Die juristische Presseschau vom 11. November 2020: Schei­tert EU-Haus­halt an Sank­tionen? / Mas­ken­pflicht an Bay­erns Schulen gelo­ckert / Wende im BAMF-Skandal?

11.11.2020

Der EU-Haushalt ist ausverhandelt, eine Einigung könnte aber am Rechtsstaatsmechanismus scheitern. Der BayVGH lockert die Maskenpflicht in bayerischen Schulen. In der BAMF-Affäre bahnt sich ein neuer Skandal an. 

Thema des Tages

EU-Haushalt/EU-Rechtsstaatlichkeit: Unterhändler des EU-Parlaments und der Mitgliedstaaten haben sich über die Grundlagen des EU-Haushalts in den kommenden Jahren geeinigt. Neben umfangreichen Corona-Hilfen sehe das kommende Budget auch Kürzungen der an die Mitgliedstaaten fließenden Zahlungen bei Verstößen gegen Rechtsstaatsprinzipien vor, schreiben SZ (Björn Finke) und taz (Eric Bonse). Daher sei die ausstehende Zustimmung im Rat der EU fraglich. In einer Analyse nennt spiegel.de (Markus Becker) zwei Möglichkeiten der EU: ein Einknicken des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban unter dem Druck der von Corona besonders betroffenen Länder oder die Ausgliederung des Hilfspakets aus dem regulären Haushalt und anschließende Neuverteilung unter Ausschluss Ungarns.

Hans-Peter Siebenhaar (Hbl) ist optimistisch, weil "auch die Osteuropäer" an den "Milliarden aus Brüssel" interessiert seien. Das EU-Parlament könne somit einen "Sieg im Verhandlungspoker" verbuchen. Werner Mussler (FAZ) hält es dagegen im Leitartikel für "kein Wunder, dass sich alle Beteiligten nun zu Siegern erklären". Neben vereinzelter Akzentsetzung der Abgeordneten ändere sich im Grundsatz gegenüber dem bereits im Juli von den Staatschefs ausgehandelten Finanzpaket wenig.

Rechtspolitik

Corona – Beschränkungen: Beweisen die mittlerweile zahlreichen Entscheidungen zu coronabedingten Beschränkungen des öffentlichen Lebens das Funktionieren des Rechtsstaates? Rechtsprofessor Oliver Lepsius stellte diese Gleichung auf einer Veranstaltung in Frage, über die LTO (Markus Sehl) ausführlich berichtet. Tatsächlich stünden Hauptsacheentscheidungen in quasi allen Verfahren immer noch aus, die Gerichte hätten die bisherigen Maßnahmen mit einem "Vertrauensvorschuss" behandelt. Der Staatsrechtler plädierte auch dafür, das Grundgesetz nicht bloß als ein nachträglich anzulegendes "Kontrollsystem" zu verstehen, sondern ebenso als Handlungsanleitung für die Politik. Welche Maßnahmen nach November erforderlich sind, sollten laut Lepsius am besten Parlamente entscheiden.

In einem Gastbeitrag für das Hbl beklagt der frühere Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach (CDU) eine allzu leichtfertige "Lagerbildung" zwischen Unterstützern der Maßnahmen und "Corona-Leugnern". Tatsächlich gebe es "berechtigte Fragen und begründete Zweifel" an der Sinnhaftigkeit etwa von Beherbergungsverboten. Die politischen Entscheidungsträger blieben aufgerufen, Kritiker mit Argumenten zu überzeugen.

Cum-Ex-Verjährung: Die Regierungskoalition hat sich darauf verständigt, die Verjährungsfrist für besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung auf zwölf Jahre zu erhöhen. Die Verlängerung habe vornehmlich Fälle der sogenannten Cum-Ex-Betrügereien im Blick, schreibt das Hbl (Martin Greive/Volker Votsmeier). Gleichzeitig solle die Einziehung von Erträgen aus derartigen Geschäften bis zu 30 Jahre lang möglich gemacht werden.

Verschlüsselung: Meike Laaff (zeit.de) bezeichnet es in einem Kommentar als ebenso "ermüdend wie vorhersehbar", dass jedem terroristischen Anschlag die politische Forderung nach "mehr Überwachung" folge. Der jetzt vom Rat der EU erarbeitete Resolutionsentwurf zur Verpflichtung von Messengerdiensten wie WhatsApp, die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ihrer Nutzer für Sicherheitsbehörden einsehbar zu machen, folge trotz zweifelhaftem Nutzen bei der Verhinderung von Anschlägen dieser Logik und lasse dabei wieder einmal außer Acht, "ob der Kern der privaten Lebensgestaltung von Menschen verletzt wird."

Personenkennziffer: Auf der Basis der 2007 eingeführten Steuer-Identifikationsnummer soll nach Plänen der Bundesregierung eine allgemeine Identifikationsnummer die Bürger für staatliche Behörden identifizierbar machen. Im Interview mit beck-aktuell (Joachim Jahn) äußert sich Rechtsprofessor Kai von Lewinski zu Zweck, Kontext und datenschutzrechtlichen Problemen des Vorhabens.

Justiz

BayVGH zu Maskenpflicht in der Schule: Die bayerische Corona-Verordnung ist hinsichtlich der in ihr verfügten Maskenpflicht an Schulen dahingehend auszulegen, dass Schülern die Gelegenheit gegeben werden müsse, im Freien und unter Einhaltung des Mindestabstands die Masken abzulegen. Dies entschied nach Meldung von LTO der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einem Eilverfahren.

OVG NRW und VG Berlin zu Corona/Gastronomie: Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat ebenso wie das Verwaltungsgericht Berlin Eilänträge gegen aktuell geltende Einschränkungen von Gastronomiebetrieben abgewiesen. Das Verbot, Kundschaft vor Ort zu bewirten, sei nicht offensichtlich rechtswidrig, weil es mit der Kontaktvermeidung ein legitimes Ziel verfolge. Wirtschaftliche Einbußen würden zudem durch Ausgleichszahlungen abgefedert. Über beide Entscheidungen berichtet LTO (Pauline Dietrich).

OVG Bautzen – Corona-Demonstration: Nach Meldung von spiegel.de hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht nun die Begründung des umstrittenen Eilbeschlusses zur "Querdenker"-Demonstration in Leipzig veröffentlicht. Bei einer polizeilichen Gefahrenprognose auf der Grundlage von 16.000 Teilnehmern hätte der von den Anmeldern gewünschte Platz in der Innenstadt tatsächlich genug Raum auch für die Einhaltung von Abstandsregeln geboten.

VerfGH Ba-Wü zu Corona/Landtagswahlrecht: Das Landtagswahlrecht in Baden-Württemberg verstößt mit seinen geltenden Bestimmungen zur Mindestanzahl nachzuweisender Unterschriften pro Wahlkreis angesichts pandemischer Zustände gegen die Chancengleichheit kleinerer Parteien. Dies urteilte nach Bericht von LTO der Verfassungsgerichtshof des Landes auf Klage von fünf nicht im Parlament vertretenen Parteien, unter ihnen die Linke. Den Klägern müsse die Chance eingeräumt werden, in den politischen Wettbewerb einzutreten. Hierzu zwar grundsätzlich zulässige Auflagen müssten dabei nach der aktuellen Situation angepasst werden.

BVerwG – Entlassung eines Beamten: Die SZ (Wolfgang Janisch) glossiert eine für den morgigen Donnerstag terminierte Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichts, bei der die Voraussetzungen der Entlassung eines Beamten diskutiert werden könnte. Ein Polizeiobermeister hatte nach seiner Verbeamtung quasi "durchgängig 15 Jahre Urlaub ohne Dienstbezüge" genommen und wurde, nachdem er ein Jahr unentschuldigt gefehlt hatte, schließlich aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Noch offen sei, ob diese Abwesenheit vorsätzlich oder lediglich grob fahrlässig gewesen sein müsste, um die Entfernung zu rechtfertigen.

LG Bremen – BAMF-Skandal: Im sogenannten Bamf-Skandal hat das Landgericht Bremen nun lediglich 24 beanstandete Fälle von mutmaßlich unrechtmäßig positiv beschiedenen Asylanträgen zur Anklage zugelassen. Angeklagt hatte die Staatsanwaltschaft 121 Straftaten. Wie die SZ (Ralf Wiegand) berichtet, ist zudem ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt wegen Urkundenunterdrückung anhängig. Mutmaßlicher Grund sei ein anonymes Schreiben, dessen Verfasser behaupte, Mitglied der 2018 zum Skandal eingesetzten Ermittlungsgruppe zu sein. In dem Schreiben würde dargelegt, dass einseitig zu Lasten der jetzigen Angeschuldigten ermittelt worden sei. Nachdem festgestellt worden sei, dass die allermeisten der fraglichen Asylbescheide nicht zu beanstanden gewesen waren, hätte "sich Verzweiflung unter den Ermittlern breitgemacht". Durch persönliche Befragungen der Asylbewerber seien dann belastende Sachverhalte ermittelt worden.

LG Bonn – DSGVO-Bußgeld: Mit seiner für den heutigen Mittwoch terminierten Entscheidung in Sachen 1&1 entscheidet das Landgericht Bonn erstmals über ein Millionen-Bußgeld wegen eines Verstoßes gegen die Datenschutzgrundverordnung. Rechtsanwalt Jonas Puchelt schreibt auf LTO, dass "bisher nicht höchstrichterlich entschiedene Kernfragen der Sanktionierung von DSGVO-Verstößen" zur Verhandlung standen. Das LG werde nun im Grundsatz darüber befinden müssen, ob es für Verhängung eines Bußgeldes auf die "Vorwerfbarkeit" des Handelns von konkreten Unternehmensvertretern ankommt. Außerdem gehe es um die Höhe des Bußgeldes, das 1&1 für unverhältnismäßig hält.

LG Heidelberg – SAP-Aufsichtsratswahl: Das Landgericht Heidelberg prüft derzeit die Vorgänge um die Aufsichtsratswahl 2012 beim Softwarehersteller SAP. Der Kläger behauptet, die Wahl eines noch amtierenden Arbeitnehmervertreters durch Werbeleistungen u.ä. unterstützt zu haben, jedoch um das hierfür vereinbarte Honorar geprellt worden zu sein. Der Beklagte bestreitet die Existenz einer Abrede, so das Hbl (Christof Kerkmann). "Das Pikante" am Verfahren bestehe im direkten Einfluss, den der Kläger als damaliges Aufsichtsratsmitglied auf die Wahl habe ausüben können.

LG Münster – Kindesmissbrauch: Vor dem am morgigen Donnerstag beginnenden Verfahren zum "aktuell größten deutschen Missbrauchskomplex" beklagt Reiner Burger (FAZ) im Medien-Teil den vom Landgericht Münster zu verantwortenden eingeschränkten Zugang von Pressevertretern. Zwar gebiete es der Opferschutz, die Öffentlichkeit von weiten Teilen der Verhandlung auszuschließen, dass lediglich fünf Journalisten akkreditiert wurden, unter ihnen lediglich einer für eine überregionale Tageszeitung, sei auch mit "Verweis auf die Corona-Pandemie" nicht akzeptabel.

AG Stuttgart zu Krawallnacht: In zwei Verfahren gegen Teilnehmer der sogenannten Krawallnacht vom Juni hat das Amtsgericht Stuttgart zwei junge Männer u.a. wegen besonderes schweren Landfriedensbruchs zu mehrjährigen Jugendstrafen verurteilt. faz.net schreibt, dass sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung des Heranwachsenden für eine Bewährungsstrafe plädiert hatten. spiegel.de berichtet ebenfalls.

GBA – Folter in Syrien: Mit Unterstützung des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat ein Deutscher, der als humanitärer Helfer 2018 sieben Wochen in einem syrischen Gefängnis festgehalten und gefoltert wurde, Anzeige beim Generalbundesanwalt erstattet. Seine Erlebnisse beschreibt die SZ (Moritz Baumstieger/Lena Kampf) in einer Seite-Drei-Reportage.

Recht in der Welt

EGMR – Pressefreiheit in der Türkei: Die Inhaftierung von acht türkischen Journalisten und einem Zeitungs-Geschäftsführer wegen angeblicher Terrorpropaganda nach dem gescheiterten Putsch verletzt die Meinungsfreiheit und das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Dies entschied nach Bericht der FAZ (Rainer Herrmann) der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Den erfolgreichen Klägern wurde zugleich eine Entschädigung zugesprochen. Die türkische Staatsanwaltschaft habe immer noch keine glaubwürdigen Belege für ihre Anschuldigungen vorlegen können.

EGMR – Alexander Nawalny: Bereits zum siebten Mal hat Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein Verfahren gegen Alexander Nawalny verloren. LTO berichtet, dass die Föderation diesmal eine Entschädigung wegen entwürdigender Behandlung bei einer Festnahme im Jahr 2012 zahlen muss.

Spanien – Islamisten: Gegen drei Überlebende einer mutmaßlichen islamistischen Terrorzelle ist am Obersten Strafgerichtshof das Verfahren eröffnet worden. Die Angeklagten sollen Mitglieder einer Gruppe gewesen sein, die am 17. August 2017 in Barcelona und Umgebung 16 Menschen ermordete, so die FAZ (Hans-Christian Rößler). Die Taten sollen unter Anleitung eines bei der Explosion der mutmaßlichen Bombenbauwerkstatt der Gruppe verstorbenen Imams geplant und durchgeführt worden sein.

Sonstiges

Giffey – Plagiatsvorwürfe: In ihrem Forschung und Lehre-Teil kritisiert die FAZ (Patrick Bahners) die Entscheidung der Freien Universität Berlin, ihre im Oktober 2019 der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) erteilte Rüge aufzuheben. Eine neue Entscheidung darüber, ob der Ministerin ihr Doktortitel aberkannt werden solle, sei auch nach dem von Staatsrechtler Ullrich Battis angefertigten Gutachten nicht angezeigt, die Ankündigung lasse hingegen erwarten, dass das Ergebnis des neuen Verfahrens bereits feststehe. Soweit man sich der "wichtigen hochschulpolitischen und wissenschaftsethischen Frage" der "Abstufung von Schweregraden" bei Plagiaten widmen wolle, dürfe dies "nicht auf dem Rücken von Franziska Giffey" geschehen.

Das Letzte zum Schluss

Blitzgescheit: Verrechnet hat sich ein 23-Jähriger, der einen Geschwindigkeitsblitzer überlisten wollte. In der irrigen Annahme, beim Fahren eines von einer nicht mehr aktiven Firma geleasten Fahrzeugs nicht ermittelt werden zu können, sei der Mann mindestens 20 Mal am Blitzer vorbeigefahren. LTO schreibt, dass er dabei Grimassen gezogen oder auch einen Döner hochgehalten habe. Nachdem das Fahrzeug zufällig von einer Mitarbeiterin der zuständigen Kreisbußgeldstelle entdeckt wurde, konnte der Mann gefunden werden.

 

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lto/mpi

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 11. November 2020: Scheitert EU-Haushalt an Sanktionen? / Maskenpflicht an Bayerns Schulen gelockert / Wende im BAMF-Skandal? . In: Legal Tribune Online, 11.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43384/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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