Die juristische Presseschau vom 30. September 2011: Neues Wahlrecht, alte Probleme – 47er Regelung für Stasiunterlagenbehörde – Warten aufs Studium

30.09.2011

Mit einer erheblichen Verzögerung hat der Bundestag gestern eine Neuregelung des Wahlrechts beschlossen. Ob dies verfassungsrechtlich Bestand haben kann, wird sich noch zeigen. Außerdem in der Presseschau: Heikles Vorgehen des Bundestagspräsidenten bei der Euro-Abstimmung, elektronische Fußfesseln, Kunstfälscher, ein neues Stasiunterlagengesetz und vieles andere.

Wahlrecht: Nachdem bereits am 30. Juni dieses Jahres die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gesetzte Frist zur Neuregelung des Wahlrechts verstrichen war, stimmte gestern Abend der Bundestag dem höchst umstrittenen Entwurf der Koalition für die Wahlrechtsänderung zu. Dies meldet unter anderem zeit.de und erläutert die Änderungen. Das neue Gesetz solle das Auftreten des vom Verfassungsgericht im Jahre 2008 beanstandeten so genannten negativen Stimmgewichts verhindern. Die vor allem in der Opposition gerügten Überhangmandate seien indes nicht abgeschafft worden. Wie zeit.de weiter berichtet, hatten SPD, Grüne und Linke jeweils eigene Änderungsentwürfe vorgelegt. Alle drei Parteien seien entschlossen, eine Verfassungsklage einzureichen.

Die SZ (Susanne Höll) erläutert, dass eine Zustimmung des Bundesrates für das In-Kraft-Treten des Gesetzes nicht erforderlich sei, so dass Karlsruhe "aller Voraussicht nach" mit dem Wahlrecht befasst sein wird. Thomas Oppermann (SPD) und Volker Beck (Grüne) hätten bereits angekündigt, einen Normenkontrollantrag beim BVerfG zu stellen, sobald die Unterzeichnung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten vorliegt. Die Wahlrechtsänderung, so die SZ, sehe die Abschaffung der "Verbindung von Landeslisten einer Partei" vor, so dass eine Verrechnung der Zweitstimmen einer Partei über die Landesgrenzen hinaus künftig nicht mehr stattfinde. Allerdings seien Ausgleichsmandate vorgesehen. Mit Hilfe dieser Regelungen solle dem negativen Stimmgewicht weitest möglich Einhalt geboten werden. Was Ex-Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz an Überhangmandaten auszusetzen hat, und warum diese ein "Risiko einer Legitimitätskrise" bergen, beschreibt ein weiterer Beitrag in der SZ (Felix Berth). Auch werden Zweifel an der Tauglichkeit der Neuregelung zur Abschaffung des negativen Stimmgewichts formuliert.

Sehr ausführlich zeichnet die FAZ (Jasper von Altenbockum) vor dem Hintergrund des Karlsruher Urteils die alten Probleme und neuen Regelungen nach. Das Wahlrecht "auf den Kopf gestellt" hätte eine Verabschiedung von den Überhangmandaten. Zur angekündigten Verfassungsklage schreibt die FAZ: "Es wird interessant sein zu sehen, wogegen sich die Klagen eigentlich richten."

pra (SZ) kommentiert: "Das neue Wahlgesetz (...) ist eine Zumutung." Nicht nur inhaltlich habe man sich bei der Neuregelung "keine Mühe" gegeben. Enttäuscht zeigt sich der Kommentar auch darüber, dass Union und FDP sich beim Wahlgesetz "als Kern der Demokratie" nicht um eine parteiübergreifende Zustimmung bemüht hätten. "Das neue Wahlrecht ist so verfassungswidrig wie das alte."

Wegen der Komplexität des Wahlrechts sei eine "perfekte Lösung" für das Stimmgewichtsproblem nicht möglich, meint Christian Rath (taz) und spricht sich weiter für eine Abschaffung oder einen Ausgleich der Überhangmandate aus. Hier könne man auf eine Lösung aus Karlsruhe hoffen. Dass die nächste Bundestagswahl "auf der Grundlage eines umstrittenen Wahlgesetzes" stattfinden werde, sei "richtig schlecht".

Weitere Themen – Rechtspolitik

Euro-Rettung: Das Handelsblatt (Thomas Hanke) befasst sich neben zahlreichen andere Medien mit der erfolgreichen Abstimmung über die Erweiterung des Rettungsfonds EFSF am Donnerstag. Der "wirkliche Sieger" des Tages sei das Parlament, so die Zeitung. Dass nun nicht mehr die Regierung allein über die "Vergabe von Geldern des EFSF" entscheiden könne, sondern jedenfalls grundsätzlich die parlamentarische Zustimmung vorab eingeholt werden müsse, sei ein "wichtiges Zugeständnis" der Exekutive – nur "wenn Gefahr im Verzug ist" könne die Zustimmung beim Haushaltsausschuss eingeholt werden. Ebenfalls im Handelsblatt schreibt Hermann Otto Solms (FDP), Vizepräsident des Bundestags, die Aufnahme des Parlamentsvorbehalts und die damit verbundene Stärkung der Rechte des Bundestages sei ein "wichtige[s] Element" für die Zustimmung der Abgeordneten gewesen.

Die rechtliche Grundlage des vorübergehenden Hilfsfonds EFSF erläutert die FAZ (Nikolas Busse): Der Fonds sei "eine Gesellschaft nach Luxemburger Recht" und beruhe "auf einem privatrechtlichen Vertrag zwischen den Regierungen" der Euro-Länder, die Eigentümer der Gesellschaft seien. Der dauerhafte Fonds EMS solle jedoch auf einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen den Euro-Ländern beruhen. Die FAZ beschreibt, wie die Zustimmungen in den Staaten jeweils ablaufen und erklärt: "Rechtlich gesehen finden die Hilfsprogramme für den Euro außerhalb der bisherigen EU-Verträge statt."

Bundestagspräsident Norbert Lammert hat "heftigen Zorn" auf sich gezogen, nachdem er zwei Abgeordnete von CDU und FDP eigenmächtig auf die Rednerliste zur Abstimmung über den Rettungsschirm gesetzt hatte, wie welt.de (Robin Alexander) zu berichten weiß. Die "Abweichler" waren gegen eine Zustimmung zum Gesetz und hätten keine Redezeit von ihren Fraktionen erhalten. Der ausführliche Bericht zitiert aus den Reaktionen im gestern tagenden Ältestenrat: Volker Beck (Grüne) habe dies einen "ungeheuerlichen Vorgang" genannt, Johannes Kars (SPD) sprach vom "Lammert'sche[n] Landesrecht!". Das Vorgehen verstoße möglicherweise gegen die Geschäftsordnung des Bundestages und solle auch vom Geschäftsordnungsausschuss überprüft werden. Norbert Geis (CSU) habe Lammert unter Bezugnahme auf einen Kommentar zur Bundestags-Geschäftsordnung verteidigt, welcher ein solches Vorgehen billige. welt.de gibt die entsprechende Kommentarstelle im Wortlaut wieder.

Ex-Stasi-Mitarbeiter: Mit der für heute geplanten Abstimmung im Bundestag über die umstrittene 8. Novelle zum Stasiunterlagengesetz befasst sich die taz (Christian Semler) und erörtert noch einmal ausführlich die Hintergründe und Kritikpunkte. In der Novelle enthalten seien die Verlängerung des Rechts auf Akteneinsicht bis zum Jahr 2019 und eine Bestimmung, welche es ermögliche, die 47 Ex-Stasi-Mitarbeiter in andere Bundesbehörden zu versetzen, die zurzeit in der Stasiunterlagenbehörde "als Experten" arbeiten. Behördenleiter Roland Jahn habe diesen Zustand als unzumutbar angesehen. Laut taz sieht die SPD in dieser "47er-Regelung" einen Verstoß gegen das grundgesetzliche Verbot des Einzelfallgesetzes.

Weitere Themen – Justiz

Warten aufs Studium: spiegel.de (Frauke Lüpke-Narberhaus) stellt ein Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom Donnerstag vor, welches "ein Schock für viele deutsche Unis" sei: Das Gericht habe zugunsten des Klägers entschieden, nach sechs Jahren Wartezeit "zumindest vorläufig" Anspruch auf einen Medizinstudienplatz zu haben. Die "Grenze des Zumutbaren" sei überschritten worden. Die Richter hielten das Auswahlsystem bei der Vergabe von Studienplätzen für das Fach Medizin in seiner jetzigen Form für verfassungswidrig, wiesen jedoch zugleich darauf hin, "nicht das komplette Zulassungsverfahren verwerfen [zu] wollen", so spiegel.de. Grundsätzlich werde dies den "grundrechtlichen Anforderung gerecht". Die Stiftung für Hochschulzulassungen, Antragsgegnerin im Verfahren, wolle gegen die Entscheidung Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen einlegen.

Generalbundesanwaltschaft: Heute wird die Generalbundesanwältin Monika Harms in den Ruhestand verabschiedet. Wie die FTD (Thomas Steinmann) meldet, hat Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger nun einen neuen Kandidaten für die Nachfolge: Harald Range. Seit bereits elf Jahren sei er Generalstaatsanwalt in Celle.

Schwere Schuld: Das Landgericht Krefeld hat am Donnerstag im Fall Mirco den Angeklagten Olaf H. wegen Mordes, Freiheitsberaubung und sexuellen Missbrauchs eines Kindes zu lebenslanger Haft verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Über die Urteilsverkündung und die Tathintergründe informiert die SZ (Marc Widmann).

Markenfälschung bei Ebay: Wie die FAZ (caf) meldet, hat Ebay laut einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom Donnerstag grundsätzlich die Rechtspflicht zur Löschung von Angeboten von gefälschten Markenartikeln. Im konkreten Fall habe der Lizenzinhaber der "Davidoff"-Parfums geklagt.

Elektronische Fußfessel: Die vor dem Hintergrund der Neugestaltung der Sicherungsverwahrung immer wieder ins Spiel gebrachte Überwachung ehemaliger Straftäter mittels einer so genannten elektronischen Fußfessel ist Gegenstand eines ausführlichen Beitrags auf lto.de (Daniel Schneider/ LTO-Redaktion). Unter dem Titel "Eingesperrt im virtuellen Raum" setzt sich der Beitrag mit der technischen Ausgestaltung der Überwachung und ihren bisherigen Einsätzen in Deutschland und anderen EU-Staaten auseinander. Vorreiter in Sachen Fußfessel sei in Deutschland das Land Hessen, wo auch das Koordinationszentrum für eine von mehreren Bundesländern geplante "länderübergreifende Einführung" der Fußfessel liegen solle. Seit etwa zehn Jahren setze Hessen die Fußfessel bei der Bewährungshilfe sowie der Untersuchungshaft ein. Zu seinen bisherigen Erfahrungen mit dem Einsatz der Fußfessel äußert sich Tobias Müller-Monning, Kriminologe und Gefängnispfarrer in Hessen. Dabei weist er darauf hin, dass zur bisherigen Ausgestaltung der Überwachung im "Remote Control System" als Alternative für die Sicherungsverwahrung etwa eine "GPS-Unterstützung" hinzu kommen müsse, bei welcher der Aufenthaltsort der überwachten Person bestimmt werden kann.

Online-Glücksspiel: Vor dem Hintergrund der am Mittwoch ergangenen Revisionsurteile des BGH zum Onlineglücksspiel bietet ein Gastbeitrag auf lto.de von dem Verwaltungsrichter Felix B. Hüsken einen Überblick über Rechtslage und Hintergründe.

Kunst-Fälscher: Mit dem "spektakulärste[n] Kunstfälscherprozess der Nachkriegszeit" vor dem Landgericht Köln und dem überraschenden Geständnis des Hauptangeklagten Wolfgang Beltracchi befasst sich unter anderem das Handelsblatt (Christiane Fricke/ Susanne Schreiber) und erläutert die Geschichte des Prozesses und die Vorwürfe. Beltracchi und weiteren Personen, darunter seine Frau und seine Schwägerin, werde bandenmäßiger Betrug in 14 Fällen zur Last gelegt. Auf Grund des umfassenden Geständnisses sei eine Verkürzung des Prozesses wahrscheinlich und die Strafen könnten für alle geringer ausfallen. Ermöglichen könne dies eine "erst kürzlich eingeführte Regelung der "Verständigung" zwischen Gericht und Angeklagten".

Dresdner Handy-Gate: Andreas Schurig, sächsischer Datenschutzbeauftragter, musste laut taz (Marlene Halser/Christian Rath) Kritik einstecken, nachdem er die Massenerfassung von Funkzellendaten als "unverhältnismäßig" dargestellt hatte. Der sächsische Richterverein sehe in Schurigs Verhalten eine Überschreitung seiner Kompetenzen sowie eine Gefährdung der "Unabhängigkeit der Justiz". Die taz zitiert den Richterverein: "In Wahrheit will er den Richter treffen, der die beanstandete Maßnahme angeordnet hat." Unterstützung habe Schurig jedoch von Seiten der Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern bekommen.

LBBW: Warum die Landesbank Baden-Württemberg mit einer Klage gegen Goldmann Sachs vor einem New Yorker Bezirksgericht gescheitert ist, berichtet die FTD (Meike Schreiber).

Facebook: Facebook hat abermals Ärger mit dem Datenschutz. Wie die FR (Matthias Thieme) informiert, ermittle eine irische Datenschutzbehörde auf der Grundlage zahlreicher "gut begründeter Anzeigen (....) wegen Verstoßes gegen Datenschutzgesetze". Da Facebook eine Tochtergesellschaft in Irland habe, die für alle Kunden des sozialen Netzwerks "außerhalb der USA und Kanada" als Vertragspartnerin fungierende "Facebook Ireland Limited", könne auch "nach europäischen Recht" vorgegangen werden.

Verurteilten-Statistik: Die FAZ (Karin Truscheit) berichtet über die vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Zahlen über "rechtskräftig verurteilte Personen in Deutschland". Danach sinke die Zahl der Verurteilten.

Weitere Themen – Sonstiges

Umsatzplus für Anwaltskanzleien: Die 50 größten Anwaltskanzleien in Deutschland konnten im vergangenen Geschäftsjahr Einnahmen von insgesamt etwa 3,6 Milliarden Euro verzeichnen. Wie die FAZ (Joachim Jahn) aus dem "Juve"-Bericht informiert, waren es im Vorjahr noch unter 3,5 Milliarden Euro. Freshfields Bruckhaus Deringer sei weiterhin Marktführer.

Am Dienstag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

(Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.)

lto/dc

(Hinweis für Journalisten)

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 30. September 2011: Neues Wahlrecht, alte Probleme – 47er Regelung für Stasiunterlagenbehörde – Warten aufs Studium . In: Legal Tribune Online, 30.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4433/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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