Die juristische Presseschau vom 1. April 2020: Sys­tem­re­le­vante Anwälte? / Gerichte ohne Öff­ent­lich­keit? / Dik­tatur Ungarn?

01.04.2020

Die BRAK wirbt bei der Bundeskanzlerin für die Systemrelevanz des Anwaltsberufes und der DAV hat eine neue Hauptgeschäftsführerin. Verhandeln Arbeitsgerichte künftig ohne Öffentlichkeit? Ist Ungarn auf dem Weg zur Diktatur bereits am Ziel?

Thema des Tages

Corona – Anwaltschaft: Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) hat in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin auf die Bedeutung der Anwaltschaft für das Funktionieren des Rechtsstaats verwiesen und wie auch schon Mitte März der Deutsche Anwaltverein (DAV) gefordert, den Berufsstand für systemrelevant zu erklären. Sowohl BRAK als auch DAV hätten darüber hinaus eine Anpassung bisher verabschiedeter Maßnahmenpakete verlangt, schreibt lto.de (Pia Lorenz). Liquiditätsengpässe würden sich bei Anwälten erst zeitverzögert, nach dem sich abzeichnenden Rückgang von Neumandaten aufgrund der aktuellen Einschränkungen, zeigen. Anträge für finanzielle Hilfen seien nach jetzigem Stand aber nur bis zum 31. Mai 2020 möglich.

DAV-Hauptgeschäftsführerin: Mit dem neuen Monat tritt Sylvia Ruge ihr neues Amt als Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Anwaltvereins (DAV) an. Im Interview mit lto.de (Pia Lorenz) spricht die Juristin über ihren beruflichen Werdegang, ihre ersten Aufgaben im neuen Job, die Aufgaben des DAV in Zeiten von Corona und die Zukunft der Anwaltschaft.

Corona und Recht

Corona – Tracking-App: Auch die FAZ (Helene Bubrowski u.a.) schreibt nun über eine mögliche neue App zur Nachverfolgung von Infektionsketten. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) habe sich unter den Voraussetzungen freiwilliger Teilnahme und zeitlicher Begrenzung mit dem Vorhaben einverstanden erklärt, auch ansonsten zeichne sich eine deutliche politische Mehrheit ab.

Reinhard Müller (FAZ) begrüßt dies im Leitartikel und hält auch eine elektronische Nachverfolgung ohne Zustimmung Betroffener für zulässig, "wenn anders eine Seuche nicht eingedämmt werden kann". Um einen Rückschritt ins Mittelalter zu vermeiden, sei es "Zeit, zu wirklich wirksamen, angemessenen Mitteln zu greifen". Ähnlich argumentiert Ina Karabasz (Hbl) und hofft, dass die gefundene Lösung "direkt für die ganze EU" gelte. Andrian Kreye (SZ) hält dagegen jetzt den Zeitpunkt für gekommen, "die lange schwelende Debatte über digitale Bürgerrechte zu führen und Konsequenzen zu ziehen". Gebe eine Gesellschaft "im Moment der Not und Angst Freiheiten ohne Kontrolle" auf, sei nicht abzusehen, ob sie diese jemals wiederbekommen werde.

Corona – Epidemiegesetz NRW: Auch die FAZ (Reiner Burger) berichtet nun zu dem von der nordrhein-westfälischen Landesregierung geplanten Epidemiegesetz, "das mit heißer Nadel gestrickt" und "in wesentlichen Passagen verfassungsrechtlich bedenklich und von handwerklichen Fehlern geprägt" sei. Die von der Regierung geplante Verabschiedung noch am heutigen Mittwoch sei fraglich.

Corona – Arbeitsgerichte: zpoblog.de (Benedikt Windau) berichtet über einen bislang unveröffentlichten Entwurf einer Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes, die vollständig online stattfindende Gerichtsverhandlungen ermöglichen würde. Der auf eine Initiative der Präsidenten der Landesarbeitsgerichte und der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts zurückgehende Entwurf sehe eine zeitliche Befristung vor und schließe die Öffentlichkeit von der Verhandlung aus. Er müsse "vor dem Hintergrund einer absehbar zunehmenden Zahl an Kündigungsschutzklagen gesehen werden".

Corona – Videoprozess: Nach Meldung von lto.de stattet das Landgericht Düsseldorf einen für Zivilsachen vorgesehenen Sitzungssaal nun mit einer festen Videokonferenzanlage aus. Von der gesetzlich bereits seit 2013 existierenden Möglichkeit mündlicher Verhandlungen per Videokonferenz sei bislang kaum Gebrauch gemacht worden.

Corona – Betriebsräte: Das Betriebsverfassungsgesetz bestimmt für Beschlüsse von Betriebsräten Präsenzsitzungen, schreibt die FAZ (Marcus Jung) in ihrem Recht und Steuern-Teil. Bei Verletzung dieses Prinzips könnten Arbeitgeber jeden Beschluss wegen formeller Mangelhaftigkeit anfechten. Die jüngst von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) per "Ministererklärung" ins Gespräch gebrachte Möglichkeit von Video- oder Telefonkonferenzen könne lediglich als "Empfehlung" verstanden werden, die die notwendige Anpassung des Gesetzes nicht ersetzen könne.

OVG NRW – Corona-Verordnung: Voraussichtlich noch in dieser Woche wird das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in einem Eilverfahren über die Vereinbarkeit der im Bundesland erlassenen Rechtsverordnung zu coronabedingten Einschränkungen mit Gesetzes- und Verfassungsrecht entscheiden. Rechtsanwalt Robert Hotstegs legt auf lto.de den landesrechtlichen Verfahrensgang dar und meint, dass derartige Verfahren weder akademische Glasperlenspiele seien noch privaten Befindlichkeiten dienten. Sie legten vielmehr "den Finger in eine bislang viel zu wenig beachtete Wunde: den Vorbehalt des Gesetzes".

BayVGH zu Ausgangsbeschränkungen: Die in Bayern erlassene Verordnung über Ausgangsbeschränkungen ist nach einer im Eilverfahren unternommenen, von lto.de gemeldeten summarischen Prüfung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs angesichts der bestehenden Bedrohungslage gerechtfertigt. Sie finde ferner im Infektionsschutzgesetz eine tragfähige Rechtsgrundlage.

OLG Karlsruhe zu U-Haft: Nach einem Haftprüfungsbeschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe stellt die Coronapandemie einen "anderen wichtigen Grund“ i.S.d. § 121 Abs. 1 Strafprozessordnung dar. Dies hat zur Folge, dass eine Untersuchungshaft auch über sechs Monate andauern kann, ohne dass ein Urteil ergangen ist. Den Beschluss meldet lto.de.

Corona – Versammlungen: In einem zweiteiligen Beitrag für juwiss.de messen der Wissenschaftliche Mitarbeiter Stefan Martini und Rechtsanwalt Michael Plöse die in den Bundesländern erlassenen versammlungsbezogenen Corona-Regeln an Art. 8 Abs. 2 Grundgesetz und legen im Weiteren dar, wie Versammlungen auch in der aktuellen Situation ermöglicht werden können.

Corona – Rudolf Mellinghoff im Interview: faces-of-democracy.org (Sven Lilienström) interviewt Rudolf Mellinghoff, den Präsidenten des Bundesfinanzhofs (BFH), zur "Krisenfestigkeit" unserer Demokratie, möglichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die europäische Idee, seiner steuerrechtlichen Einschätzung der jüngst verabschiedeten Hilfsmaßnahmen sowie dem aktuellen Arbeitsalltag am BFH.

Corona – Schuldenbremse: In einem Gastbeitrag für den FAZ-Einspruch widersprechen Rechtsprofessor Thomas Lenk und die Wissenschaftlichen Mitarbeiter Julia Sydow und Alexander Kratzmann der Vorstellung, mit dem in der vergangenen Woche verabschiedeten Maßnahmenpaket sei die grundgesetzliche Schuldenbremse außer Kraft gesetzt worden. Tatsächlich sähen sowohl Grundgesetz als auch Landesverfassungen Neuverschuldungen in außergewöhnlichen Notsituationen als möglich an.

Corona – Triage: An der Diskussion über eine mögliche Strafbarkeit von Ärzten bei sogenannten Triage-Konstellationen beteiligt sich nun auch Rechtsprofessorin Elisa Hoven im FAZ-Einspruch. Gerade weil Medizinern rechtlich eine "erhebliche Freiheit bei der Priorisierung medizinischer Hilfeleistung" zur Verfügung stünde, sei es für "das Vertrauen der Bevölkerung in eine gerechte ärztliche Behandlung" wichtig, "transparente und einheitliche Kriterien" zu entwickeln und stärken.

Corona – anwaltliches Home Office: Die aktuelle Situation zwingt auch viele Anwälte zur Arbeit im Home Office. Kanzleiberater Christoph H. Vaagt zeigt auf lto.de, wie hierbei eine "offene Büroumgebung" mit Transparenz für die Kollegenschaft geschaffen werden kann.

Rechtspolitik

NetzDG: Das Bundeskabinett plant, einen Gesetzentwurf zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes am heutigen Mittwoch zu beschließen. Das Gesetz habe sich zwar im Grundsatz bewährt, so die SZ (Robert Roßmann), künftig solle es Nutzern jedoch noch einfacher gemacht werden, Beiträge bei den Netzwerken zu melden. Außerdem sollten Netzwerke bei Bedrohungen oder Beleidigungen leichter als bisher die Nutzerdaten der Urheber herausgeben müssen.

Justiz

EuGH zu Verbraucherwiderrufsrecht: Nach der in der vergangenen Woche getroffenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Unzulässigkeit sogenannter "Kaskadenverweisungen" in den Widerrufsbelehrungen von Verbraucherverträgen befürchten deutsche Kreditanbieter nach Bericht des FAZ-Einspruchs (Marcus Jung) keine umfassende Rückkehr des "Widerrufsjokers". Der EuGH habe sich nicht damit auseinandergesetzt, dass die beanstandete Belehrung dem nationalen gesetzlichen Muster entspreche. Zudem habe sich der Bundesgerichtshof in der Vergangenheit mehrfach dazu bekannt, eine dem nationalen Recht ausdrücklich widersprechende Rechtsprechung des EuGH nicht umzusetzen.

OLG München zu Fall Ursula Herrmann: Der Bruder der 1981 entführten und dabei verstorbenen Ursula Herrmann hat gegen den rechtskräftig verurteilten Täter keinen Schmerzensgeldanspruch. Dies entschied das Oberlandesgericht München nach Meldung von spiegel.de. Die Urteilsbegründung ist noch nicht bekannt.

OLG Düsseldorf zu Abgas-Skandal: Kenntnisse des Diesel- oder auch Abgas-Skandals schließen Schadensersatzansprüche des Käufers eines betroffenen Autos in der Regel aus. Dies entschied nach Meldung von lto.de das Oberlandesgericht Düsseldorf Mitte März 2020.

LG Köln zu Abgas-Skandal: Nach einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung des Landgerichts Köln von Mitte Januar 2020 wird die Verjährung von Ansprüchen wegen des Abgas-Skandals durch eine Anmeldung zum Musterfeststellungsverfahren gegen VW auch dann gehemmt, wenn die Anmeldung später wieder zurückgezogen wurde. lto.de berichtet.

LG Köln zu Lufttrockner-Werbung: Nach einem von der Wettbewerbszentrale erwirkten, noch nicht rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Köln ist es dem Hersteller eines Lufttrockners untersagt, sein Produkt mit dem Hinweis zu bewerben, es gewährleiste – anders als Papier – das hygienische Händetrocknen. Die FAZ berichtet.

GBA – Mord an Walter Lübcke: In den kommenden Tagen werde die Bundesanwaltschaft ihre Anklage zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erheben. Dies schreibt zeit.de (Julian Feldmann u.a.) in einer Reportage, die sich vertieft mit den Ermittlungserkenntnissen zum mutmaßlichen Unterstützer Markus H. befasst.

Recht in der Welt

Ungarn/Polen – Illiberalismus: Die Rechtsprofessorinnen Timea Drinoczi und Agnieszka Bien-Kacala (verfassungsblog.de) legen in einem englischsprachigen Beitrag dar, wie die Regierungen Ungarns und Polens in ihrem Umgang mit der Corona-Pandemie ihre jeweiligen Vorstellungen eines "illiberalen Konstitutionalismus" durchsetzen.

Zur Entwicklung in Ungarn macht Stephan Löwenstein (FAZ) im Leitartikel darauf aufmerksam, dass der Rechtsweg gegen Regierungsentscheidungen nach wie vor offen stünde. Das soeben verabschiedete Notstandsgesetz mache aus dem Land somit keine "lupenreine Diktatur". Gleichwohl habe sich Ministerpräsident Viktor Orban das ihm in Europa entgegen gebrachte Misstrauen redlich verdient. Andreas Zumach (taz) fordert die EU auf, "alle verfügbaren Mittel" einzusetzen, "um zu verhindern, dass die Demokratie in Ungarn endgültig beerdigt wird". Nach Meinung von Jan Puhl (spiegel.de) ist es hierfür bereits zu spät. Die vorgebliche Wertegemeinschaft EU habe "zugelassen, dass in ihrer Mitte eine Diktatur entsteht" und finde nun "keine Möglichkeit, den Fremdkörper abzustoßen".

Frankreich – Charlie Hebdo: Der ursprünglich für Mai geplante Beginn des Strafprozesses gegen mutmaßliche Unterstützer des Anschlags auf die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" ist nach Meldung von spiegel.de auf den 2. September 2020 verlegt worden.

USA – Abtreibungen: Als verfassungswidrig hat ein US-amerikanisches Bundesgericht eine strafbewehrte Anordnung des texanischen Justizministers aufgehoben, der vor einer Woche Abtreibungen als "nicht wesentliche" Eingriffe während Andauern der Corona-Pandemie untersagt hatte. Vom Verbot ausgenommen waren lediglich Abbrüche zum Zwecke der Rettung des Lebens der Frau, meldet die FAZ (Christiane Heil).

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/mpi

(Hinweis für Journalisten)

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage. 

Sie können die tägliche lto-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 1. April 2020: Systemrelevante Anwälte? / Gerichte ohne Öffentlichkeit? / Diktatur Ungarn? . In: Legal Tribune Online, 01.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41169/ (abgerufen am: 17.04.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen