Die juristische Presseschau vom 7. Juli 2020: Unver­hält­nis­mäßig in Gütersloh / Plä­doyer zu Stutt­hofer KZ-Wach­mann / G20-Frei­spruch

07.07.2020

Das OVG NRW hebt per Eilbeschluss die Lockdown-Maßnahmen im Kreis Gütersloh auf. Mit dem Verfahren gegen KZ-Wachmann Bruno D. geht einer der letzten NS-Prozesse zu Ende und ein ungewöhnlicher Freispruch zu Hamburger G20-Ausschreitungen.

Thema des Tages

OVG NRW zu Gütersloh-Lockdown: Die im Kreis Gütersloh infolge massenhafter Infektionen in einem Schlachtbetrieb am 23. Juni verfügten Kontaktbeschränkungen sind vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen außer Kraft gesetzt worden. Die aufgrund der zweiten Corona-Regionalverordnung angeordneten Maßnahmen seien voraussichtlich rechtswidrig, so das Gericht in einem Eilbeschluss. Zwar sei zunächst geboten gewesen, nach dem jüngsten Ausbruch Maßnahmen zu ergreifen, schreibt lto.de zum Beschluss. Verschiedene Städte und Gemeinden des Kreises wiesen aber mittlerweile erhebliche Unterschiede bei ihren Infektionszahlen auf. Die umstandslose Fortgeltung kreisweiter Einschränkungen sei "nicht mehr mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Gleichbehandlungsgrundsatz zu vereinbaren", zitiert die SZ (Jana Stegemann) aus dem Beschluss, über den auch der FAZ-Einspruch (Jonas Jansen) berichtet. Die Beschränkungen waren bis zum Ablauf des morgigen Mittwoch befristet.

Wolfgang Janisch (SZ) bezeichnet die Entscheidung als einen "Lehrfall für die kommenden Monate". Zwar seien Einschränkungen zu Beginn des Pandemiegeschehens von Gerichten "überwiegend bestätigt" worden. Mit wachsendem Wissen über Infektionsrisiken müssten aber auch Eingriffe in die Freiheit schonender erfolgen. Hierfür biete "der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein präzises Instrument".

Rechtspolitik

Kindesmissbrauch: Die absehbare Mindeststrafenerhöhung im Bereich des Kindesmissbrauchs kritisiert Rechtsprofessor Jörg Eisele auf lto.de als "teilweise symbolische ad hoc-Strafgesetzgebung". Die schwersten Fälle derartiger Kriminalität wären von der Reform nicht erfasst. Bei höheren Mindeststrafen drohe zudem die Unmöglichkeit, den einzelnen Begehungsformen mit einem differenzierten Instrumentarium entgegenzutreten.

Hasskriminalität im Internet: Zum Auftakt des Treffens der europäischen Justizminister hat sich die zuständige EU-Kommissarin Vera Jourova für einen "europäischen Ansatz" im Kampf gegen Hassreden im Internet ausgesprochen. Eine Evaluierung des 2016 eingeführten Verhaltenskodex hätte ergeben, dass freiwillige Verpflichtungen von Netzwerkanbietern nicht reichten, berichtet die FAZ (Thomas Gutschker). Entsprechende rechtliche Pflichten könnten im Rahmen eines Gesetzes über digitale Dienstleistungen formuliert werden.

Justiz

BVerfG zu "Doktormacher": In einem nun veröffentlichten Nichtannahmebeschluss von Ende Mai hat das Bundesverfassungsgericht mitgeteilt, dass es "jedenfalls zweifelhaft" sei, ob eine Universitätssatzung hinreichende Rechtsgrundlage für den mit späterem Fehlverhalten begründeten Entzug eines Doktortitels sein kann. Die von einem vor mehr als einem Jahrzehnt als "Doktormacher" bekannt gewordenen Mann erhobene Verfassungsbeschwerde gegen den vom Bundesverwaltungsgericht bestätigten Entzug seines Titels wurde wegen Begründungsmängeln gleichwohl nicht zur Entscheidung angenommen. Dies berichtet lto.de.

OLG Köln zu Deutsche Bank/Postbank: Die Deutsche Bank hat die beim Oberlandesgericht Köln eingelegte Berufung gegen ein Urteil aus dem Herbst 2017, in dem ein Hauptversammlungsbeschluss zum Umgang mit Aktionären der schließlich übernommenen Postbank für nichtig erklärt wurde, zurückgenommen. Der Aufwand stehe in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen Bedeutung dieses Anfechtungsverfahrens, zitiert die FAZ (Tim Kanning) einen Sprecher des Geldhauses. Ein weiteres, bei einem anderen Senat des OLG anhängiges Verfahren, bei dem sich in den letzten Monaten zahlreiche prominente Zeugen auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen hatte, werde aber weiter betrieben.

OLG Frankfurt/M. zu Sorgerecht von IS-Rückkehrerin: Nach Bericht von lto.de hat das Oberlandesgericht Frankfurt/M. den Entzug des Sorgerechts einer sogenannten IS-Rückkehrerin für ihre vier Kinder für rechtmäßig erklärt. Für die Entscheidung sei die Gesinnung der in Haft befindlichen Frau unerheblich gewesen. Vielmehr sei die beantragte Betreuung der Kinder durch deren Großmutter nicht kindeswohlförderlich.

LG Frankfurt/M. – Alexander Falk: Vor den am Landgericht Frankfurt/M. am heutigen Dienstag geplanten Plädoyers von Anklage und Verteidigung unternimmt lto.de (Pia Lorenz) einen vertieften Blick auf das Strafverfahren gegen Alexander Falk. Zu den zahlreichen Merkwürdigkeiten des Verfahrens gehöre auch, dass der gegen Falk ursprünglich erhobene Vorwurf der Anstiftung zu einem Mord aus "bisher zumindest der Öffentlichkeit nicht bekannten Gründen" nur mehr als Vorwurf der Anstiftung zu einer gefährlichen Körperverletzung aufrechterhalten worden sei. Nach zwei Abweisungen von Anträgen zur Entlassung aus der U-Haft spreche vieles dafür, dass der Angeklagte am Donnerstag verurteilt wird.

LG Hamburg – KZ-Wachmann Stutthof: Im Strafverfahren gegen einen ehemaligen Wachmann im KZ Stutthof hat die Staatsanwaltschaft am Landgericht Hamburg die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen gefordert. Über das bisweilen im Stile eines "juristischen Proseminars" gehaltene Plädoyer berichtet die taz (Klaus Hillenbrand) und resümiert zum Thema der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen gleichzeitig, "die bundesdeutsche Justiz hat gelernt". Dieser Lernprozess habe indes leider erst zu einer Zeit eingesetzt, "als die meisten Täter längst verstorben waren". Der Bericht der SZ (Ralf Wiegand) fasst auch die zum Angeklagten erstellten psychiatrischen Gutachten zusammen. Das Urteil ist für den 23. Juli geplant.

LG Dortmund zu Überfall auf Lehrer: Wegen versuchten Mordes hat das Landgericht Dortmund einen 17-Jährigen zu einer mehrjährigen Jugendstrafe verurteilt. Der Jugendliche hatte versucht, seinen Lehrer in einen Hinterhalt zu locken, um ihn zu erschlagen. Von der Urteilsverkündung berichtet bild.de (Andreas Wegener).

LG Freiburg – Gruppenvergewaltigung: In ihrem Plädoyer hat die Staatsanwaltschaft am Landgericht Freiburg die Verurteilung von acht der elf Angeklagten wegen Vergewaltigung und mehrjährige Haftstrafen beantragt. Die Öffentlichkeit war beim Plädoyer nicht zugelassen, schreibt spiegel.de. Dies gelte auch für die Plädoyers der Verteidigung. Ein Urteil solle Mitte Juli folgen.

ArbG Bielefeld – Tönnies: Am Arbeitsgericht Bielefeld ist derzeit die Kündigungsschutzklage einer Mitarbeiterin des von Clemens Tönnies geleiteten Fleischwerks anhängig. Der Frau war vorgeworfen worden, ein Video mit Aufnahmen der Kantine des Werkes angefertigt und mit kritischen Kommentaren versehen zu haben, schreibt Rechtsanwalt Alexander Willemsen auf lto.de und legt im Weiteren dar, unter welchen Umständen das beanstandete Verhalten nach der 2019 verabschiedeten EU-Whistleblower-Richtlinie sanktionslos bleiben könnte. Weil die Umsetzung der Richtlinie erst zum Dezember 2021 erfolgen muss, werde das ArbG bei seiner Entscheidung einen Ausgleich zwischen dem "Geben von Hinweisen auf ansonsten unerkannte Missstände" und geschäftsschädigenden Indiskretionen schaffen müssen.

AG Hamburg-Altona zu G20-Ausschreitungen: Am Hamburger Amtsgericht Altona ist ein früherer Polizist wegen eines Dosenwurfs im Rahmen der G20-Ausschreitungen freigesprochen worden. Der Mann war privat in Hamburg und hatte sich nach eigenem Bekunden über die Brutalität der von ihm dort wahrgenommenen Polizeieinsätze echauffiert. Nach Einschätzung des Gerichts habe er aber weder beabsichtigt noch in Kauf genommen, jemanden mit seinem Dosenwurf zu verletzen, schreibt zeit.de (Elke Spanner) von der Urteilsverkündung. Das Verfahren sei dennoch bemerkenswert, weil dies bislang die einzige G20-Anklage gegen einen Polizisten darstellte. Hierzu seien 157 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.

StA Köln – Clifford Chance: Wegen des Verdachts der Strafvereitelung ermittelt die Staatsanwaltschaft Köln gegen den Leiter der Steuerpraxis der Großkanzlei Clifford Chance und einen weiteren Anwalt der gleichen Kanzlei. Den Juristen werde die Behinderung einer im Zusammenhang von Cum Ex-Ermittlungen gegen eine Bank unternommenen Durchsuchung vorgeworfen, schreibt das Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier), das nach der Einsicht in interne Dokumente der Kanzlei als mögliche Erklärung für das Verhalten der Anwälte "Selbstschutz" nennt.

Recht in der Welt

Russland – Journalistin: Wegen "Rechtfertigung des Terrorismus" hat ein Gericht in Pskow/Russland die Journalistin Swetlana Prokopjewa zu einer Geldstrafe verurteilt. Prokopjewa hatte in einem Kommentar zu einem Bombenanschlag eines dabei verstorbenen 17-Jährigen auf ein Gebäude des Geheimdienstes die Vermutung geäußert, die Unterdrückung friedlichen Protests treibe junge Menschen zu solchen Taten, so die FAZ (Reinhard Veser). Die Staatsanwaltschaft habe eine sechsjährige Haftstrafe gefordert.

USA – Supreme Court: In einem Hintergrundartikel befasst sich die FAZ (Patrick Bahner) mit jüngsten Urteilen des Obersten Gerichts in den USA und stellt eine eigentümliche Koalition zwischen dem zuletzt ernannten Richter Neil Gorsuch und der vermeintlich liberalen Minderheit der noch von demokratischen Präsenten ernannten Richter fest. Beide folgten dem als "Textualismus" bezeichneten Verständnis des verstorbenen Richters Antonin Scalia, nach dem allein der Wortsinn einer Bestimmung entscheidend für ihre Auslegung sei.

USA – Electoral College: Nach einer von spiegel.de gemeldeten Entscheidung des Obersten Gerichts der USA haben die dortigen Bundesstaaten das Recht, Mitglieder des Electoral College, die sich bei der Präsidentenwahl nicht an das Votum ihres Bundesstaates halten, zu sanktionieren.

Sonstiges

Social-Media-Accounts der Polizei: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Tobias Mast beschreibt auf verfassungsblog.de verfassungsrechtliche Vorgaben für den Inhalt der immer beliebter werdenden Twitter-Kanäle der Polizei. Neben einem thematischen Aufgabenbezug nennt der Autor Sachlichkeit und Richtigkeit als maßgebliche Kriterien, deren Verletzung Followerinnen und Follower zwar nicht persönlich geltend machen könnten, für die aber "alternative Kontroll- und Rügemechanismen" wie etwa ein dem Datenschutzbeauftragten nachempfundenes Amt sinnvoll wären.

Racial Profiling: Gudula Geuther (deutschlandfunk.de) hält es für "ein Armutszeugnis" und "eine vertane Chance", dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) einer angedachten Studie zum sogenannten Racial Profiling bei der Polizei eine vorläufige Absage erteilt hat. Tatsächlich dürfe die Polizei mit objektiven und vernünftigen Gründen Kontrollen auch nach äußeren Kriterien vornehmen. Zur notwendigen Ziehung von Grenzen bedürfe es aber Fakten statt "unterschiedlicher gefühlter Wahrheiten".

Adjukation: Das Hbl (Heike Anger) stellt die Adjukation als alternatives Instrument zur außergerichtlichen Streitbeilegung vor. Die "zwischen der Mediation und der Schiedsgerichtsbarkeit" anzusiedelnde Adjukation sei bislang hierzulande vor allem bei Baustreitigkeiten zum Einsatz gekommen. Sie schaffe relativ kurzfristig Entscheidungen, bei deren Nichtbefolgung Betroffenen Schadensersatzforderungen drohen, die wiederum gerichtlich überprüft werden können.

Oury Jalloh: Die vom sachsen-anhaltinischen Landtag eingesetzten Sonderermittler Jerzy Montag und Manfred Nötzel werden bei ihren Ermittlungen zu möglichen Justizfehlern bei der Aufarbeitung des Todes von Oury Jalloh bis auf weiteres keine direkten Gespräche mit Staatsanwälten und Richtern führen können. In einem Brief an den Rechtsausschuss des Landtags habe der Staatssekretär des Justizministeriums "durchgreifende Bedenken" geltend gemacht, berichtet spiegel.de (Timo Lehmann).

 

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lto/mpi

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 7. Juli 2020: Unverhältnismäßig in Gütersloh / Plädoyer zu Stutthofer KZ-Wachmann / G20-Freispruch . In: Legal Tribune Online, 07.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42117/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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