Die juristische Presseschau vom 7. September 2018: Selbst­kritik wegen Staufen / Neu­schwan­stein bleibt Marke / IstGH für Myanmar zuständig

07.09.2018

Justiz und Behörden haben als Reaktion auf den Staufen-Fall Empfehlungen erarbeitet. Außerdem in der Presseschau: EuGH hält die Marke "Neuschwanstein" für schutzwürdig. IStGH hält sich bei Verbrechen an den Rohingya für zuständig.

Thema des Tages

Aufarbeitung Staufen: Das Oberlandesgericht Karlsruhe, das Amtsgericht Freiburg und das Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald (Jugendamt) haben im März 2018 eine gemeinsame Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung des Staufener Missbrauchsfalls gebildet, die jetzt ihren Bericht vorlegte. In Staufen war ein neunjähriger Junge von seiner Mutter und ihrem pädophilen Lebensgefährten missbraucht und im Darknet fremden Männer zum bezahlten Missbrauch angeboten worden. Das Jugendamt hatte wegen der riskanten Konstellation das Kind in Obhut genommen, was das Amts- und das Oberlandesgericht aber beanstandeten. Der Aufarbeitungsbericht legt die damaligen Abläufe detailliert dar und gibt Empfehlungen. So solle ein Kind grundsätzlich angehört werden. Wenn die Anhörung unterbleibt, müsse dies begründet werden. Der Informationsfluss zwischen den Behörden, z.B. zwischen Polizei und Jugendamt, müsse verbessert werden, ohne das gefährdende Umfeld vorschnell zu warnen. Gerichtliche Auflagen an Eltern müssten wirksam kontrolliert werden. Schon im Gericht müsse geklärt werden, wer für die Kontrolle der Auflagen zuständig ist. Über den Bericht informieren die FAZ (Helene Bubrowski), die SZ (Ralf Wiegand) und tagesschau.de (Frank Bräutigam).

Derzeit würden die geltenden Standards für die Anhörung von Kindern vor Gericht "systematisch unterlaufen", kritisiert die Anwältin Anne Lütkes im Interview mit der Welt (Sabine Menkens). Lütkes ist Vizepräsidentin des Kinderhilfswerks und war für die Grünen Justizministerin von Schleswig-Holstein. An diesem Freitag veranstalten Kinderhilfswerk und Bundesfamilienministerium eine Fachtagung zum Thema "kindgerechte Justiz"

Rechtspolitik

IT-Sicherheitslücken: Auf netzpolitik.org stellt Sven Herpig (Stiftung neue Verantwortung) einen Vorschlag seiner Stiftung zum staatlichen Umgang mit Sicherheitslücken in IT-Geräten und Software vor. Sicherheitsbehörden sollten diese ausnahmsweise ausnutzen dürfen. Allerdings sollten sich alle relevanten Behörden monatlich darüber verständigen, ob das Offenhalten der Sicherheitslücke noch verantwortet werden kann.

Parteiengesetz: Rechtsprofessor Christoph Gusy fordert auf verfassungsblog.de eine Modernisierung des Parteiengesetzes. Sonst würden sich neue Entwicklungen nicht in Parteien, sondern in informellen Bewegungen wie "Aufstehen" ausdrücken.

Asylprozess: "Die vom allgemeinen Verwaltungsprozessrecht abweichenden Regelungen im Asylrecht sind in der Summe rechtsstaatlich höchst problematisch und bedürfen dringend der gesetzgeberischen Überprüfung." Zu diesem Schluss kommt Rechtsanwalt Reinhard Marx, der auf verfassungsblog.de  die Abweichungen, zum Beispiel bei den Fristen, darstellt. Derzeit erschwere das Prozessrecht den Grundrechtsschutz.

Umwandlungsgesetz: Deutsche Unternehmen, die eine englische Rechtsform wie Ltd. oder PLC gewählt haben, sollen nach dem Brexit ihre Niederlassungsfreiheit nicht verlieren. Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) hat daher einen Referentenentwurf zur Änderung des Umwandlungsgestzes vorgelegt, das solchen Unternehmen durch Verschmelzung die Annahme einer deutschen Rechtsform wie der GmbH ermöglichen würde, berichtet das Hbl (Heike Anger). Details präsentiert community.beck.de (Cornelius Wilk).

Bestellerprinzip: Der Makler Sassan Hilgendorf kritisiert im Interview mit der FAZ (Michael Psotta) die von der Bundesregierung geplante Einführung des Bestellerprinzips auch beim Kauf von Immobilien. Fairer sei es, wenn die Maklerkosten von Verkäufer und Käufer gemeinsam getragen würden.

Justiz

EuGH zur Marke Neuschwanstein: Bayern kann die 2011 eingetragene Unions-Marke "Neuschwanstein" behalten, entschied jetzt der Europäische Gerichtshof. Neuschwanstein stelle keine geografische Herkunftsbezeichnung dar. Das Schloss könne "zwar geografisch lokalisiert, aber nicht als geografischer Ort angesehen werden". Die Anwältinnen Astrid Harmsen und Andrea Schlaffge stellen auf lto.de das Urteil vor, das sie für folgenreich halten. Es könnte "einen rasanten Anstieg an Markenanmeldungen" nach sich ziehen. "Besitzer bekannter Sehenswürdigkeiten könnten versuchen, den Namen eines Museums oder Kulturerbes markenrechtlich zu schützen."

EuGH zur Entsendung von Beschäftigten: Wird ein entsandter Arbeitnehmer durch einen anderen entsandten Arbeitnehmer abgelöst, liegt keine Entsendung im Sinne des Unionsrechts vor, entschied jetzt der Europäische Gerichtshof. Er falle dann unter das System der sozialen Sicherheit am Arbeitsort, auch wenn die beiden Arbeitnehmer nicht von demselben Arbeitgeber entsandt wurden. Die Anwältin Michaela Felisiak stellt das Urteil auf lto.de vor. Die FAZ (Dietrich Creutzburg) stellt fest, dass das Urteil auch große Auswirkungen auf die Beschäftigung privater osteuropäischer Pflegekräfte in deutschen Familien haben könnte.

BGH zu Mord an chinesischer Studentin: Der Bundesgerichtshof hat alle Revisionen gegen das Urteil des Landgerichts Dessau verworfen. Das Landgericht hatte den Haupttäter, der eine chinesische Studentin vergewaltigt und dann ermordet hatte, zu lebenslanger Haft verurteilt. Seine Freundin, die das Opfer ins Haus gelockt und an der Vergewaltigung teilgenommen hatte, erhielt aber nur eine Jugendstrafe wegen sexueller Nötigung. Der BGH hielt jetzt die Annahme des Landgerichts für rechtsfehlerfrei, die Freundin habe nicht mit der Ermordung der Studentin rechnen müssen. Es berichten die SZ (Annette Ramelsberger) und spiegel.de (Wiebke Ramm).

BVerwG zu Verfassungstreue: Ein Ex-Funktionär der rechtsextremistischen Gruppierung "Pro NRW" durfte aus dem Polizeidienst entfernt werden. Das entschied das Bundesverwaltungsgericht, wie die FAZ (Reiner Burger) meldet.

OLG Braunschweig zu Fan-Gewahrsam: Die Ingewahrsamnahme eines Werder-Bremen-Fans durch die Polizei auf der Fahrt zu einem Auswärtsspiel beim VfL Wolfsburg war rechtswidrig, entschied laut lto.de das Oberlandesgericht Braunschweig. Ein Fußballfan sei nicht schon deshalb gefährlich, weil er der Ultra-Szene angehört. Auch der Umstand, dass andere, polizeibekannte Ultras im Bus mitfuhren, begründe eine solche Annahme nicht. Selbst bevorstehende Straftaten aus der Gruppe heraus rechtfertigten laut OLG nicht den Gewahrsam gegen jedes Gruppenmitglied.

Verwaltungsgerichte zu Fahrverboten:. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat die Verhängung von Zwangsgeld gegen die NRW-Landesregierung abgelehnt. Diese habe die Einführung eines Dieselfahrverbots zur Luftreinhaltung "ernstlich geprüft". Mehr habe das Gericht in seinem Grundurteil von 2016 nicht verlangt. Am Mittwochabend hatte das Verwaltungsgericht Wiesbaden Dieselfahrverbote für Frankfurt/M. verlangt. Es berichten die FAZ (Reiner Burger), die taz (Christian Rath) und lto.de.

Holger Appel (FAZ) kritisiert das Wiesbadener Urteil. Es sei unverhältnismäßig, Fahrverbote für das gesamte Stadtgebiet zu fordern, wenn nur zwei Messstellen überhöhte Werte melden. Eine Pflicht der Autoindustrie zur kostenlosen Nachrüstung von Diesel-Pkw lehnt er ab, da sich die Hersteller (außer VW) nicht rechtswidrig verhalten hätten. Christian Rath (taz.de) stellt fest, dass schon die Gerichtsverfahren und "der Streit ums Nichtstun" zum Austausch von schmutzigeren durch relativ saubere Fahrzeuge führten und so die Luft verbesserten.

EuGH – Ausweiskontrollen durch Busfahrer: Deutschland darf Beförderungsunternehmen nicht verpflichten, die Pässe ihrer Passagiere zu überprüfen, wenn sie aus EU-Ländern nach Deutschland fahren. Solche Kontrollen kämen Grenzkontrollen gleich, die nach dem Schengener Grenzkodex verbotenen sind, argumentierte Generalanwalt Yves Bot laut lto.de in seinem Schlussantrag. Ausnahmen gälten nur, wenn Beförderungsunternehmen ihre Tätigkeit nutzten, um Drittstaatsangehörigen vorsätzlich Beihilfe bei der illegalen Einreise zu leisten.

EuGH  Facebooks Like-Button: Die Anwältin Senta Leyke weist auf lto.de auf ein Verfahren hin, über das am Mittwoch am Europäischen Gerichtshof mündlich verhandelt wurde. Es geht um die datenschutzrechtliche Verantwortung für den Like-Button bei Facebook. Sie geht davon aus, dass der EuGH (wie beim Betreiben einer Fan-Page) auch demjenigen eine datenschutzrechtliche Mitverantwortung zuweist, der einen Like-Button auf seiner Seite einbindet, weil der Button Daten an Facebook übermittle.

OLG Braunschweig  VW-Anleger: Nun berichtet auch die SZ (Klaus Ott/Angelika Slavik) über den am Montag beginnenden Prozess von VW-Aktionären gegen VW. Es geht um die Frage, ob VW die Anleger zu spät über den Dieselskandal informierte. Es werden 9 Mrd. Euro Schadensersatz gefordert. Der Klägeranwalt Andreas Tilp versuche, den Abgasskandal mit der Übernahmeschlacht zwischen VW und Porsche zu verbinden, wofür es aber keine handfesten Belege gebe.

OLG München  Marke "Ballermann": Das Oberlandesgericht München muss darüber entscheiden, ob der Begriff "Ballermann" inzwischen zu einem Gattungsbegriff für billige Alkoholvergnügungen geworden ist und als Marke gelöscht werden muss. Konkret geht es um einen Rechtsstreit zwischen einer Diskothenbetreiberin, die für eine Ballermann-Party keine Lizenzgebühren an die Markeninhaber zahlen wollte. lto.de schildert den Fall. Das Urteil soll am 27. September verkündet werden.

LG Paderboern  Höxter: Im Mordprozess zum sogenannten Horrorhaus von Höxter haben die Verteidiger des Angeklagten Wilfried W. eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchten Mordes sowie die Einweisung in die Psychiatrie beantragt. Die Anwälte versuchen, eine lebenslange Freiheitsstrafe zu verhindern. Es berichten die SZ (Hans Holzhaider) und zeit.de.

LG Hannover  Mauteinnahmen A 1: Der Bund will einen Vergleichsvorschlag des Landgerichts Hannover ablehnen. Danach sollte der Bund dem privaten Betreiber der Autobahn A 1 zwischen Hamburg und Bremen über 30 Jahre zusätzliche Zahlungen in Höhe von mehr als einer halben Milliarde Euro zusagen, um dessen Insolvenz abzuwenden. Der Betreiber hatte die Autobahn ausgebaut, dann waren aber wegen der Finanzkrise die Mauteinnahmen geringer ausgefallen als erwartet. Möglicherweise fällt am heutigen Freitag bereits ein Urteil, schreibt die SZ (Markus Balser).

GenStA Dresden  Chemnitz: Bei der Generalstaatsanwaltschaft Dresden laufen derzeit 120 Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit  den Vorfällen in Chemnitz. Es geht dabei um Delikte wie Landfriedensbruch, Körperverletzung, Beleidigung und Zeigen des Hitler-Grußes, so spiegel.de.

Recht in der Welt

IStGH  Myanmar/Rohingya: Der Internationale Strafgerichtshof hat ein Verfahren gegen Myanmar wegen Verbrechen an der Gruppe der Rohingya zugelassen, obwohl Myanmar das Statut des IStGH nicht ratifiziert hat. Grund für die Zulässigkeit sei, dass ein Teil der Verbrechen auf dem Boden von Bangladesh stattgefunden habe und Bangladesh Vertragsstaat sei, so zeit.de.

Indien  Homosexualität: Das Oberste Gericht Indiens hat Paragraf 377 des indischen Strafgesetzbuchs, der die Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen statuiert, für verfassungswidrig erklärt. Er sei irrational und willkürlich. Das Verbot stammte noch aus der britischen Kolonialzeit. Es berichten die SZ (Arne Perras) und die taz (Britta Petersen).

USA  Supreme-Court-Richter: Die FAZ (Majid Sattar) berichtet ausführlich über die Anhörung des von Donald Trump vorgeschlagenen Kandidaten für den U.S. Supreme Court, Brett Kavanaugh. Die Atmosphäre im Senats-Ausschuss sei "vergiftet" gewesen.

Sonstiges

beA: lto.de (Pia Lorenz) weist darauf hin, dass Anwälte leicht erkennen können, ob ihr anwaltlicher Prozessgegner bereits sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach aktiviert hat. "Womöglich könnte es eine anwaltliche Pflicht begründen, Nachrichten an ein noch nicht aktiviertes beA zu versenden", so Lorenz. Eine Frist an eine Adresse zu senden, die der Gegner gar nicht abruft, obwohl er es müsste, dürfte der sicherste Weg sein, damit er die Frist versäumt.

BAMF und Stillhaltezusagen: Vertreter der Anwaltschaft und der Richterschaft kritisierten laut lto.de (Markus Sehl), dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Asylstreitigkeiten keine Stillhaltezusagen mehr geben will. Das führe zu Mehraufwand bei den Gerichten, weil diese nun stets Hängebeschlüsse fassen müssen. Das BAMF hatte darauf verwiesen, dass nur die Ausländerbehörden verbindliche Aussagen über Abschiebetermine machen könnten.

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/chr

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 7. September 2018: Selbstkritik wegen Staufen / Neuschwanstein bleibt Marke / IstGH für Myanmar zuständig . In: Legal Tribune Online, 07.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30809/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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