Die juristische Presseschau vom 26. bis 28. Oktober 2024: BVerfG vor Soli-Ver­hand­lung / Neu­re­ge­lungen zum anwalt­li­chen Berufs­recht / Amnestie für fal­sche Mas­kenat­teste?

28.10.2024

Am 12. 11. verhandelt das BVerfG über den Solidaritätszuschlag. Das BMJ legte einen Gesetzentwurf zum Berufsrecht der rechtsberatenden Berufe vor. Sarah Wagenknecht fordert Amnestie für Ärzte, die falsche Corona-Masken-Atteste erstatteten.

Thema des Tages

BVerfG – Solidaritätszuschlag: Am 12. November will das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde von sechs FDP-Politiker:innen gegen die Anwendung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 in den Jahren 2020/2021 verhandeln. Zwei der Kläger:innen – Florian Toncar und Katja Hessel – sind heute Parlamentarische Staatssekretäre im Bundesfinanzministerium, das in Karlsruhe nun den Solidaritätszuschlag verteidigen muss, auch wenn Finanzminister Christian Lindner (FDP) selbst ein erklärter Gegner des Steuerzuschlags ist. Die Mo-FAZ (Manfred Schäfers) erläutert ausführlich den Hintergrund des Verfahrens. Dass die Karlsruher Richter:innen gewillt seien, "grundsätzlich an die Aufgabe heranzugehen", könne aus der tiefen Gliederung für die mündliche Verhandlung geschlossen werden. Das wecke Erinnerungen an ihr Vorgehen beim Nachtragshaushalt 2021.

Rechtspolitik

Anwaltliches Berufsrecht: Das Bundesjustizministerium hat einen Gesetzentwurf zur Neustrukturierung von Regelungen rechtsberatender Berufe vorgelegt. Wie LTO (Hasso Suliak) und beck-aktuell zusammenfassen, sind von der Neuordnung vor allem Regelungen für die aufsichtsrechtliche Tätigkeit der Anwalts- und Steuerberaterkammern, aber auch solche zu den Vorstandswahlen der Kammern und zur ehrenamtlichen Tätigkeit bei den Gerichten erfasst. Zudem sieht der Entwurf Erleichterungen und erweiterte Möglichkeiten bei der Zulassung von Syndikusanwält:innen vor. Länder und Verbände haben nun Gelegenheit, bis zum 29. November 2024 Stellung zu nehmen. Die Neuregelung soll zum 1. Januar 2026 in Kraft treten.

Corona-Masken-Atteste: Die WamS (Elke Bodderas/Benjamin Stibi) widmet sich der Debatte um eine Amnestie für Mediziner:innen, die während der Corona-Pandemie unrichtige Atteste für eine Befreiung von der Maskenpflicht ausgestellt hatten. Mittlerweile seien mehr als 1.000 Urteile im Zusammenhang mit ärztlichen Maskenattesten ergangen und noch hunderte Verfahren anhängig. Für eine Amnestie sprechen sich beispielsweise die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht und Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler aus. Gegenstimmen, wie der FDP-Vize Wolfgang Kubicki und Jakob Maske vom Berufsverband der Kinderärzte verweisen auf die grundsätzliche Bedeutung von Attesten. 

Catcalling: Niedersachsen will, dass das so genannte "Catcalling" – also das Hinterherpfeifen auf der Straße und Rufen anzüglicher Kommentare – unter Strafe gestellt wird und plant, einen Gesetzentwurf gegen nonverbale sexuelle Belästigung in den Bundesrat einzubringen. Das berichtet die Mo-taz (André Zuschlag/Fanny Schuster). "Viel zu viele Mädchen und Frauen müssen bislang erleben, dass Männer sie mit Worten oder Gesten zum bloßen Sexualobjekt degradieren", wird die niedersächsische Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) zitiert. Mit Hilfe von Zeug:innen sei auch eine Strafverfolgung möglich.

Mindestlohn: Wie die Mo-FAZ (Manfred Schäfers) mitteilt, wurde im Bundesgesetzblatt verkündet, dass die EU-Mindestlohnrichtlinie durch das deutsche Recht ordnungsgemäß umgesetzt wurde. Damit habe das Bundesarbeitsministerium klargestellt, dass das EU-Recht weder eine Anpassung noch einen Sprung der Verdienstuntergrenze auf 14 oder 15 Euro verlange. Vor Kurzem hatte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) noch insinuiert, dass gegebenenfalls das deutsche Recht geändert werden müsse, um europäischen Vorgaben zu genügen.

Schwangerschaftsabbruch: Im Verfassungsblog stellt nun auch die Habilitandin Laura Anna Klein den jüngst von 26 Verbänden vorgelegten Gesetzentwurf für eine Regelung des Schwangerschaftsabbruches außerhalb des Strafrechts vor. Sie plädiert dafür, das Zeitfenster, das jetzt politisch und gesellschaftlich für Reformen des Abtreibungsrechtes offen stehe, zu nutzen. Die "inkonsistente und widersprüchliche" Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1993 überzeuge nicht mehr.

Verschwindenlassen: Ex-Bundesrichter Thomas Fischer erläutert in seiner spiegel.de-Kolumne den neuen § 234b Abs. 1 StGB, der das UN-Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen aus dem Jahr 2006 umsetzen soll. Der Tatbestand habe allerlei Tücken, die eine Anwendung erschweren werden, befürchtet Fischer, der in der Neuregelung dann auch eher "symbolisches Strafrecht" sieht, also Normen, die zwar "gut gemeint" seien, aber ohne praktische Bedeutung bleiben und stattdessen nach außen, also für die Bevölkerung oder für internationale Partner, den Eindruck von Aktivität erzeugen sollen.

Steuern: Der Versuch, mit dem Steuerrecht Anreize für bestimmte Verhaltensweisen zu schaffen sei gescheitert, derzeit führe "das wuchernde Dickicht aus überlieferten und widersprüchlichen Steuerregeln" zu "enormen Ungerechtigkeiten", argumentiert Stephan Radomsky (Sa-SZ) in einem Essay. Es komme jedes Mal noch etwas dazu, aber nur sehr selten etwas weg, kritisiert er. Das Ergebnis: Irgendwie werde alles gefördert, aber nichts so richtig. Es sei "Zeit für eine ehrliche Debatte", meint Radomsky.

MPK-Ergebnisse: Um Migration, Finanzen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ging es bei der Ministerpräsidentenkonferenz in der vergangenen Woche. Wie LTO berichtet, haben sich die Länderchefs unter anderem für die Fortsetzung der Grenzkontrollen und weitere Abschiebungen nach Afghanistan, Syrien und in die Türkei ausgesprochen. Bei der von CDU und CSU erhobenen Forderung nach Zurückweisungen von Asylsuchenden an der Grenze erzielten die Regierungschef:innen bei ihrer Jahreskonferenz in Leipzig dagegen keine Einigung. 

MPK – öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Beim heiklen Thema der Erhöhung des Rundfunkbeitrags wurde eine Entscheidung vertagt. Allerdings einigten sich die Ministerpräsident:innen auf eine tiefgreifende Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – mit weitreichenden Folgen für die Fernseh- und Hörfunkangebote. Was sich bei der Rundfunkreform ändern soll, fasst LTO in einem weiteren Artikel zusammen.

Ausführlich stellt der Medienrechtler Wolfgang Schulz auf LTO die geplanten Reformen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor und stellt dabei fest, dass dies "ein gutes Stück Reaktion auf populistischen Druck" sei.

Justiz

EuGH zu FIFA-Transferregeln/Diarra: Der Rechtswissenschaftler Antoine Duval argumentiert im Verfassungsblog (in englischer Sprache), dass die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zu den FIFA-Transferregeln von Anfang Oktober einen entscheidenden Wendepunkt für den Fußball, seine Wirtschaft und sogar seine Identität darstellt.

LG Erfurt zu Dieselskandal/Rechte der Natur: Die Urteile des LG Erfurt zu Rechten der Natur reihten sich in eine Rechtspraxis ein, die 2006 zuerst in den USA entstand und seitdem etwa in Kolumbien, Neuseeland und Spanien Schule gemacht habe, schreibt der Philosoph Tilo Wesche in der Sa-FAZ. Wer dieses Angebot in Zeiten steigender Meeresspiegel sowie von Hitze-, Unwetter- und Dürrerekorden leichtfertig ausschlage, habe "den Schuss nicht gehört", meint der Autor.

VGH BaWü – Stuttgart 21: Die Bahn hat gegen das im Mai verkündete Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart zu den Mehrkosten des Projektes Stuttgart 21 einen Antrag auf Zulassung der Berufung beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim gestellt. Das Unternehmen sei nach wie vor der Auffassung, dass sich die Projektpartner an der Finanzierung der Mehrkosten beteiligen müssen, so spiegel.de und beck-aktuell.

RiDG Sachsen – Jens Maier: Vor dem sächsischen Richterdienstgericht wurde am Freitag über die endgültige Entfernung des AfD-Politikers und Richters Jens Maier aus dem Justizdienst verhandelt. Er war bereits vor zwei Jahren in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden, doch das sächsische Justizministerium will den heute 62-Jährigen komplett aus dem Richterdienst entfernen und hat deshalb eine weitere Disziplinarklage erhoben. Die Verhandlung soll am 28. November fortgesetzt werden. LTO und beck-aktuell berichten. 

Überlastung StA Hessen: Hessische Staatsanwaltschaften beklagen sich über eine zu hohe Arbeitsbelastung. Es fehle an Personal, um die Flut neuer Fälle zu bewältigen und Bestände abzubauen, so der Richterbund Hessen laut LTO. Der kontinuierlich viel zu hohe Arbeitsanfall bei gleichzeitigen personellen Engpässen habe die Kolleginnen und Kollegen der Staatsanwaltschaften in den zurückliegenden Jahren bereits "sprichwörtlich ausgebrannt".

Vor Gericht: In der letzten Ausgabe der Kolumne "Vor Gericht" erinnert sich Ronen Steinke (Sa-SZ) an ein Interview mit der Berliner Generalstaatsanwältin Margarete Koppers aus dem Jahr 2021. Er und Verena Mayer, mit der er das Interview führte und wechselweise die Kolumne schrieb, seien sich einig gewesen, dass die Aufgabe von Justiz und Rechtsjournalismus ähnlich sei: "Sich möglichst frei machen von Gewissheiten. Sich unvoreingenommen Menschen nähern." 

Recht in der Welt

Völkerrecht: Das Völkerrecht sei heute sehr viel häufiger Thema als noch in den 1990er- oder 2000er-Jahren, in politischen Ansprachen und auch in Gerichtssälen, stellt Ronen Steinke (Mo-SZ) im Feuilleton fest und sieht dabei allerdings einen Widerspruch zur tatsächlichen Wirkung "on the ground". So habe es die Verantwortlichen für die israelische Kriegsführung nicht erkennbar beeindruckt, dass Israel zwischenzeitlich sogar wegen des Vorwurfs eines "Genozids" vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zitiert wurde. Und auch die Den Haager Aufforderung an die Hamas, ihr völkerrechtswidriges Kidnapping von israelischen Zivilist:innen und ihren völkerrechtswidrigen Raketenbeschuss von israelischen zivilen Wohngebieten sofort zu beenden, sei dort vollkommen abgeperlt. Wenn die Berufung auf das Völkerrecht nicht irgendwann auch den konkreten Erfolg bringe, "dass sich Armeen mal tatsächlich stärker daran halten, was das Recht ihnen seit so vielen Jahren vorschreibt", werden die Hoffnungen auf das Recht umso schneller wieder in sich zusammenfallen.

USA - Trump/Sonderermittler Smith: Mit der Ankündigung im Falle seiner Wiederwahl den Sonderermittler Jack Smith "innerhalb von zwei Sekunden" zu entlassen, habe der Präsidentschaftskandidat Donald Trump in Aussicht gestellt, sich über das Gesetz zu stellen und die Gerichtsbarkeit entmachten zu wollen, kommentiert Boris Herrmann (Sa-SZ). So wie Trump rede, spreche "ein Faschist mit Ansage".

USA - Präsidentschaftswahl: Im Editorial des Verfassungsblogs (Moritz Schramm/ Marie Müller-Elmau) wird das amerikanische Wahlsystem, insbesondere das so genannte Electoral College erläutert. Das Wahlsystem führe dazu, dass es letztendlich von einer Handvoll US-Staaten abhängt, wer als US-Präsident:in gewählt wird.

USA – Menendez-Brüder: Die beiden als Mörder verurteilten Brüder Erik und Lyle Menendez könnten demnächst freikommen, schreiben Mo-SZ (Jürgen Schmieder) und spiegel.de (Philipp Wittrock). Es sei eine spektakuläre Wende in einem der ohnehin schon spektakulärsten Kriminalfälle der USA: Seit mehr als 34 Jahren sitzen die Brüder im Gefängnis, weil sie im August 1989 als damals 18- und 21-Jährige ihre Eltern in der Familienvilla in Beverly Hills brutal getötet hatten. Der um seine Wiederwahl kämpfende Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles George Gascón hat den Antrag gestellt, das Strafmaß für die beiden neu zu bewerten. In der ursprünglichen Entscheidung sei zu wenig beachtet worden, dass die beiden als Kinder von ihrem Vater missbraucht worden waren. Möglich wäre dann die Umwandlung in eine Bewährungsstrafe. Darüber muss nun ein Richter entscheiden, in einigen Wochen soll es eine Anhörung geben. Der Fall hatte einst öffentliche Aufmerksamkeit als erster großer Court-TV-Fall gewonnen und jüngst erneut durch eine Netflix-True-Crime-Verfilmung.

Großbritannien – Erbstreit um Briefmarkensammlung: In England hat ein Mann eine Briefmarkensammlung im Wert von 240.000 Euro seiner Putzfrau "geschenkt", die sich nun einer Klage der enterbten Stieftochter ausgesetzt sieht. Der Mann hatte die Sammlung seiner Reinigungskraft sicherheitshalber zu einem symbolischen Preis von einem Pfund verkauft. LTO erläutert, wie der Fall nach deutschem Recht zu beurteilen wäre.

Juristische Ausbildung

Legal Tech im Studium: Wie studentische Legal Tech-Labs die Lücke füllen können, die in der juristischen Ausbildung in Bezug auf die Digitalisierung bisher noch bestehen, beschreibt beck-aktuell (Jannina Schäffer).

Sonstiges

Legal Tech: Wie Legal-Tech-Unternehmen und Kanzleien dabei mitwirken, gleichartig gelagerte Ansprüche mit Hilfe von digitaler Technik durchzusetzen und wie die Justiz darauf reagiert, beschreibt die FAS (Anna Sophie Kühne). Damit das Geschäftsmodell funktioniere, komme es auf die Skalierung an. Die Firma Rightnow beispielsweise komme nach eigenen Angaben mit einem Dutzend Mitarbeiter:innen auf ein jährliches Volumen zwischen 30 und 50 Millionen Euro an Forderungen. Für die Gerichte bedeute das allerdings eine deutliche Steigerung der Fallzahlen. In Deutschland fehle es an einem effektiven Instrument für den kollektiven Rechtsschutz. Und oft scheitere der Einsatz eigener digitaler Tools daran, dass die Gerichte noch nicht die elektronische Akte nutzen.

Führungskräfte in Strafverfahren: Über die Folgen für Führungskräfte, die in das Visier der Justiz geraten, und die Lücke, die hier beim Versicherungsschutz besteht, schreibt Rechtsanwalt Rafael van Rienen in der Mo-FAZ. Viele Rechtsschutzversicherungen böten keinen Strafrechtsschutz und Manager-Haftpflichtversicherungen deckten regelmäßig nur zivilrechtliche Ansprüche ab. 

Jurist:innen beim BND: LTO (Vanessa M. Rolke) stellt die Karrieremöglichkeiten für Jurist:innen beim Bundesnachrichtendienst vor und erläutert, was man dafür mitbringen muss und welche Aufgaben die juristischen BND-Mitarbeiter:innen haben.

 

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LTO/pf/chr

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 26. bis 28. Oktober 2024: . In: Legal Tribune Online, 28.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55723 (abgerufen am: 08.12.2024 )

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