Die juristische Presseschau vom 1. Juli 2020: Hat die EZB das BVerfG befrie­digt? / Abge­ord­ne­ten­rechte ver­letzt / Konto zu teuer

01.07.2020

Haben die übermittelten Unterlagen der EZB die verfassungsrechtlichen Bedenken zum Anleihenkaufprogramm beendet? Das BVerfG entschied zu einem Polizeieinsatz in einem MdB-Büro und der BGH zu den Kosten eines Basiskontos.

Thema des Tages

EZB-Anleihenkäufe: Zu der Auseinandersetzung zwischen Europäischer Zentralbank und Bundesverfassungsgericht über das Anleihenkaufprogramm PSPP hat sich der erfolgreiche Kläger Peter Gauweiler noch keine Meinung gebildet. Der SZ (Cerstin Gammelin) teilte er mit, dass zunächst Akteneinsicht bezüglich der nun übermittelten Dokumente beim BVerfG beantragt würde.

Wolfgang Janisch (SZ) begrüßt in einem Kommentar, dass in der EZB offenbar "Pragmatismus Einzug" gehalten hat. Trotz Unabhängigkeit agiere sie "nicht im rechtsfreien Raum", dass das BVerfG auf einer "Minimalkontrolle" ihres Mandats beharre, sei "ein berechtigtes Anliegen". Nach Frank Wiebes (Hbl) Ansicht sollte sich das Gericht "auf wirkliche Rechtsfragen konzentrieren". Zwar löse sich das "Problemgewirr" nun mit einem "inhaltsleeren Verfahren" in Luft auf, es sei aber erneut bewiesen worden, dass es bestenfalls nichts bringe, "ökonomische Probleme mit juristischen Mitteln zu bearbeiten".

Kompetenzgericht: Verfassungsrichter Peter Müller hat bei einer Online-Diskussion mitgeteilt, er habe "viel Sympathie" für einen Kompetenzgerichtshof zur Schlichtung von Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen nationalen Verfassungsgerichten und dem Europäischen Gerichtshof. Dieser Austausch verlaufe momentan "suboptimal", so eine Meldung der FAZ (Thomas Gutschker).

Rechtspolitik

Kindesmissbrauch: Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) erläutert im Interview mit Bild (Paul Ronzheimer/Hans-Jörg Vehlewald) ein Gesetzespaket gegen sexuellen Missbrauch, das sie an diesem Mittwoch vorstellen will. U.a. sollen sexueller Missbrauch von Kindern und Besitz von Kinderpornographie zum Verbrechen hochgestuft werden. Sie habe dabei nicht dem öffentlichen Druck nachgegeben. In einem dazugehörigen Kommentar triumphiert Julian Reichelt (Bild), dass die Ministerin auf das drängende Fragen von Bild reagiert habe. "Unser Land ändert sich mit diesem Gesetz zum Besseren. Bild hat Wort gehalten".

Parität Brandenburg: Seit dem gestrigen Dienstag ist das brandenburgische Paritätsgesetz in Kraft, durch das Wahllisten verpflichtend abwechselnd mit Männern und Frauen zu besetzen sind, berichtet lto.de und gibt einen Überblick zu geplanten oder angedachten vergleichbaren Regelungen in anderen Bundesländern. Vor der 2024 anstehenden nächsten Landtagswahl in Brandenburg werde das Verfassungsgericht des Landes über das Gesetz entscheiden.

Mieten-Moratorium: Die mit dem Juni abgelaufene Möglichkeit, Mietzahlungen bei coronabedingten Zahlungsschwierigkeiten aufzuschieben, wird nicht verlängert. Dies meldet die Welt unter Berufung auf eine Mitteilung des Bundesjustizministeriums.

Justiz

BVerfG zu Abgeordnetenbüro: Die Bundestagspolizei, die Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) untersteht, hat die Rechte des Abgeordneten Michel Brandt (Linke) verletzt, als sie im September 2018 eigenmächtig dessen Büro betrat und dort am Fenster aufgehängte Plakate entfernte. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht nach einem nun veröffentlichten Beschluss auf eine Organklage Brandts. SZ (Wolfgang Janisch), taz (Christian Rath) und Tsp (Jost Müller-Neuhof) berichten, dass die Aktion der "Abwehr einer Gefahr" dienen sollte. Anlässlich des Staatsbesuchs des türkischen Präsidenten sollten Provokationen durch die Plakate mit Emblemen der kurdischen Formation YPG vermieden werden. Nach Einschätzung des Gerichts war der Eingriff im konkreten Fall aber unverhältnismäßig, weil die Embleme von der Straße aus kaum zu sehen waren.

BVerfG zu Suizidhilfe: Das Bundesverfassungsgericht hat Vorlagen des Verwaltungsgerichts Köln zum Betäubungsmittel Natriumpentobarbital als unzulässig abgewiesen. In den Verfahren ging es um die Abgabe des Suizid-Medikaments an Todkranke, die sich auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom März 2017 beriefen. Das zuständige Bundesamt verweigerte bislang die Umsetzung des BVerwG-Urteils auf Anweisung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Weil das das BVerfG aber im Februar das strafrechtliche Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe (§ 217 StGB) für nichtig erklärte, genügten die Begründungen der Vorlage nicht mehr den Anforderungen, berichtet lto.de. Laut Tsp (Jost Müller-Neuhof) wollte Minister Spahn die Entscheidung über die Kölner Vorlagen abwarten, bevor er das BVerfG-Urteil von Februar umsetzt, das er außerdem noch auswerte.

BGH zu Basiskonto-Kosten: Das sozialpolitische Ziel, mit einem sogenannten Basiskonto auch einkommensschwachen Verbrauchern die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr und anderen Vorteilen zu ermöglichen, darf nicht durch "prohibitiv wirkende Entgelte unterlaufen" werden. Dies führte der Bundesgerichtshof bei der Verkündung eines Urteils aus, in dem eben solche überhöhten Gebühren bei dem von der Deutschen Bank angebotenen Basiskonto festgestellt wurden. Die Mehrkosten, die ein Basiskonto verursacht, müssten auf alle Kunden umgelegt werden und nicht nur auf die Inhaber von Basiskonten. Es berichten die SZ (Wolfgang Janisch) taz (Christian Rath), Hbl (Frank M. Drost) und tagesschau.de (Klaus Hempel).

OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: Das Strafverfahren zur Tötung Walter Lübckes wurde am Oberlandesgericht Frankfurt/M. mit Einsichtnahme eines Videos fortgesetzt, in dem der Hauptangeklagte Stephan E. im Januar eine neue Tatversion präsentierte und den mitangeklagten Markus H. als Täter benannte. H. solle, so E.s Aussage, im Verlauf eines Disputs mit dem Geschädigten den tödlichen Schuss abgegeben haben. Die vernehmenden Ermittlungsrichter habe dieses zweite Geständnis E.s nicht überzeugt, so der einhellige Eindruck in den Berichten von SZ (Annette Ramelsberger), FAZ (Marlene Grunert), taz (Konrad Litschko) und spiegel.de (Julia Jüttner). Über seine Verteidigung hat E. dem Gericht eine neue ausführliche Erklärung angekündigt.

OLG Köln zu Volksverhetzung gegen Frauen: Das Oberlandesgericht Köln hat am 9. Juni den Freispruch eines Mannes aufgehoben, der in einem Internetforum frauenfeindliche Beiträge selbst verfasste und veröffentlichte. Das Landgericht Bonn werde bei einer erneuten Verhandlung zu prüfen haben, ob der Angeklagte nicht doch wegen Volksverhetzung zu verurteilen ist und Frauen als Teil der von § 130 Strafgesetzbuch geschützten Teile der Bevölkerung anzusehen sind. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Leonie Steinl stellt auf verfassungsblog.de die Entscheidung ausführlich dar und würdigt sie als "wichtiges Zeichen in der Debatte um den strafrechtlichen Umgang mit Hate Speech gegen Frauen".

OLG Braunschweig zu MFK gegen VW: Der im Zuge des Musterfeststellungsverfahrens gegen VW am Oberlandesgericht Braunschweig vereinbarte Vergleich steht vor seinem wirtschaftlichen Abschluss. VW habe bislang mehr als 750 Millionen Euro an mehr als 240.000 Kunden überwiesen, berichten FAZ (Christian Müßgens) und lto.de. Weitere noch anhängige Verfahren sollen nach Angaben des Unternehmens ebenfalls zeitnah zum Abschluss gebracht werden.

Verfassungsrichter Masing: In der Podcast-Reihe Die Justizreporter*innen (Gigi Deppe/Frank Bräutigam) kommt der noch amtierende Richter am Bundesverfassungsgericht Johannes Masing ausführlich zu Wort. Er spricht über das Verhältnis von Schmähkritik und Meinungsfreiheit, die Länge einiger Urteile und die unterschiedlichen Arbeitsweisen beider Senate des Gerichts.

Recht in der Welt

Russland – Verfassungsreform: Juniorprofessorin Caroline von Gall stellt auf verfassungsblog.de die in Russland geplante Verfassungsreform als zynisches Projekt des Machterhalts von Präsident Wladimir Putin vor. Nach der absehbaren Zustimmung der Bevölkerung in der bis zum heutigen Mittwoch laufenden Volksabstimmung sollte Deutschland im Europarat auf eine Feststellung der zahlreichen Probleme, etwa bei der Gewaltenteilung, drängen. Über Abstimmungsprozedere und einzelne Bestimmungen der neuen Verfassung schreibt auch die taz (Klaus-Helge Donath).

Türkei – Anwälte: Ein von der türkischen Regierungspartei eingebrachter Gesetzentwurf sieht die Möglichkeit der Einrichtung alternativer Anwaltskammern vor. Die taz (Jürgen Gottschlich) schreibt, dass hierdurch eine Bastion der Unabhängigkeit gegenüber der Regierung geschliffen werden soll.

China/Hongkong – Sicherheitsgesetz: Nach der Verabschiedung des umstrittenen chinesischen Sicherheitsgesetzes hält Lea Dauber (SZ) es für offensichtlich, dass die chinesische Staatsführung "Verträge, internationales Recht, Regeln und Standards" nur respektiert, "wenn es dem Regime nutzt". Dies müsse "klare Konsequenzen" nach sich ziehen, wozu die Autorin eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Bruchs der Gemeinsamen Erklärung mit Großbritannien zählt.

Juristische Ausbildung

Examensprüfung Hessen: Als einziges Bundesland hat Hessen die staatlichen juristischen Prüfungen während des Corona-Lockdowns vollständig weitergeführt. Ein den Prüflingen dabei eingeräumtes Sonderrücktrittsrecht hätten nur wenige Kandidaten wahrgenommen, so lto.de.

Sonstiges

Anwaltliche Werbung: Die Werbekampagne einer Potsdamer Kanzlei, die ihren Diesel-Skandal-Erfolg mit Andeutungen zur Länge des männlichen Gliedes bewarb, wird eingestellt. Nach Verhandlungen zwischen der zuständigen Rechtsanwaltskammer und der Kanzlei habe sich der Kanzleichef in einer diesbezüglich "verbindlichen Erklärung" entsprechend verpflichtet, schreibt lto.de (Hasso Suliak). Weitere Erklärungen habe die Kanzlei nicht abgegeben, eine gerichtliche Klärung der Zulässigkeit der Kampagne entfalle damit.

Anwälte und Social Media: Müssen Rechtsanwälte ihre Beiträge auf Social-Media-Plattformen, häufig mit Links versehen, als Werbung kennzeichnen? Dieser Frage geht der ausführliche Text von Rechtsanwalt Ruben A. Hofmann auf lto.de nach. Das Fazit des Fachanwalts für gewerblichen Rechtsschutz lautet wie so oft: Es kommt darauf an. Eine Kennzeichnungspflicht sei abzulehnen, wenn das fragliche Profil eher Geschäftszwecken dient. Bei privaten Profilen hingegen sollte gekennzeichnet werden, weil Vermischungen drohen, wenn der Anwalt etwa seine Kanzleihomepage verlinkt.

Ehe für alle: Vor drei Jahren verabschiedete der Bundestag das Gesetz zur sogenannten Ehe für alle. deutschlandfunk.de (Peggy Fiebig) nimmt dies zum Anlass eines ausführlichen Features, das den Weg zur lange umstrittenen Ehe auch für homosexuelle Paare nachzeichnet und auch aktuelle Probleme benennt. So liege ein "Diskussionsteilentwurf" des Bundesjustizministeriums, durch den die zivilrechtliche Vaterschaftsanerkennung auch bei lesbischen Paaren mit Kindern gelten würde, derzeit "offensichtlich auf Eis."

Investitionsschutz: Die Rechtsanwälte Anke Sessler und Max Stein machen im FAZ-Einspruch auf eine mögliche neue öffentliche Debatte über Investitionsschutzbestimmungen aufmerksam. Zum 1. August trete der Handelsteil des zwischen EU und Vietnam vereinbarten Freihandelsabkommens in Kraft, dessen Investitionsteil müsse hingegen von den Mitgliedstaaten noch gesondert ratifiziert werden. Die diesbezügliche bisherige Vereinbarung sehe ein stehendes Investitionsgericht mit Eingangs- und Berufungsinstanz vor. Zur Benennung der Schiedsrichter melden die Autoren Zweifel an deren Unabhängigkeit an.

Corona – Haftung: Auf verfassungsblog.de untersucht Thorsten Koch, Gastprofessor, die möglichen Grundlagen einer Haftung des von Clemens Tönnies geführten Unternehmens für die negativen Auswirkungen der in Rheda-Wiedenbrück und Umgebung explosionsartig angestiegenen Infektionszahlen. Während zivilrechtliche Ansprüche Privater nicht von vornherein auszuschließen seien, seien Ansprüche der öffentlichen Hand aufgrund der "eher unelastischen Vorschriften namentlich des Gefahrenabwehrrechts" mehr als fraglich. Rechtsanwältin Kirstin Schwedt hält in einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ Ersatzansprüche für Behandlungskosten eigener Angestellter aufgrund einer Verletzung der arbeitgeberischen Fürsorgepflicht für denkbar. Bei Vermögensschäden unbeteiligter Unternehmen, die aufgrund des neuerlichen Lockdowns geschlossen werden, sei hingegen schon fraglich, ob etwa das Infektionsschutzgesetz auch diese verhüten soll. In jedem Fall müsste der Nachweis der Ursächlichkeit von Pflichtverletzungen für konkrete Schäden geführt werden.

Corona – Ersatzfreiheitsstrafen: Nach einer Meldung der FAZ (Markus Wehner) hat der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) einen Gnadenerweis verfügt, nach dem rund tausend Personen die gegen sie verhängten Ersatzfreiheitsstrafen nicht antreten müssen. Begründet habe dies der Senator mit einer weiterhin notwendigen Eindämmung weiterer Infektionen.

Das Letzte

Anwaltsvergütung: Eine Formulierungshilfe für Anwälte, die Mandanten die Berechtigung ihrer Gebührenforderung darlegen müssen, liefert ein in der Glosse von Monika Spiekermann (rsw.beck.de) berichtetes Urteil des Amtsgerichts Leverkusen. Das führte in seinen Gründen zu einem Gebührenstreit nämlich auch noch ein chinesisches Märchen an. In dem ging es um Forderungen eines Künstlers. Als solcher könne der Anwalt zwar bezeichnet werden, er werde aber nicht für die Zeit der Beratung vergütet, sondern auch für die Inanspruchnahme seines Wissens.

 

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lto/mpi

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 1. Juli 2020: Hat die EZB das BVerfG befriedigt? / Abgeordnetenrechte verletzt / Konto zu teuer . In: Legal Tribune Online, 01.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42054/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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