BVerfG betont das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, ohne den EuGH herauszufordern. Bei Equal Pay-Klagen kann ein männliches Spitzengehalt als Maßstab dienen. BVerwG bestätigt erneut den Schutz anerkannter Flüchtlinge in Griechenland.
Thema des Tages
BVerfG zu kirchlichem Arbeitsrecht: Das Bundesverfassungsgericht hat die Bedeutung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im kirchlichen Arbeitsrecht neu justiert. Die kirchliche Selbstbestimmung soll in der Abwägung mit den Rechten der Beschäftigten zwar "besonderes Gewicht" haben. Letztlich sollen aber staatliche Gerichte entscheiden, ob die Anforderungen der Kirchen an ihre Mitarbeiter:innen verhältnismäßig sind. Je größer die Bedeutung der Stelle für die religiöse Identität der Religionsgemeinschaft ist, desto eher kann von Beschäftigten zum Beispiel eine Kirchenmitgliedschaft gefordert werden. Das BVerfG integrierte damit Vorgaben des EuGH in seine Rechtsprechung. Im konkreten Fall hob das BVerfG ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2018 auf, das die Diakonie zur Entschädigung der konfessionslosen Stellenbewerberin Vera Egenberger verurteilt hatte. Das BAG habe dabei das kirchliche Selbstbestimmungsrecht zu wenig berücksichtigt und muss nun erneut entscheiden. FAZ (Marlene Grunert), SZ (Wolfgang Janisch), taz (Christian Rath), FR (Ursula Knapp), tagesschau.de (Max Bauer), zdfheute.de (Christoph Schneider), spiegel.de, beck-aktuell (Maximilian Amos) und LTO (Tanja Podolski) berichten und analysieren.
LTO (Tanja Podolski) hat Reaktionen auf den Beschluss eingeholt. Es sei ein Eigentor für die Kirchen, meint beispielsweise die frühere BAG-Richterin Ulrike Brune. "Anders als bisher müssen sie nun Gründe dafür angeben, wenn sie besondere Loyalitätsforderungen an Arbeitnehmer stellen. Religionszugehörigkeit dürfen sie nur verlangen, wenn die betreffende Arbeit es für den religiösen Sendungsauftrag erfordert. Und das können die staatlichen Gerichte jetzt im Einzelnen überprüfen." Für Christoph Schmitz-Scholemann, ebenfalls Richter am BAG i.R., ist "die Entscheidung auf jeden Fall ein schönes Zeichen für den in Karlsruhe eingekehrten europafreundlichen Geist".
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts habe auch eine freiheitliche Komponente, kommentiert Gigi Deppe (tagesschau.de). Sie bewahre religiöse Freiräume in der Gesellschaft: "Nicht alle müssen nach denselben Regeln funktionieren. Eine Glaubensgemeinschaft darf ihren jeweiligen Glauben und ihre Sichtweise hochhalten". Auch Annette Zoch (SZ) findet es richtig, "schließlich gehe es um einen Job in einer christlichen Organisation". Reinhard Müller (FAZ) rät als Konsequenz aus der Entscheidung, die Kirchen sollten von ihrem Recht Gebrauch machen und nicht allgemeiner Beliebigkeit anheimfallen.
Rechtspolitik
Wehrpflicht: Im Verfassungsblog argumentiert der Doktorand Navid Jungmann, dass eine bedarfsorientierte Reaktivierung der Wehrpflicht verfassungsrechtlich zulässig ist, solange sie sich am Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 I GG orientiert. Das oft geforderte Kriterium der "Allgemeinheit" sei nicht zwingend verfassungsrechtlich geboten und könne den Handlungsspielraum des Gesetzgebers unangemessen einschränken. Ein Losverfahren zur Auswahl der Wehrpflichtigen könne – trotz seiner Zufälligkeit – als besonders gleichheitsgerecht gelten, da es alle potenziell Wehrpflichtigen gleichermaßen betrifft. Insgesamt betont der Autor die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und sieht in der geplanten Ausgestaltung keine verfassungsrechtlichen Hürden.
Grundsicherung: Rechtsreferendarin Annalena Mayr kritisiert auf juwiss.de die geplante Bürgergeldreform als verfassungsrechtlich bedenklich, da sie drastische Sanktionen vorsieht, deren Wirksamkeit empirisch nicht belegt ist. Sie verweist auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019, das Leistungsminderungen über 30 Prozent als verfassungswidrig einstufte und strenge Anforderungen an Verhältnismäßigkeit und Zweckbindung stellte. Besonders problematisch sei der vollständige Leistungsausschluss inklusive Unterkunftskosten, da er das menschenwürdige Existenzminimum gefährden könne. Mayr fordert funktionierende Härtefallregelungen und die Möglichkeit zur Rückkehr in den Leistungsbezug durch nachgeholte Mitwirkung.
Rechtsstaat: Der Präsident des LG Darmstadt a.D. Ralf Köbler kritisiert auf beck-aktuell die Modernisierungsagenda der Bundesregierung als inhaltsleer und für das Rechtswesen enttäuschend. Die angekündigten Reformen seien vage formuliert, wiederholten lediglich bekannte Vorhaben wie das digitale Zivilverfahren und böten keine substanziellen Neuerungen. Besonders bemängelt er, dass konkrete strukturelle Verbesserungen fehlen und stattdessen lediglich Pilotprojekte ohne unmittelbare Wirkung angekündigt werden. Angesichts des bevorstehenden Ruhestands vieler Richter und Staatsanwälte fordert Köbler echte Reformen statt PR-getriebener Symbolpolitik.
Justiz
BAG zu Equal Pay: Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass Frauen bei Gehaltsvergleichen mit männlichen Kollegen nicht auf den statistischen Mittelwert (Median) beschränkt sind, sondern sich auch am Spitzenverdiener orientieren dürfen. Grundlage dafür ist der sogenannte Paarvergleich, der bei vermuteter Geschlechterdiskriminierung herangezogen wird. Das BAG hob ein Urteil des Landesarbeitsgerichts BaWü auf, das im Fall einer Abteilungsleiterin von Daimler Trucks nicht auf den Paarvergleich abstellte. Der Fall wurde vom BAG zur weiteren Prüfung an das LAG zurückverwiesen, wo der Arbeitgeber noch sachliche Gründe für die Gehaltsunterschiede nachliefern kann. Über die Entscheidung schreiben SZ (Wolfgang Janisch), tagesschau.de (Christoph Kehlbach), stern.de (Birte Meier), spiegel.de, beck-aktuell und LTO (Christian Rath).
BVerwG zu Abschiebung nach Griechenland: Das Bundesverwaltungsgericht hat erneut entschieden, dass alleinstehende, erwerbsfähige und nicht-vulnerable Männer mit internationalem Schutzstatus bei einer Rückkehr nach Griechenland keine unmenschlichen oder erniedrigenden Lebensbedingungen zu erwarten haben. Die Asylanträge von diesen über Griechenland nach Deutschland eingereisten Männern können damit schon als unzulässig abgelehnt werden. Das BVerwG hält Notschlafstellen, einfache Unterkünfte und die Möglichkeit zur Arbeit – auch in der Schattenwirtschaft – für ausreichend, um die Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Ernährung und Hygiene zu decken. beck-aktuell und LTO berichten.
EuGH zu Reisemängeln: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass Reisende den vollen Reisepreis zurückverlangen können, wenn gravierende Mängel ihre Pauschalreise objektiv zwecklos machen – selbst, wenn einzelne Leistungen erbracht wurden. Ursprünglich geklagt hatten zwei polnische Urlauber, deren gebuchtes Urlaubsressort während des Aufenthalts komplett zu einer Baustelle geworden war. Die Luxemburger Richter betonten allerdings laut beck-aktuell und LTO, dass die Pauschalreiserichtlinie dem Schutz der Verbraucher dient und nicht der Bestrafung von Reiseveranstaltern, weshalb Strafschadensersatz ausgeschlossen ist.
BVerwG zu Compact-Verbot: Welt (Frederik Schindler) analysiert die nun vorliegende schriftliche Urteilsbegründung des Bundesverwaltungsgerichts zum beanstandeten Verbot des rechtsextremistischen Compact-Magazins. Das BVerwG hatte das Remigrationskonzept von Martin Sellner als menschenwürdewidrig und verfassungswidrig einstuft. Das Urteil betont, dass Konzepte, die deutschen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund einen abgewerteten Status zuschreiben, verfassungswidrig sind.
LAG Hessen zu betrieblichem Datenschutz: Das Hessische Landesarbeitsgericht hat entschieden, dass der Betriebsrat bei der Einführung technischer Überwachungssysteme zwar Mitbestimmungsrechte hinsichtlich der Leistungs- und Verhaltenskontrolle hat, jedoch keine umfassende Mitgestaltungspflicht in Bezug auf die allgemeinen Datenschutzpflichten des Arbeitgebers. Die datenschutzrechtliche Verantwortung liegt allein beim Arbeitgeber, der gesetzlich zur Einhaltung der DSGVO verpflichtet ist. Öffnungsklauseln im Datenschutzrecht erlauben freiwillige Regelungen, begründen aber kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht. Damit bleibt die Rolle des Betriebsrats auf Fragen der Kontrolle und Überwachung beschränkt. Rechtsanwalt Michael Witteler analysiert im Expertenforum Arbeitsrecht die Entscheidung aus dem Dezember 2024.
LG Flensburg zu Schlagloch: Das Landgericht Flensburg hat entschieden, dass keine Amtshaftung besteht, wenn ein Autofahrer beim Aussteigen in ein sichtbares Schlagloch tritt und sich verletzt. Die Richter betonten, dass Verkehrsteilnehmer bei Dunkelheit und Regen eine gewisse Aufmerksamkeit und Vorsicht walten lassen müssen, etwa durch kurzes Vortasten des Untergrunds. Da das Loch auf den vom Kläger selbst eingereichten Fotos deutlich erkennbar war, sah das Gericht keine überraschende Gefahrenlage und wies die Klage ab. LTO berichtet.
LG Aschaffenburg – Messerangriff in Aschaffenburg: Im Verfahren um den Messerangriff von Aschaffenburg sind jetzt jene Menschen zu Wort gekommen, die im Januar 2022 versucht hatten, den Attentäter zu stoppen. Über den Verhandlungstag berichten die FAZ (Kim Maurus) und Welt (Sebastian Gubernator).
LG Frankfurt/M. – Cum-Ex/Fortis: Vor dem Landgericht Frankfurt/M. hat ein weiterer Cum-Ex-Prozess im Umfeld der Bank Fortis begonnen. Zwei Fondsmanager sind wegen besonders schwerer Steuerhinterziehung angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, in den Jahren 2008 und 2009 mithilfe einer Fondsgesellschaft in Gibraltar und in Absprache mit weiteren Beteiligten Cum-Ex-Manipulationen betrieben zu haben, bei denen sie sich Kapitalertragssteuer mehrfach erstatten ließen, obwohl diese nur einmal gezahlt wurde. Der entstandene Steuerschaden soll über 45 Millionen Euro betragen haben und die Angeklagten sollen jeweils über eine Million Euro Gewinn erzielt haben. FAZ (Marcus Jung), Hbl (Volker Votsmeier/Gereon Thönnissen), beck-aktuell und LTO berichten.
Abschiebungen nach Syrien: Mehrere deutsche Verwaltungsgerichte haben laut Spiegel entschieden, dass Abschiebungen nach Syrien unter bestimmten Bedingungen wieder möglich sind, insbesondere für arbeitsfähige Männer und Straftäter. Trotz der weiterhin angespannten Lage in Syrien sehen die Gerichte in einzelnen Regionen keine akute Gefahr für Rückkehrer, etwa in Idlib oder Nordostsyrien.
Recht in der Welt
Frankreich – Greenwashing: Ein französisches Gericht hat TotalEnergies wegen des Einsatzes "irreführender Geschäftspraktiken" zu Schadensersatz verurteilt. Der Konzern hatte in einer Kampagne vorgegeben, bis 2050 CO₂-neutral zu werden und eine führende Rolle bei der Energiewende zu spielen, obwohl der Großteil seiner Aktivitäten weiterhin auf fossilen Brennstoffen basiert. Das Unternehmen muss nun den drei klagenden NGO's jeweils 8000 Euro zahlen. Umweltorganisationen bezeichneten das Urteil als "Wendepunkt", weil es weltweit das erste Mal sei, dass ein großes Öl- und Gasunternehmen wegen "Greenwashing seines Images" verurteilt wurde. taz (Christine Longin) und spiegel.de berichten.
Russland/Ukraine – Eingefrorene russische Vermögen: Rechtsanwalt Patrick Heinemann argumentiert auf LTO (in einem wiederveröffentlichten Artikel aus dem Januar 2024), dass die Konfiskation und Überweisung des eingefrorenen russischen Zentralbankvermögens an die Ukraine völkerrechtlich zulässig wäre, da es kein ausdrückliches Verbot dafür gebe und souveräne Staaten grundsätzlich frei handeln dürften. Er widerspricht der Annahme, dass Staatsvermögen absolut geschützt sei, und verweist darauf, dass bereits Zinsen aus dem Vermögen an die Ukraine weitergeleitet wurden – ein Präzedenzfall, der die Unantastbarkeit widerlege. Die Maßnahme sei als verhältnismäßige Gegenmaßnahme im Sinne des Völkerrechts zu werten, da Russland durch seinen Angriffskrieg massive Völkerrechtsverletzungen begehe und mildere Sanktionen bislang wirkungslos geblieben seien.
Ukraine – Justizreform: Der Politikwissenschaftler Andrii Nekoliak kritisiert im Verfassungsblog (in englischer Sprache) die ukrainische Justizreform als übermäßig ehrgeizig und warnt vor den Risiken eines reformistischen Übereifers. Er hebt hervor, dass die geplanten Änderungen am Disziplinarrahmen für Richter – etwa die Ausweitung der Beschwerderechte auf politische Akteure – die richterliche Unabhängigkeit gefährden und zu Missbrauch führen könnten. Nekoliak plädiert für einen maßvolleren, technokratischen Reformansatz, der bestehende Strukturen stärkt, statt sie durch immer neue, oft erratische Maßnahmen zu destabilisieren.
IGH/Israel – Hilfe in Gaza: Auch LTO (Franziska Kring) berichtet jetzt über das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Verpflichtung Israels als Besatzungsmacht, die grundlegende Versorgung der Bevölkerung im Gaza-Streifen zu gewährleisten.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Mediums.
Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/pf/chr
(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Sie können die tägliche LTO-Presseschau im Volltext auch kostenlos als Newsletter abonnieren.
Die juristische Presseschau vom 24. Oktober 2025: . In: Legal Tribune Online, 24.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58457 (abgerufen am: 07.11.2025 )
Infos zum Zitiervorschlag