Die juristische Presseschau vom 23. November 2021: Impf­pf­licht als Gret­chen­frage / StA Köln ermit­telt wegen Poli­zei­ge­walt / Rich­ter­wahl in Schweiz per Los?

23.11.2021

Die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht wird intensiver. Gegen Kölner Polizeibeamte wird nach tödlich verlaufenem Polizeieinsatz ermittelt. Schweizer stimmen über Losverfahren für Schweizer Richter:innen ab.

Thema des Tages

Corona — Impfpflicht: In einem Gastbeitrag in der FAZ sprechen sich die Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und Bayern, Winfried Kretschmann (Grüne) und Markus Söder (CSU), für eine allgemeine Impfpflicht aus. Das Grundgesetz folge dem Prinzip der Freiheit und eine Abwägung der Freiheit aller Betroffenen ergebe eine allgemeine Impfpflicht. Eine Spaltung der Gesellschaft drohe nicht – sie drohe vielmehr, wenn der Staat "die Dinge treiben ließe". Nach Berichten von SZ (Oliver Klasen/Henrike Roßbach) und LTO ist eine Entscheidung zur allgemeinen Impfpflicht jedenfalls nicht mehr von der scheidenden Bundesregierung zu erwarten, wie Regierungssprecher Steffen Seibert mitteilte.

Georg Mascolo (SZ) weist eine Ja-oder-Nein-Debatte zurück. Man solle vielmehr die Frage ins Zentrum stellen, ob alle milderen Mittel ausgeschöpft wurden. Dies sei in Deutschland nicht der Fall, was schon der jüngste Andrang an den Impfzentren seit den 2G- und 3G-Beschlüssen der Bund-Länder-Konferenz beweise. Zudem sei die Politik klug beraten, auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der 2020 beschlossenen Pflicht zur Masern-Schutzimpfung zu warten. Thomas Vitzthum (Welt) vermutet die Impfverweiger:innen vor allem in Peergroups auf den Dörfern (Feuerwehren, Sportvereine, Kirchen), die man fast als "Clans" bezeichnen könne. Hier wäre eine Impfpflicht eine gesichtswahrende Erleichterung, weil man sich nicht selbst dafür entscheiden müsse.

Rechtspolitik

Digitale Märkte: Der Binnenmarktausschuss des EU-Parlaments hat dem Digital Markets Act (DMA) zugestimmt. Der DMA soll großen Plattformen, die andere Angebote wie eine Art "Türsteher" kontrollieren, rund zwanzig Verhaltensweisen verbieten, um den Missbrauch von Marktmacht zu verhindern. Auch wenn die Wirtschaft das Vorhaben grundsätzlich begrüßt, kritisieren vier große IT-Anwenderverbände die geplante Verordnung. Sie helfe nicht gegen unfaire Software-Lizenzierungspraktiken, die es Kunden von Oracle, SAP, IBM und Microsoft faktisch unmöglich machten, die Software anderer Anbieter zu nutzen. Der Ministerrat will seine Position am Donnerstag endgültig festlegen. Die FAZ (Hendrik Kafsack) berichtet.  

In einem separaten Kommentar bezeichnet Hendrik Kafsack (FAZ) die geplante Verordnung als "Schritt voran". "Die Zeiten, in denen Google eigene Dienste in Suchen gezielt besserstellen oder Apple seine Kunden an seinen App-Store fesseln konnte", seien nach der Verabschiedung des DMA im Jahr 2022 vorbei.  

Datentreuhänder: Die Anwältin Kristina Schreiber erörtert auf LTO die Regelungen des neuen Telekommunikation-Telemedien-Datenschutzgesetzes (TTDSG), die ab dem 1. Dezember gelten. Unter anderem sollen Nutzer:innen nicht mehr einzeln mit Cookie-Bannern konfrontiert werden, sondern die Möglichkeit erhalten, die Anfragen pauschal für alle Webseitenbetreiber durch ein "Personal Information Management System" (PIMS) zu beantworten.

Corona – Kontaktnachverfolgung: Die taz (Svenja Bergt) klärt über die neuen Möglichkeiten für die Bundesländer zur Kontaktnachverfolgung auf, die ihnen durch die Novelle des Infektionsschutzgesetzes eingeräumt werden: Bei Veranstaltungen oder in Restaurants kann zur Entlastung der Gesundheitsämter ausdrücklich auf die Corona-Warn-App gesetzt werden. Vorher war es Standard, die Daten vor Ort zu erfassen und im Infektionsfall weiterzuleiten.

In einem separaten Kommentar kritisiert Svenja Bergt (taz), dass geimpften Personen zum Teil kein PCR-Test ermöglicht wurde, obwohl die Corona-App ihnen die höchste Warnstufe anzeigte. Die neuen Anwendungsmöglichkeiten seien gut, doch müsse die Bundesregierung auch sicherstellen, dass bei Warnungen auf höchster Stufe auch getestet werde.

Justiz

StA Köln – Polizeigewalt: Nach dem Tod eines 59-Jährigen ermittelt die Staatsanwaltschaft Köln durch die Polizei Bonn gegen fünf Beamte der Polizei Köln wegen des Verdachts auf gemeinschaftlich begangene gefährliche Körperverletzung im Amt. Sie werden verdächtigt, bei einem Einsatz wegen Unfallflucht "übermäßig Gewalt" gegen einen Mann angewendet zu haben, der einige Wochen später verstarb. Ob ein Zusammenhang besteht, ist noch unklar. Parallel laufen Disziplinarverfahren gegen die Beamten. Es steht im Raum, dass sie sich in privaten Chats dazu verabredet haben sollen, Widerstandshandlungen zu provozieren, um dann selbst Gewalt anwenden zu können. Es soll auch mit Gewalt geprahlt worden sein, wobei ein Beamter beispielsweise schrieb: "Ich habe gerade einen umgeklatscht". Es berichten die SZ (Jana Stegemann), taz und spiegel.de.

VerfGH Berlin – Wahlpraxis in Berlin: Die Landeswahlleitung hat beim Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin erwartungsgemäß Einspruch gegen die Ergebnisse in zwei Wahlkreisen bei der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses vom 26. September eingelegt. Gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl hatte der Bundeswahlleiter bereits am Freitag Einspruch beim Bundestag eingelegt. LTO berichtet.

LG Frankfurt/M. zu Raser: Nach einer Entscheidung des Landgerichts Frankfurt/M. wird ein 39-jähriger Mann, der im Februar mit mehr als 100 km/h durch Frankfurt gerast ist und dabei zwei Männer tötete, dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Er sei zum Zeitpunkt des Unfalls schuldunfähig gewesen, da er an paranoider Schizophrenie litt. Die FAZ (Alexander Jürgs) berichtet.

VG Koblenz zu Friedwald: Nachdem die Stadt Koblenz zum Schutz der Besucher eines Friedwalds eine Rotbuche fällte und nur einen sehr kleinen Baum neu pflanzte, klagte ein Witwer, der seine Frau unter dem Baum beigesetzt hatte, erfolgslos vor dem Verwaltungsgericht Koblenz. Er wollte einen größeren Baum mit einem Mindestdurchmesser von 20 Zentimetern, doch nach Ansicht des VGs sei eine damit einhergehende Bepflanzung zu arbeitsintensiv. LTO berichtet.   

ArbG Bonn zu Betriebsrat und Corona: beck-community (Markus Stoffels) erläutert eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Bonn vom 15. November, wonach Betriebsratsmitglieder mit aktuellem negativen PCR-Test nicht unter Verweis auf eine 2G-Regelungen von Versammlungen ausgeschlossen werden dürfen.  

StA Bremen – Markus Anfang: Die Staatsanwaltschaft Bremen hat den Ermittlungstand gegen Markus Anfang, den inzwischen zurückgetretenen Trainer von Werder Bremen, mitgeteilt. Der Verdacht der Fälschung eines Impfausweises habe sich erhärtet, unter anderem weil Anfang bei einem der angeblichen Impftermine nicht in Köln war, sondern ein Auswärtsspiel in Würzburg absolvierte. Die FAZ berichtet.  

Recht in der Welt

Schweiz – Wahl von Richter:innen: Am kommenden Sonntag stimmt die schweizerische Bevölkerung über eine Justizinitiative ab, wonach die Richter:innen an den obersten Gerichten künftig durch ein Losverfahren bestimmt werden sollen, sofern sie die fachliche und persönliche Eignung aufweisen. Die Antikorruptionskommission des Europarats (GRECO) unterstützt die Initiative und kritisiert das bisherige Verfahren: Faktische Voraussetzung zur Wahl im Parlament ist bisher eine Parteimitgliedschaft. Zudem sind die Richter:innen dazu angehalten, einen Teil ihres Gehalts "gewissermaßen als Gegenleistung" an ihre jeweiligen Parteien zu überweisen, weil sie sich im Parlament alle sechs Jahre zur Wiederwahl stellen müssen. Die FAZ (Johannes Ritter) berichtet

Polen/Ungarn – EU-Rechtsstaatlichkeit: Wie die SZ (Björn Finke) und spiegel.de (Markus Becker/Jan Puhl) berichten, hat die EU-Kommission die ungarische und polnische Regierung per Brief zu Auskünften über den Stand in Sachen Rechtsstaatlichkeit aufgefordert. Diese informelle Anfrage sei noch nicht die Eröffnung des neuen finanziellen Sanktionsmechanismus, sondern zögere dessen Eröffnung um die zweimonatige Antwortfrist hinaus. Dies sei im Sinne der 27 Staats- und Regierungschefs, die Ende 2020 Polen und Ungarn versprochen hatten, die EU-Kommission werde die Entscheidung des EuGHs über deren Klage gegen den neuen Mechanismus abwarten.  

Spanien – 3G: Der oberste Gerichtshof des spanischen Baskenlandes hat trotz steigender Coronazahlen eine 3G-Pflicht für Restaurants und Nachtlokale abgelehnt, weil die Maßnahme angesichts einer Impfquote von 90 Prozent bei allen Spanier:innen über zwölf Jahren unverhältnismäßig sei. Das Gericht gilt als restriktiv gegenüber Coronamaßnahmen. In anderen autonomen Regionen in Spanien haben oberste Gerichte 3G-Regelungen schon zugestimmt. LTO berichtet.

Sonstiges

Gehaltkürzungen – FC Bayern: LTO (Antonetta Stephany) gibt rechtliche Hintergründe zu der Entscheidung des FC Bayern München, kein volles Gehalt mehr an Spieler zu zahlen, die sich nicht geimpft haben und in Quarantäne müssen. Rechtsgrundlage für dieses wohl zulässige Vorgehen sei § 56 Abs. 1 S. 4 Infektionsschutzgesetz (IfSG), wonach der Staat keine Geldentschädigungen für quarantänebedingte Arbeitsausfälle zahlt, wenn diese durch eine Schutzimpfung hätten vermieden werden können. Nicht geimpft sind die Spieler Joshua Kimmich, Serge Gnabry, Jamal Musiala, Eric Maxim Choupo-Moting und Michael Cuisance.

Suizidhilfe: Die FAZ (Kim Björn Becker) stellt das Buch "An der Seite des Lebens" des Chefarztes und Professors für Medizinische Ethik, Stephan Sahm, vor. Darin kritisiert Sahm unter anderem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Nichtigkeit des § 217 Strafgesetzbuch (StGB) (Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung): Das Urteil sei eine "Heroisierung des Suizids" und eine Fetischisierung der Selbstbestimmung. Seine Position begründet er mit dem Grundsatz, dass die Existenz eines Menschen seiner Nicht-Existenz immer vorzuziehen sei.

Rechtsmarkt – Nachhaltigkeit: Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio attestierte dem deutschen Rechtsmarkt im Rahmen einer Debatte beim Bucerius "Center on the Legal Profession" (CLP) eine zunehmende Sensibilität für Nachhaltigkeitsthemen, warnte aber vor einer "Hypermoralisierung": "Es wäre nicht gut, wenn es in Anwaltskanzleien zu einem politischen Meinungsstreit in einer ohnehin zur Fragmentierung neigenden Gesellschaft käme". Das Hbl (Heike Anger) berichtet. 

Anwaltliche Versorgungswerke: Nachdem zuletzt immer mehr Versorgungswerke die Altersgrenzen für eine Pflichtmitgliedschaft von Anwält:innen gekippt hatten, erörtert der Jurist und Finanzökonom Jörn Scheiwe im Interview mit beck-aktuell (Monika Spiekermann) die Vor- und Nachteile einer berufsständischen Altersvorsorge. Die Aufhebung der Altersgrenze ermöglicht es Anwält:innen, sich auch oberhalb der ehemaligen Grenze von der gesetzlichen Rentenversicherung befreien zu lassen.

Das Letzte zum Schluss

Taxi bitte: In Bielefeld hat sich ein Betrunkener aus Versehen in ein geparktes Auto gesetzt, das sich im Leerlauf befand und das er für ein Taxi hielt. Der Eigentümer stand wenige Meter weiter und beobachtete das Geschehen mit zwei Freunden, woraufhin es zu einem Handgemenge kam. Die Polizei löste den Irrtum dann auf. Die SZ berichtet.

 

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lto/tr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 23. November 2021: Impfpflicht als Gretchenfrage / StA Köln ermittelt wegen Polizeigewalt / Richterwahl in Schweiz per Los? . In: Legal Tribune Online, 23.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46726/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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