Die juristische Presseschau vom 1. Oktober 2019: Auf­takt im VW-Mus­ter­ver­fahren / Hans-Georg Maaßen wird Anwalt / Mie­ten­de­ckel als Kün­di­gungs­grund?

01.10.2019

Das OLG Braunschweig hat seine vorläufige Einschätzung zur Musterfeststellungsklage gegen VW mitgeteilt. Außerdem in der Presseschau: Hans-Georg Maaßen steigt in Höcker-Kanzlei ein und der Mietendeckel wird als Kündigungsgrund diskutiert.

Thema des Tages

OLG Braunschweig – VW-Musterfeststellungsklage: Vor dem Oberlandesgericht Braunschweig hat die Verhandlung der Musterfeststellungsklage des Verbraucherzentrale Bundesverbands und des ADAC gegen den VW-Konzern begonnen. Das Gericht machte deutlich, dass vertragliche Ansprüche nicht bestehen, wenn das Fahrzeug nicht direkt bei VW gekauft worden sei. Deliktische Ansprüche wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung seien jedoch "sehr ernsthaft in Betracht zu ziehen". Problematisch sei dabei jedoch auch die Frage, worin genau der Schaden liege. Zudem müssten sich die Kunden wohl die Nutzung des Fahrzeugs anrechnen lassen. Ob noch weitere Strafakten hinzuzuziehen seien, etwa aus dem Strafverfahren gegen Ex-VW-Chef Martin Winterkorn, darüber sei sich der Senat noch unschlüssig. Vom Verhandlungsauftakt berichten die FAZ (Marcus Jung), die SZ (Angelika Slavik), das Hbl (René Bender u.a.) und tagesschau.de (Frank Bräutigam).

Marcus Jung (FAZ) meint, das Gericht habe mit seinem Fokus auf die Frage nach der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung den Kurs für eine umfassende Beweisaufnahme gesetzt. Marc Beise (SZ) wirft VW vor, sich hinter dem komplizierten deutschen Zulassungsrecht zu verschanzen: "Dieser Konzern, in dem über Jahre unbestritten so viel schief gelaufen ist, hat erkennbar nicht den Mut, sich zu seinen Fehlern zu bekennen."

Im Gespräch mit dem Hbl (Volker Votsmeier) erläutert der Rechtsprofessor Michael Heese, wo die Probleme der Musterfeststellungsklage seiner Ansicht nach liegen. Zudem weist er darauf hin, dass die Zeit für den VW-Konzern spiele. Die Schadensersatzansprüche würden mit der Zeit abschmelzen, da die Käufer die Fahrzeuge weiternutzten. Die Gerichte könnten diese Vorteilsausgleichung durchbrechen und die taktische Leistungsverweigerung ins Leere laufen lassen.

Rechtspolitik

NetzDG: Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) will laut SZ (Max Hoppenstedt) und Hbl (Dietmar Neuerer) das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ändern. So sollen die Betreiber Sozialer Medien verpflichtet werden, die dort getätigten Offizialdelikte, wie Morddrohungen und Volksverhetzung, an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden zu melden. Zudem wird über eine Pflicht diskutiert, Nutzerdaten, insbesondere die IP-Adresse, herauszugegeben. Bisher scheitere eine Strafverfolgung oft an langwierigen Rechtshilfeersuchen.

Andrian Kreye (SZ) hält die Idee für vernünftig. Jeder legislative und juristische Schritt gegen die "inzwischen so destruktiven Handlungsspielräume der digitalen Industrie" sei nicht nur ein Versuch der Zivilgesellschaft, ein Machtmonopol zu brechen. Es seien kleine Schritte auf dem Weg zu einem neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Mensch und Maschine.

Grenzkontrollen und Schleierfahndung: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat nicht nur die Grenzkontrollen an der Grenze zu Österreich um sechs Monate verlängert, sondern an den übrigen Grenzen auch eine Ausweitung der Schleierfahndung angewiesen. Ein entsprechender Erlass an die Bundespolizei erging am Montag. Die Welt (Marcel Leubecher) weist darauf hin, dass es sich lediglich um eine Intensivierung der Schleierfahndung handele und keine neuen Befugnisse geschaffen wurden.

Gudula Geuther (deutschlandfunk.de) kritisiert die Maßnahmen. Die Kontrollen im Grenzgebiet seien der EU-Kommission schon bisher zu dich gewesen; jetzt sollten sie noch dichter werden. Seehofer denke zwar in europäischen Dimensionen, aber nicht als Europäer.

Lebensmittel-Ampel: Bundeslandwirtschafts- und -ernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) hat sich für ein Logo für die geplante Lebensmittel-Ampel entschieden. Diese darf jedoch nur als Empfehlung eingeführt, aber nicht verbindlich vorgeschrieben werden. Das ergibt sich aus der EU-Verordnung über Lebensmittelinformationen, wie lto.de (Christian Rath) erläutert. Die Verordnung sehe eine Nährwertkennzeichnung vor, verbiete aber weitergehende verbindliche Vorschriften. Die Ausnahme für Vorschriften zum "Schutz der öffentlichen Gesundheit" sei eng auszulegen und diene etwa dem Schutz vor ansteckenden Krankheiten.

Datenschutz: "Neue Chancen und Möglichkeiten sollen nicht durch Datenschutz blockiert, sondern durch Datensicherheit, Interoperabilität, Datenportabilität und Datentreuhändertum ermöglicht werden", heißt es in einem Papier von Digitalpolitikern der Unionsfraktion, über das die FAZ (Hendrik Wieduwilt) berichtet. Auch aus der Wirtschaft gebe es Forderungen nach Lockerungen des Datenschutzes zu Gunsten der Nutzung Künstlicher Intelligenz, während Datenschützer auf dem Grundsatz der Datensparsamkeit beharrten.

Solidaritätszuschlag: Die Professorin für Steuerrecht Johanna Hey kritisert im Hbl den Kompromiss der Großen Koalition zum Solidaritätszuschlag. Durch die Teilabschaffung sei dem Solidaritätszuschlag eine neue Begründung untergeschoben worden, die ihm "endgültig die Kompetenzgrundlage entzogen" habe. Man könne nur hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht die Politik an ihre Verantwortung erinnern und die Regelung mit Rückwirkung für verfassungswidrig erklären werde.

Justiz

OLG Dresden – "Revolution Chemnitz": Vor dem Oberlandesgericht Dresden hat der Prozess gegen acht Männer begonnen, denen vorgeworfen wird, ab dem 10. September 2018 die terroristische Vereinigung "Revolution Chemnitz" gegründet zu haben. Die Gruppe soll geplant haben, durch Anschläge auf Andersdenkende und Migranten einen Umsturz herbeizuführen. Die Bundesanwaltschaft wies die Kritik der Verteidigung zurück, es handele sich um einen politischen Prozess. Es berichten die SZ (Antonie Rietzschel), die FAZ (Stefan Locke), die taz (Konrad Litschko) und blog.zeit.de (Johannes Grunert).

Reinhard Müller (FAZ) findet es richtig, dass der Generalbundesanwalt für den Fall zuständig ist. Terrorismus gehe alle an.

AG Tiergarten – Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: Vor dem Amtsgericht Tiergarten muss sich ein ehemaliger Vertriebsleiter der Deutschen Bahn wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung verantworten. Er soll mehrere ihm untergebene Frauen in sein Büro eingeladen und die Tür abgeschlossen haben, um anschließend sexuelle Handlungen an ihnen vorzunehmen. Die SZ (Verena Mayer) weist anhand des Falles auf Schwierigkeiten beim Beweis solcher Taten hin.

EuGH – Cookies: Der Europäische Gerichtshof entscheidet am heutigen Dienstag über die Anforderungen, die an die Einwilligung zum Setzen von Cookies zu stellen sind. Dabei geht es um die Auslegung der sogenannten EU-Cookie-Richtlinie, nach der eine Zustimmung erforderlich ist, und der Datenschutz-Grundverordnung, nach der das entsprechende Häkchen aktiv gesetzt werden muss. Das Telemediengesetz sieht demgegenüber bisher vor, dass Cookies erlaubt sind, solange der Nutzer nicht widerspricht. Den Fall und die rechtlichen Probleme erläutern die SZ (Max Muth) sowie für lto.de der Rechtsanwalt Jens Nebel.

BVerfG – Schutzwaffenverbot: Darf es strafbar sein, seine Augen bei Demonstrationen mit einer Plastikfolie vor Pfefferspray zu schützen? Dies will ein Münchener Aktivist durch das Bundesverfassungsgericht klären lassen. Der Mann wurde wegen Verstoßes gegen das Schutzwaffenverbot im Versammlungsgesetz verurteilt. In seiner Verfassungsbeschwerde, die der taz (Christian Rath) vorliegt, argumentiert er, dass die Plastikfolie weder martialisch noch aggressionsstimulierend wirke.

LG Berlin zu Künast-Beschimpfungen: Der Privatdonzent Erol Pohlreich nimmt auf verfassungsblog.de die Strafanzeige gegen Berliner Richter wegen Rechtsbeugung zum Anlass, sich die betreffende Entscheidung zu Beschimpfungen gegen die Grünen-Politikerin Renate Künast noch einmal genauer anzuschauen. Das Landgericht habe es versäumt, nach der zutreffenden Ablehnung einer Schmähkritik eine Abwägung von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht vorzunehmen. Die Strafanzeige gegen die Richter sei jedoch nicht zielführend, da nicht jede fehlerhafte Rechtsanwendung den Straftatbestand der Rechtsbeugung erfülle.

JVA Heidering – Tablets in der Zelle: Für ihre Kolumne für FAZ-Einspruch hat Rechtsprofessorin Elisa Hoven die Berliner Justizvollzugsanstalt Heidering besucht, in der seit einiger Zeit ein Modellprojekt durchgeführt wird, bei dem Insassen Tablets mit eingeschränkten Internetzugang erhalten. Dies entspreche dem Angleichungsgrundsatz, nach dem das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich angeglichen werden soll.

Recht in der Welt

Irland/Nordirland – Brexit-Backstopp: In einem (englischsprachigen) Beitrag auf verfassungsblog.de schlagen Rechtsprofessor Giorgio Sacerdoti und Doktorand Niall Moran eine Alternative zum sogenannten Brexit-Backstop für Irland vor. Danach soll eine "Common No-Custom Area" gemäß Art. 24 GATT eingerichtet werden, die nur Produkte aus einem der beiden Inselteile betrifft.

Russland – Urteil gegen Schauspieler: Die Strafe für den Schauspieler Pawel Ustinow ist von einem russischen Gericht von dreieinhalb Jahren Haft zu einer einjährigen Bewährungsstrafe abgemildert worden. Dem Mann wird vorgeworfen, bei seiner Festnahme im Zusammenhang mit Protesten Widerstand geleistet und einen Nationalgardisten verletzt zu haben. Das erstinstanzliche Gericht hatte sich geweigert, Videos hinzuzuziehen, die Ustinows Unschuld beweisen und die Gewalt der Beamten zeigen sollen. Dies hatte breite Proteste hervorgerufen. Die FAZ (Friedrich Schmidt), die SZ (Silke Bigalke) und die taz (Klaus-Helge Donath) berichten.

Sonstiges

Hans-Georg Maaßen: Der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen wird nach Informationen der SZ (Georg Mascolo) als Of-Counsel in der Anwaltskanzlei von Ralf Höcker einsteigen. Höcker ist Medienrechtler und Pressesprecher der sogenannten Werteunion, bei der sich auch Maaßen engagiert. Zu den Mandanten der Kanzlei gehörten unter anderem Jörg Kachelmann, der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und die AfD. Maaßen betonte, dass er keine Mandate der AfD sowie der Linken und der Grünen übernehmen werde.

Haftung nach Scheitern der Pkw-Maut: lto.de (Felix W. Zimmermann) geht der Frage nach, ob die weitgehende Entschädigung des geplanten Mautbetreibers wegen des Scheiterns der Pkw-Maut in Folge des EuGH-Urteils vermeidbar war. Mehrere Quellen bestätigten, dass die entsprechende Entschädigungsklausel im Maut-Vertrag nicht etwa vom Vertragspartner hineinverhandelt wurde, sondern von Anfang an enthalten gewesen sei. Eine nachträgliche Abwendung der Haftung durch weitere Kündigungsgründe sei nach derzeitigen Erkenntnissen unwahrscheinlich.

Versicherungsschutz nach Thomas-Cook-Pleite: Dass viele Thomas-Cook-Kunden nur einen Teil ihrer Kosten erstattet bekommen, liegt laut SZ (Herbert Fromme/Nina Nöthling) daran, dass Deutschland bei der Umsetzung der EU-Richtlinie für Pauschalreisen die Versicherungspflicht auf 110 Millionen Euro begrenzt hat. Ob aus dieser Summe auch die Rückholungen zu zahlen sind, ist zwischen dem Bundesjustizministerium und der Versicherung Zurich umstritten. Verbraucherschützer dächten derweil über Staatshaftungsansprüche wegen mangelhafter Richtlinienumsetzung nach.

Mietendeckel als Kündigungsgrund: In der neuen Ausgabe der Zeitschrift "Grundeigentum" vertritt Tobias Scheidacker, Fachanwalt für Immobilienrecht und Vorsitzender des Haus- und Grundbesitzervereins Kreuzberg, die Auffassung, dass der geplante Berliner Mietendeckel eine Störung der Geschäftsgrundlage darstelle, die zur Kündigung der Mietvertäge berechtige. Der Berliner Mieterverein nennt die Idee laut Tsp (Jost Müller-Neuhof) eine "wohnungspolitische Geisterfahrt", weil für die dann leeren Wohnungen keine Nutzung in Sicht sei. Auch Rechtsanwalt Michael Selk (community.beck.de) hat Zweifel am Wegfall der Geschäftsgrundlage. Allenfalls in extremen Ausnahmefällen könne eine solche angenommen werden.

Schadensersatz für Atomausstieg: Die Energiekonzerne RWE, Eon und EnBW machen gegenüber dem Bund Schadensersatzforderungen in Höhe von insgesamt 276 Millionen Euro geltend. Das meldet die taz (Malte Kreutzfeldt). Es geht um Investitionen, die in dem Zeitraum zwischen der Laufzeitverlängerung im Jahr 2010 und der wenige Monate später erfolgten Rückgängigmachung nach der Fukushima-Katastrophe getätigt wurden. Die Energiekonzerne berufen sich auf eine Klausel im Atomgesetz, die nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Atomausstieg eingefügt worden ist.

Rechtsfähigkeit von Softwareagenten: Für ein neues Online-Symposium auf verfassungsblog.de stellt der Rechtsprofessor Gunther Teubner seinen Vorschlag vor, Softwareagenten partielle Rechtssubjektivität zuzuschreiben. So könne den neuen Verantwortungsrisiken, die die Digitalität aufgeworfen habe, begegnet werden. Die Rechtsprofessorin Marietta Auer widerspricht in einem ebenfalls auf verfassungsblog.de erschienenen Diskussionsbeitrag. Die Teilrechtsfähigkeit autonomer Softwareagenten sei "weder erforderlich noch auch nur geeignet, um den von Teubner identifizierten Risiken dogmatisch und theoretisch gerecht zu werden".

Carl Schmitt: In der FAZ rezensiert Rechtsprofessor Florian Meinel das Buch "Was tun mit Carl Schmitt?" des französischen Rechtsphilosophen Jean-François Kervégan. Anhand der Leitkategorien Theologie, Normativität, Legitimität, Politik und Welt diskutiere Kervégan Schmitts gesamtes Denken von den neukantianischen Anfängen bis zur Geschichtsphilosophie der Nachkriegszeit. In eine eher zweifelhafte Tradition reihe sich Kervégan hingegen ein, wenn er die meisten Schriften Schmitts aus den Jahren 1933 bis 1936 als theoretisch wertlos beiseiteschiebe.

 

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lto/dw

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 1. Oktober 2019: Auftakt im VW-Musterverfahren / Hans-Georg Maaßen wird Anwalt / Mietendeckel als Kündigungsgrund? . In: Legal Tribune Online, 01.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37913/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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