein Plattform-Netz", dessen Inhalte von Digitalkonzernen bestimmt werden. Diese bei der "Eindämmung von Hass, Hetze, Gewalt und Kinderpornographie" in die Pflicht zu nehmen, sei auch hinsichtlich der "Bewahrung des Urheberrechts" für "die Demokratie essentiell".

Betriebsräte: Ob das jüngst vom Bundeskabinett beschlossene "Betriebsrätestärkungsgesetz" sein selbstformuliertes Ziel erreichen kann, wird von Rechtsanwältin Gerlind Wisskirchen im Recht und Steuern-Teil der FAZ bezweifelt. So bleibe auch das vereinfachte Wahlverfahren "komplex" und würden beim verbesserten Kündigungsschutz für die Initiatoren einer solchen Wahl "zu viele Fragen offen" bleiben.

EU-Grundrechte: Nun bespricht auch Christian Rath (BadZ) das Büchlein "Jeder Mensch" des Anwalts und Autors Ferdinand von Schirach, in dem er sechs neue EU-Grundrechte fordert. Soweit etwa beim vorgeschlagenen Recht auf gesunde Umwelt Einzelpersonen die Rechte der Allgemeinheit geltend machen sollen, würden vor allem Gerichte gestärkt und der Gesetzgeber geschwächt. Es sei typisch, dass ein so justizgläubiger Vorschlag aus Deutschland komme.

Justiz

OLG Stuttgart – Gruppe S.: An geschichtsträchtigem Ort, einem Neubau auf dem Gelände der JVA Stammheim, hat das Oberlandesgericht Stuttgart den Prozess gegen Mitglieder der rechtsterroristischen "Gruppe S." eröffnet. tagesschau.de (Frank Bräutigam) berichtet ausführlich zur Anklage-Verlesung und mutmaßt, dass die relative Zurückhaltung der Verteidigung beim Verfahrensbeginn den angesichts zwölf Angeklagten umfangreichen Corona-Schutzmaßnahmen im Saal geschuldet ist. Das Gericht habe bislang Verhandlungstermine "bis weit ins Jahr 2022" angesetzt. spiegel.de (Julia Jüttner) und FAZ (Rüdiger Soldt) berichten ebenfalls, die SZ (Lena Kampf/Annette Ramelsberger) geht in ihrem Bericht auch auf Ermittlungserkenntnisse zur Vernetzung von Gruppen wie der nun angeklagten ein. Es stehe zu befürchten, dass sich rechte Extremisten auch mit Corona-Leugnern zusammenschlössen.

BGH zu VW-Dieselskandal: Dieselskandalgeschädigte VW-Kunden können nicht nur die Rückzahlung des geleisteten Kaufpreises verlangen, sondern auch die Erstattung anfallender Finanzierungskosten. Betroffene seien grundsätzlich so zu stellen, als ob sie das Fahrzeug nie gekauft hätten, gibt die FAZ (Corinna Budras) die Entscheidung wieder.

BAG zu Crowdworking: Rechtsprofessor Gregor Thüsing macht im Recht und Steuern-Teil der FAZ eine "große Sprengkraft" des Urteils des Bundesarbeitsgerichts zur Angestellteneigenschaft sogenannter Crowdworker aus dem vergangenen Dezember aus. Zwar bleibe abzuwarten, ob die Entscheidung lediglich als "einzelfallbezogene Suche nach gerechten Ergebnissen zu verstehen" sei. In der Bezugnahme auf Lenkung statt Weisung, "Anreiz statt Anordnung, Nudging statt Vorschrift" habe das BAG aber die Weichen für eine "grundsätzliche Neujustierung" zahlreicher bislang feststehender Vorstellungen gestellt.

AG Weimar zu Corona-Maßnahmen: Gegen den umstrittenen Beschluss eines Familienrichters des Amtsgerichts Weimar hat das thüringische Bildungsministerium Beschwerde beim zuständigen Oberlandesgericht Jena eingelegt. Ob dies der richtige Rechtsbehelf ist, sei zweifelhaft, meinen Experten, die von LTO (Tanja Podolski) zitiert werden. Auch wenn man – wie das Ministerium – davon ausgeht, dass es sich wegen offenkundiger Fehlerhaftigkeit um einen sogenannten Scheinbeschluss handele, der keinerlei Rechtswirkungen entfalte, sei zunächst die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim Amtsgericht zu beantragen. Diesen Schritt habe das Ministerium bislang nur angekündigt. Einen vergleichbaren Beschluss hat nun auch das Familiengericht am Amtsgericht Weilheim erlassen. Hierüber berichtet auch spiegel.de.

VG Hamburg – Nord Stream 2: Beim Verwaltungsgericht Hamburg hat die Deutsche Umwelthilfe eine Klage gegen die Gaspipeline Nord Stream 2 eingereicht. Angegriffen werde eine vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie erteilte Baugenehmigung, meldet die taz.

Recht in der Welt

Italien – Seenotrettung: Anfang März hat die Staatsanwaltschaft der sizilianischen Stadt Trapani Anklage gegen 21 Personen aus dem Bereich privater Seenotrettungsorganisationen erhoben. Im Zuge der jahrelangen Ermittlungen sind offenbar auch die Telefonate von Journalisten abgehört worden, berichtet die FAZ (Matthias Rüb). Der zuständige Staatsanwaltschaft bestreitet, dass die hierzu angefertigten Protokolle im jetzigen Verfahren verwendet würden.

USA – Floyd-Prozess: Im Verfahren zur Tötung George Floyds beschrieb der Bruder des Getöteten dessen Persönlichkeit. Außerdem legte ein Kardiologe dar, dass der Tod Floyds einzig und allein auf Sauerstoffmangel und nicht auf Drogen zurückzuführen sei. Die SZ (Christian Zaschke) berichtet, dass in Minneapolis derweil nach der Tötung des Schwarzen Daunte Wrights durch eine Polizistin eine nächtliche Ausgangssperre verhängt wurde.

Malaysia – Fake News: Die malaysische Regierung hat vor einem Monat die Verbreitung sogenannter Fake News im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie unter Strafe gestellt und dabei auf Bestimmungen eines 2019 kassierten "Anti-Fake News Acts" zurückgegriffen. Trotz großer inhaltlicher Unterschiede berufen sich Akteure der Diskussion immer wieder auf das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz, analysiert Assistenzprofessor Lasse Schuldt auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache).

Juristische Ausbildung

Corona-Maskenpflicht im Examen: Beim aktuellen Klausuren-Durchgang für das erste juristische Staatsexamen gilt für Kandidaten in Nordrhein-Westfalen auch am Arbeitsplatz eine Maskenpflicht. Über eine entsprechende Mitteilung der zuständigen Justizprüfungsämter an Studierende berichtet LTO-Karriere (Pauline Dietrich/Marcel Schneider). Anlass der Entscheidung sei ein kürzlich ergangener Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf. Auf Antrag eines Kandidaten hatte dieses für den aktuellen Durchgang im zweiten Examen eine Maskenpflicht am Klausurplatz angeordnet.

Sonstiges

"Herr Anwalt": Der dieswöchige SWR RadioReportRecht (Gigi Deppe/Fabian Töpel) stellt Rechtsanwalt Tim Hendrik Walter vor. Als "Herr Anwalt" ist der aktive Rechtsanwalt auf TikTok unterwegs. Dort finden seine einminütigen Videos zu Rechtsproblemen mittlerweile ein Millionenpublikum.

Kartellrecht und Nachhaltigkeit: Für LTO zeichnen die Rechtsanwälte Marcel Nuys und Florian Huerkamp die aktuelle Diskussion über die Aufweichung kartellrechtlicher Verbote zugunsten von Nachhaltigkeitskooperationen von Unternehmen nach. Nachdem ein Arbeitspapier des Bundeskartellamts lediglich das geltende Recht und vorhandene Probleme dargestellt habe, arbeite die EU-Kommission derzeit an einem "Vorschlag für neue Leitlinien".

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mpi

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 14. April 2021: Bund will Notbremse ziehen / Prozessbeginn gegen Gruppe S. / Jura bei TikTok . In: Legal Tribune Online, 14.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44716/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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