Hat die Anklage im NSU-Prozess die Aufklärung des rechtsextremen Netzwerks behindert? Ein Nebenklagevertreter erhebt Vorwürfe. Außerdem in der Presseschau: Einstellung in Sachen R. Künast kritisiert und polnische Reparationsforderungen.
Thema des Tages
OLG München – NSU: Aller Voraussicht nach wird die Anklage im NSU-Verfahren am Oberlandesgericht München ihr Plädoyer am heutigen Dienstag beenden. Aus Anlass der im Anschluss startenden Schlussvorträge der Nebenklagevertreter befragt spiegel.de (Julia Jüttner) Rechtsanwalt Stephan Kuhn zu den Gründen für das "bemerkenswert angespannte" Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Nebenklägern im Verfahren. Der Vertreter von Opfern des Nagelbombenanschlags von Köln macht hierfür vor allem den Unwillen der Anklagebehörde verantwortlich, über den durch die Anklageschrift gesetzten Rahmen hinauszugehen. Im Verfahren habe die Bundesanwaltschaft Staatsschutz im umfassenden Sinne betrieben und hierzu Behördenversäumnisse oder -fehler konsequent ausgeblendet. Durch weiterhin betriebene Ermittlungen gegen noch unbekannte Unterstützer des sogenannten NSU seien den Nebenklagevertretern bestimmte Ermittlungserkenntnisse vorenthalten, gleichzeitig aber der Anschein erweckt worden, die Bundesanwaltschaft befürchte eine Öffentlichkeit für diese Erkenntnisse. Durch dieses prozessual wohl zulässige Verhalten sei die von der Bundeskanzlerin beim Staatstrauerakt 2012 versprochene Aufklärung der Taten behindert worden.
Rechtspolitik
Steuerschlupflöcher: Den Vorschlag einiger europäischer Finanzminister, die Steuern von Internetriesen wie Google oder Facebook künftig nach deren Umsätzen zu bestimmen, hält Ulrich Schäfer (SZ) im Leitartikel des Blatts zwar für grundsätzlich sinnvoll, praktisch aber wertlos. Abgrenzungsprobleme, welcher multinationale Gigant denn nun ein Internetkonzern sei, würden weiterhin bestehen und Steuervermeidungstaktiken seien keineswegs auf derartige Firmen beschränkt. Tatsächlich müssten Firmenkonstrukte mit dem Zweck einzig der Steuervermeidung "generell unterbunden werden".
Digitaler Rechtsstaat: In einem Gastbeitrag für den Medien-Teil der FAZ stellen die Bundestagsabgeordneten Günter Krings (CDU) und Ansgar Heveling (CDU) die Position der Unionsfraktion zu den in der letzten Sitzungswoche des Bundestages verabschiedeten Gesetzen mit digitalem Bezug dar. Die Autoren nehmen zum sogenannten Wlan-Gesetz, dem Urheberrechts-Wissensgesellschaftsgesetz und dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz Stellung und betonen, dass bewährte Kommunikationsregeln der analogen Welt auch in digitalen Netzen, mit "rechtsstaatlicher Einhegung und Ordnung" Anwendung finden müssten.
Justiz
EuGH zu Elterndiskriminierung: Die auf Vorlage des Verwaltungsgerichts Berlin in der letzten Woche ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Unvereinbarkeit des Berliner Beamtenrechts mit der EU-Richtlinie über Erziehungsurlaub findet die Zustimmung von Rechtsprofessorin Nicole Wolf auf lto.de. Der Beitrag stellt den zugrunde liegenden Fall und die rechtliche Problematik vertieft dar und begrüßt, dass deutsche Gerichte die nun vom EuGH deutlich gemachten europarechtlichen Vorgaben mit der erforderlichen Klarheit durchsetzen könnten.
EuG – Google: Das Gericht der Europäischen Union hat den Eingang einer Beschwerde des Internetkonzerns Google gegen die von der EU-Kommission verhängte Kartellbuße von knapp 2,5 Milliarden Euro bestätigt. Der Beschwerde komme keine aufschiebende Wirkung zu, erläutert die FAZ (Werner Mussler). Vor einer endgültigen Entscheidung dürften Jahre vergehen.
BVerfG – EZB-Anleihekäufe: In einem Beitrag für verfassungsblog.de kritisiert Heiner Flassbeck den Vorlagebeschluss des Bundesverfassungsgerichts zu Staatsanleihekäufen der Europäischen Zentralbank zum Europäischen Gerichtshof. Nach Einschätzung des Wirtschaftsprofessors offenbart das Verfassungsgericht eine erschreckende Unkenntnis aktueller Volkswirtschaftslehre, die entsprechenden Ausführungen des Gerichts seien "kompletter Unsinn".
BGH zu Schmerzensgeldanspruch: Staatliche Inanspruchnahme etwa durch eine irrtümliche Festnahme kann ab sofort neben Entschädigungsansprüchen auch ein Schmerzensgeld begründen. Dies entschied in der vergangenen Woche der Bundesgerichtshof in einem nun bekanntgegebenen Urteil. lto.de stellt ausführlich Fall, Problematik und den mutmaßlichen Grund für diese Änderung der Rechtsprechung dar.
LG Freiburg – Fall Maria L.: Das Verfahren zur Tötung der Studentin Maria L. wurde am Landgericht Freiburg mit der Einlassung des Angeklagten Hussein K. fortgesetzt. Neben einer an die Familie der Geschädigten gerichteten Entschuldigungsbitte habe der Angeklagte auch die Tat beschrieben, hierbei aber auch immer wieder auf erheblichen Alkohol- und Haschischkonsum abgestellt, schreibt die FAZ (Rüdiger Soldt, erweiterte Online-Version). Die SZ (Josef Kelnberger) berichtet ebenfalls.
LG Köln – Milli Görüs: Ab dem kommenden Montag müssen sich zwei frühere hochrangige Funktionäre der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs vor dem Landgericht Köln wegen Steuerhinterziehung und Betrug verantworten. Die taz (Daniel Bax) stellt die Vorwürfe vor.
FG Münster zu Festverzinsung von Steuernachzahlungen: Im August wies das Finanzgericht Münster eine Klage von Steuerpflichtigen ab, die geltend gemacht hatten, dass der feste Zinssatz für Steuernachzahlungen wegen Realitätsferne verfassungswidrig sei. Rechtsanwalt Christian Beckmann zweifelt auf lto.de, dass angesichts der bereits länger anhaltenden Niedrigzinsphase eine Rechtsprechung, welche die seit Jahrzehnten geltenden sechs Prozent als realitätsnah bezeichnet hatte, noch haltbar sei. Den Revisionsführern in diesem und vergleichbaren Verfahren sei in jedem Fall Erfolg zu wünschen.
StA Berlin – Renate Künast: Die Einstellungsverfügung der Berliner Staatsanwaltschaft hinsichtlich einer mutmaßlichen Beleidigung der Bundestagsabgeordneten Renate Künast (Grüne) auf Facebook ist von der Betroffenen kritisiert worden. Die Anklagebehörde habe den Fall "offensichtlich falsch bewertet", so Künast gegenüber der SZ (Heribert Prantl). Diese Einschätzung teilt Heribert Prantl (SZ) in einem separaten Kommentar. Politiker seien "nicht die Hausschweine der Demokratie, denen man jeden Dreck in den Kübel schütten kann". Der Satz "man sollte dich köpfen" könne auch durch einen "politischen Verwendungskontext" nicht zu einer zulässigen Meinungsäußerung geadelt werden. Der Verdacht liege nahe, dass die Staatsanwaltschaft hier einfach zu faul sei, "sich gegen eine Flut von Bösartigkeit, Gemeinheit und Dreck zu stellen".
Richter Maier: Die taz (Christian Jakob) porträtiert Jens Maier, Richter am Landgericht Dresden, der auf Platz 2 der sächsischen Landesliste der AfD mit hoher Wahrscheinlichkeit Mitglied des nächsten Bundestages sein wird. Nach öffentlichem Unmut über eine zuungunsten eines NPD-kritischen Politologen ergangene Entscheidung ist Maier an seinem Gericht die Zuständigkeit für Medien- und Ehrschutzsachen entzogen worden, seitdem habe sich der Richter mit öffentlichen Äußerungen im Sinne des radikalen Parteiflügels hervorgetan.
Recht in der Welt
Polen – Reparationen: Nach einem Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des polnischen Abgeordnetenhauses Sejm ist Deutschland nach wie vor zur Leistung von Kriegsreparationen an Polen verpflichtet. Eine Verzichtserklärung der Volksrepublik aus dem Jahr 1953 habe nur gegenüber der DDR gegolten und sei zudem auch verfassungswidrig beschlossen worden, so die FAZ über das Gutachten. Ein weiterer Beitrag der FAZ (Reinhard Müller/Reinhard Veser) stellt die rechtlichen Positionen Polens und der Bundesrepublik zur Frage vertieft dar, spiegel.de (Jan Puhl) gibt gleichfalls einen Überblick zu den Fakten. Im Leitartikel bezeichnet es Reinhard Veser (FAZ) "zumindest unangemessen", gegenüber den durch das nationalsozialistische Deutschland in Polen verübten Verbrechen "kühl und ausschließlich mit rechtlichen Argumenten" aufzutreten. Gleichwohl müsse sich die deutsche Regierung gegen die jetzigen Forderungen "auch juristisch zur Wehr setzen". Weil Polen nicht das einzige Opfer nationalsozialistischer Aggression gewesen sei, bestünde die Gefahr weiterer Ansprüche und damit eine Überforderung selbst für die wirtschaftlich starke Bundesrepublik.
Türkei – Cumhuriyet: Über den Fortgang des Strafverfahrens gegen Mitarbeiter der türkischen Zeitung "Cumhuriyet" berichtet unter anderem die Welt (Ali Celikkan/Gültem Sarin). Die vernommenen Zeugen hätten dargelegt, dass ihre früheren Aussagen aus dem Kontext gerissen worden seien und sie keineswegs beabsichtigt hätten, die Zeitung mit dem Terrorismus in Verbindung zu bringen.
Israel – Familie Netanjahu: Die SZ (Moritz Baumstieger) berichtet über zahlreiche Ermittlungen gegen Familienmitglieder des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Der Generalstaatsanwalt des Landes ermittle gegen Frau Netanjahu in mehreren Komplexen und habe eine Anklage wegen Veruntreuung angekündigt. Der Premier habe sich in unerlaubten Maße von Unternehmern beschenken lassen, auch hier drohe eine Anklage.
Sonstiges
Richterscore: Die FAZ (Hendrik Wieduwilt) berichtet über die bislang erfolglosen Bemühungen der Plattform Richterscore, von der Berliner Justizverwaltung Namen, Alter und Zuständigkeiten von Richtern des Bundeslandes zu erfahren. Der Senat habe datenschutzrechtliche Bedenken angemeldet und warte eine Untersuchung des Datenschutzbeauftragten über die Plattform ab. Der Vertreter von Richterscore mache dagegen einen Auskunftsanspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz geltend.
AfD: In einem Kommentar bezeichnet es Reinhard Müller (FAZ) als "Dilemma", wenn sich eine verfassungsfeindliche Bewegung auf den Marsch "durch die Institutionen" macht. Sei sie erst an der Macht, ließe sich "kaum noch gegensteuern"; andererseits sei "aus guten Gründen" nur das Bundesverfassungsgericht für ein Verbot zuständig. Bei der AfD erschrecke "bisweilen" der angekündigte Umgang mit dem politischen Gegner, ihr Programm indes sehe weder die Abschaffung der Menschenwürde noch "ein völlig anderes System vor". Damit nutze sie den vom Grundgesetz eröffneten Weg der freien Auseinandersetzung.
Das Letzte zum Schluss
Bürofee: Benachteiligt die Ausschreibung einer Stelle der "Bürofee" ohne den Zusatz "(m/w)" männliche Bewerber? Nicht nach der Ansicht des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz. In einem Urteil vom März führte es aus, dass es an der für eine Geschlechterdiskriminierung notwendigen "überwiegenden Verkehrsanschauung", derzufolge Feen nur Frauen sein könnten, fehle. Rechtsanwalt Thorsten Blaufelder (blaufelder.de) berichtet.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 12. September 2017: Anklage gegen Aufklärung? / Nachsichtige StA / Reparationen an Polen? . In: Legal Tribune Online, 12.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24391/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag