Das BVerfG verhandelte über die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags. Eine vorgezogene Bundestagswahl soll ggf. am 23. Februar stattfinden. Die Verurteilung von Shell, seinen CO2-Ausstoß um 45 % zu verringern, wurde aufgehoben.
Thema des Tages
BVerfG – Solidaritätszuschlag: Ist der 1995 eingeführte Solidaritätszuschlag auch im 34. Jahr der deutschen Einheit noch verfassungsgemäß? Hierüber verhandelte das Bundesverfassungsgericht anhand einer Verfassungsbeschwerde von sechs FDP-Bundestagsabgeordneten aus dem Jahr 2020. Die Beschwerdeführenden sahen in der Fortführung eine ungerechtfertigte Eigentumsverletzung. Die Ergänzungsabgabe gem. Art. 106 I. Nr. 6 GG sei 2019 (als der Solidarpakt II endete) verfassungswidrig geworden. Außerdem sei der Gleichheitssatz verletzt, weil der Solidaritätszuschlag seit 2021 nur noch von Gutverdienenden und Körperschaften verlangt wird. Für die Bundesregierung wies Rechtsprofessor Kyrill-Alexander Schwarz auf die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit bei Finanzierungsfragen hin. In der Verhandlung wurde mit Ökonomen kontrovers diskutiert, ob es heute noch vereinigungsbedingte Sonderlasten in den neuen Bundesländern gibt. Rechtsprofessor Henning Tappe hielt dies für unerheblich. Das Grundgesetz enthalte keine Zweckbindung für Ergänzungsabgaben, deren Aufkommen könne inzwischen auch für die Bundeswehr und für Klimaschutz ausgegeben werden. Entscheidend sei einzig ein finanzieller Mehrbedarf des Bundes. Rechtsprofessor Hanno Kube hielt dagegen eine Ergänzungsabgabe nur zur Deckung vorübergehender Bedarfsspitzen des Bundes für gerechtfertigt und einen nachträglichen Austausch der staatlichen Begründung für unzulässig. Sollte das Gericht bei der in einigen Monaten anstehenden Entscheidung die Verfassungswidrigkeit der Regelung feststellen, fehlten jährlich nicht nur rund zwölf Mrd. Euro im Bundeshaushalt, es könnte auch die Rückerstattung von bis zu 65 Mrd. Euro erforderlich machen. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Katja Gelinsky), Hbl (Heike Anger/Jan Hildebrand), LTO (Christian Rath), und SWR-RadioReportRecht (Klaus Hempel).
Rechtspolitik
Bruch der Ampel/Neuwahlen: SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP haben sich auf den 23. Februar 2025 als Termin für Neuwahlen zum Deutschen Bundestag verständigt. Hierzu solle Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dem Parlament am 16. Dezember die Vertrauensfrage stellen. Sodann werden die in Art. 68 Grundgesetz festgeschriebenen, von SZ (Robert Roßmann/Georg Ismar) und LTO (Max Kolter) erläuterten, Fristen ausgelöst: Zunächst dürfe das Parlament nicht vor Ablauf von 48 Stunden abstimmen. Nach der erwartbar negativen Abstimmung blieben dem Bundespräsidenten dann maximal 21 Tage für die vom Kanzler beantragte Auflösung des Bundestags. Geschieht dies, müsse gemäß Art. 39 GG innerhalb von 60 Tagen neu gewählt werden. Die im Bundeswahlgesetz normierten Mindestfristen für die Zulassung von Wahlvorschlägen der Parteien werden durch eine vom Innenministerium noch zu erarbeitende Verordnung verkürzt. Ein entsprechender Vorgang wurde vom Bundesverfassungsgericht im unmittelbaren Zusammenhang mit der 2005 vorgezogenen Wahl ausdrücklich gebilligt.
Die Partei der Humanisten und weitere Kleinparteien haben in einem offenen Brief den Bundeskanzler, die Innenministerin sowie die Abgeordneten des Bundestags aufgefordert, die Anzahl der erforderlichen Unterstützungsunterschriften abzusenken und das Verfahren zu digitalisieren. Sollte dies unterbleiben, sei auch die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts denkbar, so spiegel.de (Anne Eberhard).
Bundeswahlleiterin Ruth Brand: Gegenüber dem Wahlausschuss des Bundestags wies Bundeswahlleiterin Ruth Brand den Vorwurf politischer Einflussnahme zurück. Bei ihrer schriftlichen Warnung vor "unwägbaren Risiken" eines zu frühen Wahltermins habe sie lediglich praktische Probleme gemeint. Die FAZ (Marlene Grunert) berichtet.
Bruch der Ampel/Gesetzvorhaben: Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag hat mitgeteilt, dass sie dem Gesetzentwurf zur institutionellen Absicherung des Bundesverfassungsgerichts sowie Verlängerungen der Parlamentsmandate für Auslandseinsätze der Bundeswehr noch vor den Neuwahlen zustimmen will. Darüber hinaus könne noch in dieser Woche eine Verlängerung der Telekommunikationsüberwachung bei Wohnungseinbrüchen verabschiedet werden, so zeit.de und beck-aktuell.
Resilienz des BVerfG: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Simon Willaschek macht im Verfassungsblog darauf aufmerksam, dass der im aktuellen Gesetzentwurf zur Stärkung der Resilienz des BVerfG enthaltene Ersatzwahlmechanismus Schwächen aufweist. Solange dieser nicht auch im Grundgesetz verbindlich geregelt ist, ließen sich Änderungen einfachgesetzlich mit einfacher Mehrheit bewerkstelligen. Dies hätte unabsehbare Folgen für Legitimation und Unabhängigkeit des Gerichts.
Die vorgesehenen Regelungen fasst das Hbl (Heike Anger) in Frage-und-Antwort-Form zusammen.
Staat: Die "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" hat angekündigt, einen ersten Zwischenbericht mit Vorschlägen für grundsätzliche Reformen bereits im nächsten Frühjahr vorlegen zu wollen. Die Initiative will Ideen für die Überwindung von Blockaden der Handlungsfähigkeit in allen Politikfeldern entwickeln. Zu den Initiator:innen gehört Andreas Voßkuhle, Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Die FAZ (Eckart Lohse) berichtet.
Schutz von Anwält:innen: Auf einer Tagung zur "Resilienz der Anwaltschaft" teilte das Bundesjustizministerium mit, dass sich eine Konvention des Europarats zum Schutz der anwaltlichen Tätigkeit auf der "Zielgeraden" befinde. Die Konvention soll (in Deutschland zumeist bereits existierende) Regelungen und Standards von Berufsrechten garantieren. Auf der Tagung hat die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz heftige Kritik am Umgang der Bundesrechtsanwaltskammer mit den an sie adressierten "NSU 2.0"-Drohschreiben formuliert. Die BRAK und andere Berufsverbände müssten sich sofort proaktiv an Bedrohte wenden und Hilfe anbieten, statt vor allem Presseerklärungen abzugeben. LTO (Hasso Suliak) berichtet.
Straßenverkehr: Dass mit der im Oktober in Kraft getretenen Novelle der Straßenverkehrsordnung die zuständigen Behörden in die Lage versetzt wurden, bei Verkehrsplanungen auch Klima- und Gesundheitsschutz als Maßstäbe zu berücksichtigen, wird von den Richter:innen Birger Dölling und Almut Neumann im Recht und Steuern-Teil der FAZ begrüßt. Sie bedauern gleichwohl, dass z.B. das durchschnittliche Unfallgeschehen immer noch als akzeptabel gelte. Bei den zu erwartenden juristischen Auseinandersetzungen sollten keine überhöhten Anforderungen an den behördlichen Begründungsaufwand gestellt werden.
Freiheit: Der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof räsoniert im FAZ-Einspruch über das Verhältnis von Freiheitsrechten und Verantwortlichkeit im Rechtsstaat. Einer Allgegenwart "von kleinräumiger und kleinsinniger Verantwortungsscheu" müsse "mit einer strukturellen Neuregelung der verantwortlichen Freiheit" begegnet werden, so der Rechtsprofessor.
Justiz
BGH – Facebook-Datenleck: Auch SZ (Wolfgang Janisch) und FAZ (Marcus Jung) berichten nun über die mündliche Verhandlung des Bundesgerichtshofs im Leitverfahren zu Schadensersatzansprüchen wegen eines Datenlecks bei Facebook. Sie teilen die Einschätzung, dass sich "eine klägerfreundliche Entscheidung" abzeichne. Diese soll am 18. November verkündet werden. Hiernach bliebe Betroffenen Zeit bis zum Ende dieses Jahres, um Ansprüche wegen des 2021 bekannt gewordenen Lecks geltend zu machen.
BGH zu Syndikuszulassung: Wer dienstvertraglich mit der Geschäftsführung einer GmbH betraut ist, kann nicht gleichzeitig als Syndikusanwalt oder -anwältin zugelassen werden. Dies entschied der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs und klärte damit eine lange offene Grundsatzfrage, wie Martin W. Huff auf beck-aktuell vertieft ausführt.
OLG München zu Bewertung eines Arztes: Das Oberlandesgericht München hat Anfang August dem Antrag eines Schönheitschirurgen auf Sperrung einer extrem negativen Bewertung seiner fachlichen Fähigkeiten bei Google entsprochen. Nachdem der Arzt bestritten habe, dass die vermeintliche Urheberin der Bewertung überhaupt von ihm behandelt wurde, sei das Bewertungsportal verpflichtet gewesen, die Echtheit der Angaben zu prüfen, etwa indem es sich eine Rechnung der Behandlung vorlegen lässt. Wenn die Behandlung nicht nachgewiesen werden kann, sei die Bewertung zu entfernen. beck-aktuell berichtet.
OLG Hamm zu Kontaktverbot/WhatsApp: Ob ein umfassendes Kontaktverbot auf Grundlage des Gewaltschutzgesetzes auch das Verbot beinhaltet, sich in WhatsApp-Gruppenchats zu äußern, denen beide Beteiligte angehören, hängt nach von beck-aktuell mitgeteilter Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm grundsätzlich von der Größe der Gruppe ab. Bei einer Geltung in großen WhatsApp-Gruppen läge eine unverhältnismäßige Einschränkung der Handlungsfreiheit des Verbotsadressaten vor.
LG Kiel zu Misshandlung von Partnerinnen: Wegen schwerster Misshandlung und Vergewaltigung zweier ehemaliger Partnerinnen hat das Landgericht Kiel einen 27-Jährigen zu zwölfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und eine Sicherungsverwahrung angeordnet. Der Angeklagte hatte 2017 seine damalige Partnerin vergewaltigt und im vergangenen Jahr seine neue Partnerin zunächst entführt und dann mehrfach vergewaltigt. In einer psychologischen Begutachtung attestierte ihm ein Sachverständiger psychopathische Störungen und eine herabgesetzte Impulskontrolle. spiegel.de berichtet.
LG Hamburg zu Urheberrecht und KI: Ausführliche Besprechungen des Ende September verkündeten "Laion"-Urteils des Landgerichts Hamburg über die urheberrechtliche Zulässigkeit der Erstellung von KI-Trainingsdatensätzen als Text- und Data-Mining gemäß § 60d UrhG bringen die Doktorandin Julia Danevitch im Verfassungsblog sowie Rechtsprofessorin Katharina de la Durantaye im Recht und Steuern-Teil der FAZ.
VG Gelsenkirchen zu Anspruch auf Behindertenparkplatz: Über die in der vergangenen Woche verkündete Entscheidung des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, nach der ein gehbehinderter Kläger einen Anspruch auf die städtische Einrichtung eines Sonderparkplatzes hat, berichtet nun auch LTO.
Recht in der Welt
Niederlande – Shell/Klimaschutz: In der Berufungsinstanz hat ein niederländisches Zivilgericht eine 2021 ergangene Entscheidung aufgehoben, durch die der Shell-Konzern verpflichtet worden war, die von ihm und seinen Zulieferern sowie seinen Kunden ausgehenden CO2-Emissionen um 45 Prozent zu reduzieren. Shell habe zwar die Pflicht, sich für den Klimaschutz einzusetzen, ein konkreter Prozentsatz bei der Senkung des CO2-Ausstoßes könne dem britischen Konzern jedoch nicht auferlegt werden. Es ist davon auszugehen, dass die klagende Umweltorganisation Milieudefensie nun Revision einlegen wird. Berichte bringen u.a. FAZ (Marcus Jung u.a.), taz (Tobias Müller) und LTO.
Reinhard Müller (FAZ) hält die Entscheidung für "im Ergebnis richtig." Umweltschutz-Anforderungen dürfe "nur auf demokratischem und rechtsstaatlichem Wege" und nicht durch Lobbyarbeit betreibende "politisierte Verbände" vorgegeben werden. Auch Marie Gogoll (taz) hält das Urteil für richtig: Würde Shell Tankstellen schließen, "führen die Leute halt zu Aral." Die Durchsetzung von Klimaschutzvereinbarungen bleibe Aufgabe von Regierungen.
IStGH – Karim Khan: Über die gegen den Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof eingeleitete Untersuchung berichtet nun auch LTO. Der Brite Karim Khan soll nach Angaben anonymer Zeugen gegenüber einer Mitarbeiterin sexuell übergriffig geworden sein. Khan selbst bestreitet die Vorwürfe und lehnt es ab, bis zu ihrer Klärung durch eine unabhängige Instanz sein Amt ruhen zu lassen.
Italien – Asylverfahren in Albanien: Gegen die erneute Anordnung eines römischen Gerichts, Bootsmigranten aus Ägypten und Bangladesch aus dem Lager in Albanien nach Italien zu verbringen, hat die Regierung nun das Oberste Gericht Italiens angerufen. Dieses werde am 4. Dezember entscheiden, schreibt die FAZ (Matthias Rüb).
USA – Donald Trump/Stormy Daniels: Ein New Yorker Gericht hat seine Entscheidung über eine mögliche Immunität des künftigen US-Präsidenten Donald Trump in dessen Schweigegeld-Verfahren um eine Woche verschoben. Trump war Ende Mai wegen der Verschleierung von Schweigegeldzahlungen durch die Fälschung von Geschäftsunterlagen verurteilt worden. Zwischenzeitlich erklärte der US-Supreme Court eine weitgehende Immunität für Amtshandlungen von Präsidenten. Trumps Verteidigung argumentiert nun, dass die Verurteilung sich auf Beweise aus der ersten Amtszeit Trumps stützt. LTO berichtet.
USA – Abu Ghraib: Ein Gericht im US-Bundesstaat Virginia hat drei Irakern wegen Misshandlungen, die sie vor rund 20 Jahren im berüchtigten Abu Ghraib-Gefängnis im Irak erlitten hatten, Entschädigungen in Höhe von jeweils 14 Millionen Dollar zugesprochen. Zahlen muss diese eine Sicherheitsfirma, deren Mitarbeiter sich mit Militärpersonal zur Vornahme der Misshandlungen verschworen hatten, schreibt zeit.de.
Sonstiges
Franz Kafka/Max Brod: Unmittelbar vor seinem Tod wies Franz Kafka seinen Freund Max Brod an, vorhandene Manuskripte ungelesen zu vernichten. Der Rechtsanwalt und Literaturkritiker Ulrich Fischer hat nun "Kafkas letzter Wille – eine juristische Analyse" vorgelegt, in der nachgewiesen wird, dass die Nichtbefolgung dieses Wunsches nicht rechtswidrig war, da Brod überhaupt nicht Erbe war. "Stets beschwingt, mit leichter Feder" sei so eine Abhandlung entstanden, die weniger "Klärung und Übersichtlichkeit" im Sinne habe, als vielmehr eine Darstellung der "Perplexität" der Rechtslage, so das Fazit der SZ (Ronen Steinke) im Literatur-Teil.
Thomas Haldenwang: Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz will bei den anstehenden Bundestags-Neuwahlen für die CDU in Wuppertal kandidieren. Mit der bevorstehenden Bekanntgabe der Kandidatur scheide Thomas Haldenwang auch aus seinem Amt. Vermutlich werde der Verfassungsschutz nun vor den Neuwahlen, auch wegen der Nähe zum Wahltermin, keine Neueinstufung der AfD als gesichert extremistische Bestrebung vornehmen. Ein etwaiger Verbotsantrag dürfte sich angesichts des nun sicher bevorstehenden Legislaturendes ohnehin erledigt haben. taz (Konrad Litschko) und LTO berichten.
Das Letzte zum Schluss
Niederlagenserie: Insgesamt sieben Meisterschaften nennt Schalke 04 sein eigen, mittlerweile kämpft der Traditionsverein jedoch in der 2. Liga gegen den Abstieg. Wie bild.de (Max Backhaus/Peter Wenzel) berichtet, handelt sich der Klub nicht nur auf dem Rasen Niederlagen ein. So stellte das örtliche Arbeitsgericht fest, dass die im Sommer ausgesprochenen Kündigungen zweier Physiotherapeuten des Vereins unwirksam waren.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi/chr
(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)
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Die juristische Presseschau vom 13. November 2024: . In: Legal Tribune Online, 13.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55850 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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