Die juristische Presseschau vom 2. Dezember 2020: Erfolg für Crowd­worker / StAn bald unab­hängig? / Ron­den­barg-Pro­zess beginnt

02.12.2020

Nach Ansicht des BAG kann ein Crowdworker auch Angestellter sein. Der Europäische Haftbefehl könnte die Weisungsgebundenheit deutscher Staatsanwaltschaften beenden und Prozessbeginn dreieinhalb Jahre nach G20-Ausschreitungen.

Thema des Tages

BAG zu Crowdworking: Anders als die Vorinstanzen entschied das Bundesarbeitsgericht, dass ein als sogenannter Crowdworker tätiger bayerischer Kläger "in arbeitnehmertypischer Weise" weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit erbringe und damit im Verhältnis zu der Plattform, die ihm Aufträge vermittelt hatte, Arbeitnehmer sei. Hierfür spreche nach Ansicht des BAG eine Gesamtwürdigung der Umstände, berichtet die FAZ (Marcus Jung/Bastian Benrath). Die gleichfalls vom Kläger geltend gemachten Vergütungsansprüche müssten nun aber noch vom Landesarbeitsgericht München geprüft werden, so Rechtsprofessor Michael Fuhlrott auf LTO in einer detaillierten Darstellung des Sachverhalts und der klägerischen Argumentation. Dass mit dem Urteil das Geschäftsmodell von Vermittlungsplattformen beendet sei, könne man angesichts der Besonderheiten des Falls nicht annehmen. Betroffene Plattformen seien aber gut beraten, ihre konkreten Vertragsbedingungen zu prüfen und ggfls. anzupassen, wollen sie nicht die gegenüber Arbeitnehmenden bestehenden Verpflichtungen eingehen. beck-aktuell (Joachim Jahn) und taz.de (Christian Rath) berichten ebenfalls.* 

Rechtspolitik

Weisungsrecht gegenüber Staatsanwaltschaften: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Europäischen Haftbefehl (EuHB) setzt eine Diskussion über die gesetzliche Abschaffung des ministeriellen Weisungsrechts gegenüber deutschen Staatsanwaltschaften in Gang. Nach der jüngsten Entscheidung des EuGH zur Vollstreckung des EuHB hat die niedersächsische Generalstaatsanwaltschaft als Koordinationsstelle der deutschen Generalstaatsanwaltschaften für den EuHB nun in einer Stellungnahme eine Gefährdung der Rechtsstellung der Anklagebehörden öffentlich gemacht und den Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert, schreibt LTO (Alexander Cremer/Markus Sehl). Eine Reform könnte die Abschaffung des Weisungsrechts zumindest für den Bereich der strafrechtlichen Zusammenarbeit vorsehen, wird die Berliner Generalstaatsanwältin Margarete Koppers zitiert.

Bundesgerichte: beck-aktuell (Tobias Freudenberg) befragt den Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Volkert Vorwerk aus Anlass aktueller Diskussionen über das Anforderungsprofil für Richterstellen an Bundesgerichten zu seinen Vorstellungen hinsichtlich des Senatsvorsitzes sowie dem Vorwurf einer Politisierung der Bundesjustiz.

EU-Rechtsstaatlichkeit: In einem Gastbeitrag für den FAZ-Einspruch schlägt Katja Isabel Leikert, stellvertretende Bundestags-Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, als Ausweg aus der verfahrenen Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn die Schaffung eines unabhängigen Gremiums von Richtern aus den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten vor. Dieses Gremium könnte strittige Fragen begutachten und Empfehlungen unterbreiten. Obgleich die aktuelle Diskussion etwa zur polnischen Justizreform die Existenz einer "europäischen Innenpolitik" belege, schädige die "gefühlte Spaltung" in "gute" und "schlechte" Europäer "die Position Europas in der Welt".

Bundespolizeigesetz: Auch LTO und taz (Christian Rath) berichten nun zu der innerhalb der Regierungskoalition erzielten Verständigung über die Kernpunkte der Reform des Bundespolizeigesetzes.

Gemeinnützigkeit: In einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ beklagt Stefan Diefenbach-Trommer, Vorstand der Allianz "Rechtssicherheit für politische Willensbildung", dass sich die Unionsfraktion im Bundestag der geplanten gesetzgeberischen Klarstellung zu Voraussetzungen der Gemeinnützigkeit widersetzt. Somit müssten Vereine und Stiftungen, die sich neben ihrem eigentlichen Zweck auch zu allgemein politischen Themen wie Rassismus äußerten, noch immer mit finanziellen Sanktionen rechnen.

Justiz

LG Hamburg – G20-Ausschreitungen: Für den morgigen Donnerstag ist der erste Strafprozess zum sogenannten Rondenbarg-Komplex der Ausschreitungen beim G20-Gipfel im Juli 2017 am Landgericht Hamburg terminiert. Das Verfahren gegen zur Tatzeit Minderjährige wird vermutlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, schreibt die taz (Marco Carini)Den Angeklagten wird die Teilnahme an der Demo vorgeworfen, aus der heraus in der Rondenbarg-Straße Polizisten angegriffen wurden. Dass die Staatsanwaltschaft aus diesem Umstand einen gemeinsamen Tatplan aller Demonstranten ableite, sei umstritten. taz-Nord (Katharina Schipkowski) bringt ein Interview mit einem der Angeklagten. Der Stuttgarter spricht über seine politische Einstellung, seine Wahrnehmungen am Rondenbarg sowie seine Straferwartung.

EuGH zu LKW-Fahrern: Die EU-Entsenderichtlinie gilt nach einem Urteil der großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs auch für Transportdienstleister. Damit ist die bislang umstrittene Frage, ob sich europaweit tätige LKW-Fahrer auf am Sitz ihres Unternehmens geltende Sozialstandards berufen können, im Grundsatz geklärt, schreibt br.de (Gigi Deppe). Im nun entschiedenen Fall müsse ein niederländisches Gericht allerdings noch prüfen, wie eng die Verbindungen betroffener Fahrer zu ihrem Unternehmen tatsächlich sind.

BVerfG – Düngemittelverordnung: Ein niedersächsischer Landwirt hat eine Verfassungsbeschwerde gegen die im Frühjahr erlassene Düngemittelverordnung erhoben. Deren "verschärfte Anforderungen an die Ausbringung von Düngemitteln" nehme nicht ausreichend Rücksicht auf die tatsächliche Nitratbelastung des Bodens, schreibt die FAZ (Svea Junge) zur Argumentation des Beschwerdeführers. Auch die SZ (Michael Bauchmüller) berichtet.

BVerfG – Corona-Entschädigungen: Ebenfalls beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde erhoben hat nach Bericht der FAZ (Timo Kotowski) die Muttergesellschaft der Hotelkette Dorint. Deren Chef mache geltend, dass die sogenannten Novemberhilfen für Unternehmen ohne Anspruch auf Gewährung ausgestaltet seien und zudem nicht zeitgerecht ausgezahlt würden.

BGH zu Anweisung an Richter: Die Entscheidung des Dienstgerichts des Bundes am Bundesgerichtshof zu den Grenzen richterlicher Unabhängigkeit wird nun auch von LTO (Markus Sehl) vertieft vorgestellt. Jene Unabhängigkeit umfasse in ihrem Kernbereich die Rechtsfindung, also das Abfassen des Urteils mit den die Entscheidung tragenden Gründen. Soweit darüber hinaus zu politischen Themen Stellung genommen würde, unterlägen solche Äußerungen der Dienstaufsicht. Dem am BGH gescheiterten Richter war eine Zurechtweisung wegen Ausführungen zur Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin erteilt worden.

BGH – EY-Mitarbeiter: Im Wege einer beim Bundesgerichtshof erhobenen Beschwerde gegen Ordnungsgelder, die der Bundestags-U-Ausschuss zur Wirecard-Insolvenz gegen Mitarbeiter verhängt hat, will der Wirtschaftsprüfer EY die "jahrzehntelange Streitfrage entscheiden" lassen, ob Wirtschaftsprüfer einer beruflichen Schweigepflicht unterliegen. EY wolle zum Komplex Wirecard aussagen, gibt die SZ (Klaus Ott/Jörg Schmitt) das Unternehmen wieder, wolle dies aber "risikofrei" für die eigenen Mitarbeiter gestalten.

OLG Naumburg – Anschlag auf Synagoge: Das Strafverfahren gegen Stephan B. und dessen Anschlag auf die Synagoge von Halle steht vor dem Abschluss. Über die Plädoyers der Nebenklagevertreter berichten faz.net und taz (Konrad Litschko).

LG Bonn – Cum-Ex: Im Cum-Ex-Strafverfahren gegen den früheren Generalbevollmächtigten der Bank M.M. Warburg soll am heutigen Mittwoch und morgigen Donnerstag der frühere Geschäftspartner des Steuerfachmanns Hanno Berger zu angeblichen Treffen mit der Bankspitze berichten. Seitens der Bank bestreite man, dass es vertragliche Geschäftsbeziehungen zum Zeugen gegeben habe, so die FAZ (Marcus Jung).

VG Berlin – 1.Mai-Demo: Das "Quartiersmanagement Grunewald", eine Sektion der sogenannten Hedonistischen Internationale, hat als Veranstalter einer 1.Mai-Demo im gutbürgerlichen Stadtteil Grunewald Klage beim Verwaltungsgericht Berlin erhoben. Ziel sei die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Installation mehrerer Überwachungskameras an einem Bahnhof durch die Bundespolizei im Zusammenhang der Demo im vergangenen Jahr. Über Klage und Demo berichten taz-Berlin (Erik Peter) und netzpolitik.org (Markus Reuter).

Recht in der Welt

Niederlande – Klimawandel: Niederländische Umweltschützer wollen den Ölkonzern Shell gerichtlich dazu zwingen, seinen CO2-Ausstoß in den nächsten zehn Jahren um 45 Prozent zu senken. Über das in Den Haag stattfindende Verfahren berichtet die SZ.

Polen – Anwalt: Die SZ (Florian Hassel) berichtet zum polnischen Rechtsanwalt Roman Giertych. Der frühere stellvertretende Ministerpräsident des Landes wurde im Oktober wegen des Verdachts der Korruption vorläufig festgenommen, kurze Zeit später aber wieder entlassen. Der Beitrag mutmaßt, dass die weiterhin laufenden Ermittlungen mit prominenten Mandanten des Anwalts zusammenhängen.

USA – Bayer: Das Hbl (Bert Fröndhoff) berichtet zu einer weiteren juristischen Niederlage des Bayer-Konzerns in den USA. Ein Bundesgericht in Los Angeles habe eine in der Auseinandersetzung über die Chemikalie PCB mit Klägern erarbeitete Vergleichssumme von 650 Millionen Dollar als "bescheiden" bezeichnet und die Haftungsregelung bei zukünftigen Forderungen als "zu vage". PCB wurde von Monsanto entwickelt und in den USA 1979 verboten. Die nun kassierte Einigung war Bestandteil eines milliardenschweren Vergleichs mit dem Schwerpunkt eines glyphosathaltigen Pflanzenschutzmittels. Die Zukunft dieses Vergleichs stehe gleichfalls in den Sternen.

Sonstiges

AfD-Verbot: Reinhard Müller (FAZ) macht sich im Leitartikel Gedanken über die rechtlichen Anforderungen für ein Verbot der AfD. Es sei offen, wie die Partei "zum Menschenbild der Grundgesetzes steht" und dies sei "wichtiger als die reine Programmatik". Gleichwohl offenbare die Annahme, ein Parteiverbot sei "eine beliebige Option im politischen Meinungskampf" eine "Leerstelle in der eigenen Politik".

Nebenkläger: Im Leitartikel räsoniert Annette Ramelsberger (SZ) zu Erwartungen, die Angehörige von Getöteten an Strafprozesse haben. Sobald Nebenkläger rechtsstaatliche Prinzipien verinnerlichten und hier vor allem, dass es "vor Gericht nicht um Rache" ginge, biete die Beteiligung am Verfahren die Chance, "die Macht über das eigene Leben wiederzugewinnen". Wer hingegen "unumstößliche Wahrheit und höchste Gerechtigkeit" erhoffe oder gar reuige Worte von Angeklagten, "wird notgedrungen enttäuscht".

NS-Verstrickung am BAG: Martin Borowsky, Richter am Landgericht Erfurt, hat in den vergangenen Jahren zu den Biographien von 25 Richtern des Bundesarbeitsgerichts recherchiert und dabei zahlreiche Verstrickungen in nationalsozialistisches Unrecht ermittelt. Die FAZ (David Klaubert) nennt besonders krasse Fälle. Eine umfassende Studie zum Thema plane das BAG derzeit, man wolle zunächst die Ergebnisse einer vergleichbaren Untersuchung am Bundessozialgericht abwarten.

Verständigung im Strafprozess: Die neue Studie zur Praxis der sogenannten Deals im Strafprozess wird nun auch im SWR RadioReportRecht (Kolja Schwartz/Michael Nordhardt) diskutiert.

Anwaltliches Home Office: Nach den Erfahrungen dieses Jahres erweitern zahlreiche große Anwaltskanzleien die Möglichkeit der Arbeit im Home Office, schreibt LTO (Anja Hall) und nennt prominente Beispiele neuer Arbeitszeitmodelle sowie damit zusammenhängende Probleme.

Das Letzte zum Schluss

Party People: In den Sommermonaten ließ sich einiges lesen über illegale Feiern ohne Mindestabstand und die coronabedingte Beachtung von Hygieneregeln. Nach einem Bericht von spiegel.de finden sie aber weiterhin statt, zumindest in Brüssel. Dort löste die Polizei eine "Sexparty" auf, die im ersten Stock eines Wohnhauses begangen wurde. Bei ihrem Eintreffen versuchte einer der Teilnehmer zu flüchten, verletzte sich aber, wurde schließlich erwischt und als EU-Abgeordneter der ungarischen Regierungspartei Fidesz identifiziert.

* ergänzt um 13 Uhr am Erscheinungstag.

 

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lto/mpi

(Hinweis für Journalisten) 

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 2. Dezember 2020: Erfolg für Crowdworker / StAn bald unabhängig? / Rondenbarg-Prozess beginnt . In: Legal Tribune Online, 02.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43599/ (abgerufen am: 16.04.2024 )

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