Die juristische Presseschau vom 24. bis 26. August 2024: Der Anschlag und mög­liche Kon­se­qu­enzen / Vb zum "Judensau-Urteil" abge­lehnt / Linke klagt gegen Lindner

26.08.2024

Nach dem tödlichen Messerangriff von Solingen wird über Waffen- und Migrationsrecht diskutiert. Die Verfassungsbeschwerde zum Wittenberger "Judensau"-Relief wurde abgelehnt. Die Linke klagt gegen Lindners Schuldenbremsen-Annoncen.

Thema des Tages

Messermorde von Solingen: Ein Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof hat auf Antrag des Generalbundesanwalts Haftbefehl gegen den Syrer Issa al H. erlassen. Er soll am Freitagabend auf einem Solinger Bürgerfest mit einem Messer drei Menschen getötet und weitere verletzt haben. Am Samstagabend hatte er sich der Polizei gestellt. Ihm wird Mord und die Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vorgeworfen. spiegel.de berichtet.

Unterdessen hat die politische Debatte um mögliche Konsequenzen für das Waffen- und Migrationsrecht begonnen. Laut Mo-FAZ (Marlene Grunert) wächst die Unterstützung für die Pläne von Innenministerin Nancy Faeser, Messer mit einer Klingenlänge über sechs Zentimeter in der Öffentlichkeit zu verbieten. Für Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sei das "kein Tabu" mehr; bislang hatte die FDP entsprechende Vorschläge als "symbolhaft" abgelehnt. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz sagte dagegen: nicht die Messer seien das Problem, "sondern die Personen, die damit herumlaufen". In der Mehrzahl der Fälle seien dies Flüchtlinge, in der Mehrzahl der Taten stünden islamistische Motive dahinter. Ausreisepflichtige Ausländer:innen sollten in "zeitlich unbegrenzten Abschiebegewahrsam" genommen werden. Merz fordert zudem, dass wieder nach Afghanistan und Syrien abgeschoben werden kann und Flüchtlinge aus diesen Ländern nicht mehr aufgenommen werden sollen. Es berichten Mo-FAZ (Marlene Grunert), Mo-SZ (Daniel Brössler/Constanze von Bullion), die Mo-taz (Konrad Litschko/Tobias Schulze) berichten.

Es sei verständlich, wenn nun noch intensiver über Messerverbote und Abschiebungen diskutiert werde als ohnehin schon, meint Detlef Esslinger (Mo-SZ), der aber vor Erwartungen, die womöglich kaum zu erfüllen seien, warnt. Jasper von Altenbockum (Mo-FAZ) kommentiert: "Wenn nicht alles täuscht, ist es nicht das Messer, das die Hand dieser Männer und auch des Attentäters von Solingen führte". Die Messerdebatte sei vielmehr ein Symptom für die verfehlte linke Haltung, dass man gegen islamistische Anschläge eh nichts machen könne. Für Thomas Siegmund (Hbl) ist es dagegen "unbegreiflich, dass es noch Kritik an härteren Anti-Messer-Regeln gibt". Natürlich könne ein Verbot des Tragens von Messern mit mehr als sechs Zentimeter langen Klingen in bestimmten Gebieten keine absolute Sicherheit garantieren. Doch wenn der Staat nicht jede Möglichkeit nutze, um gegen diese Entwicklung vorzugehen, dann sei ihm nicht zu helfen.

Rechtspolitik

Schöff:innen: Nach Informationen von LTO (Max Kolter) plant das Bundesjustizministerium eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes, so dass künftig eine Tätigkeit als Schöff:in nicht erst bei einer Vorstrafe von mehr als sechs Monaten ausgeschlossen ist, sondern bereits wenn eine Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe von mehr als 91 Tagessätzen verhängt wurde. Die Beschränkung auf vorsätzliche Taten soll allerdings bestehen bleiben.

Bundeshaushalt: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Lukas Märtin beklagt im Verfassungsblog in der laufenden Debatte um den Bundeshaushalt eine übermäßigenFixierung auf den verfassungsrechtlichen Rahmen. "Die Konstitutionalisierung der Haushaltspolitik durch die Schuldenbremse verschiebt so den Fokus von wirtschaftlichen und politischen Erwägungen für eine angemessene Finanzierung einzelner Politikbereiche stark auf die Einhaltung rechtlicher Maßgaben".

Justiz

BVerfG zu "Judensau"-Relief: Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde des Juden Michael Düllmann gegen das BGH-Urteil zur antisemitischen Schmähplastik an der Wittenberger Stadtkirche ("Judensau"-Relief) ohne weitere Begründung abgelehnt. Das berichtet sz.de (Wolfgang Janisch). Der BGH hatte 2022 die Klage Düllmanns abgewiesen, weil die Kirchengemeinde durch eine Bodenplatte und ein erläuterndes Schild das Schandmal in ein Mahnmal umgewandelt habe. Der Kläger argumentierte jedoch, eine solche antisemitische Plastik gehöre überhaupt nicht in die Öffentlichkeit. Im Übrigen sei die eindeutige Distanzierung misslungen, es fehle eine klare Verurteilung. Düllmann will nun Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erheben.

BVerfG – Schuldenbremsen-Kampagne: Die Linkspartei verklagt Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) wegen einer Anzeigen-Kampagne des Ministeriums zum 15. Jubiläum der Schuldenbremse im Grundgesetz. Weil der Finanzminister mit Steuergeld im Mai und Juni 2024 zwei Anzeigen in der FAZ in Auftrag gegeben habe, habe er das Recht der Linkspartei auf gleiche Chancen im Parteienwettbewerb verletzt, heißt es in der Organklage. Der Spiegel und beck-aktuell berichten.

BVerfG zu Bundestags-Wahlrecht: Mit seiner Entscheidung zur Grundmandatsklausel habe sich das Bundesverfassungsgericht zu Recht endgültig von seiner "Folgerichtigkeitsdogmatik" verabschiedet, erklärt der Jurastudent Jasper Nebel im Verfassungsblog. Die Bundesregierung hatte die nun beanstandete Abschaffung der Klausel mit der Warnung von Sachverständigen begründet, sie sei im neuen Wahlrecht mit seiner Zweitstimmendeckung systemfremd.

BVerwG – Compact-Verbot: Bundesinnenministern Nancy Faeser (SPD) habe beim (vorläufig ausgesetzten) Verbot des rechtsextremistischen Compact-Verlags nichts Falsches getan, kommentiert Jost Müller-Neuhof (tagesspiegel.de) in Bezug auf die öffentliche Kritik. Das zu erwartende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Frühjahr 2025 – und eine möglicherweise nachfolgende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes – werde der Presse Sicherheit und den Behörden Maßstäbe geben, wie in solchen Fällen zu verfahren sei. Das sei der freiheitliche Rechtsstaat, den Compact-Chefredakteur Elsässer abschaffen wolle, so Müller-Neuhof.

OVG RhPf zu Niqab am Steuer: Wie LTO berichtet, ist vor dem Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz eine Frau gescheitert, die mit Niqab Auto fahren wollte, dafür eine Ausnahmegenehmigung begehrte und sich dabei auf die Religionsfreiheit berief. Der Niqab beeinträchtige die Sicht der Fahrerin und stelle damit eine potenzielle Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs dar. Die Frau könne auch den Öffentlichen Nahverkehr oder ein Motorrad nutzen.

AG Köln zu Feindeslisten: Eine Webseite, die Äußerungen zusammenstellt, mit denen zwischen 2021 und 2022 Impfgegner:innen öffentlich angegriffen worden waren, ist keine "Feindesliste" i.S.d. § 126a StGB, auch wenn dabei die Urheber:innen der Zitate genannt werden. Dies hat jetzt das Amtsgericht Köln entschieden. Die entsprechende Internetseite sei von der Meinungsfreiheit gedeckt. Außerdem sei die Zusammenstellung weder geeignet noch dazu bestimmt, die Urheber:innen der Zitate zu gefährden. Es berichtet beck-aktuell.

AG Leipzig – Melanie Müller/Hitlergruß: Das Amtsgericht Leipzig hat die Schlagersängerin Melanie Müller wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und wegen Drogenbesitzes zu einer Geldstrafe von insgesamt 160 Tagessätzen zu je 500 Euro, insgesamt also 80.000 Euro, verurteilt. Das Gericht hielt es für erwiesen, dass die Schlagersängerin bei einem Konzert mehrmals den Hitlergruß zeigte. Sa-FAZ (Mina Marschall), Sa-SZ (Johannes Bauer), spiegel.de und LTO berichten.

VG Potsdam – Wahl-Debatte im TV: Die brandenburgische FDP will den öffentlich-rechtlichen Rundfunksender rbb per einstweiliger Anordnung zwingen, die FDP zur TV-Debatte am 17. September vor der Landtagswahl einzuladen. Der rbb hatte argumentiert, er wolle nur Parteien teilnehmen lassen, die eine "realistische Chance" auf den Einzug in den Landtag haben, und dazu gehöre die FDP laut den aktuellen Umfrageergebnissen mit drei Prozent nicht. Rechtsanwalt Niko Härting, der die FDP Brandenburg vertritt, verweist dagegen auf das Parteienrecht. "Die Relevanz einer Partei bestimmt sich nicht nach der letzten Meinungsumfrage, sondern nach der bundes- und landespolitischen Bedeutung der Partei". Es berichten Mo-SZ und bild.de (Lena Glöckner/Burkhard Uhlenbroich)

StA Berlin – Gesichtserkennung: Die Berliner Staatsanwaltschaft hat, wie sich aus der Antwort auf eine Anfrage im Berliner Abgeordnetenhaus ergeben hat, in mehreren Fällen Software zur biometrischen Gesichtserkennung verwendet. Die Maßnahmen seien im Rahmen der Amtshilfe in Brandenburg und Sachsen durchgeführt worden, Anlässe seien schwerer Bandendiebstahl und Raub gewesen. Laut netzpolitik.org (Sebastian Meineck) prüft nun die Berliner Datenschutzbeauftragte Meike Kamp die Rechtmäßigkeit.

Recht in der Welt

Großbritannien – überfüllte Gefängnisse: Weil nicht zuletzt durch die Verurteilungen im Zusammenhang mit den rassistischen Ausschreitungen in manchen Regionen überfüllte Gefängnisse drohen, hat jetzt ein britischer Richter angeordnet, dass Magistrates’ Courts (Amtsgerichte) Urteile aufschieben sollen, bei denen Gefängnisstrafen drohen. Das berichtet spiegel.de. Magistrates’ Courts verhandeln geringfügigere Straftaten, wie etwa Verkehrsdelikte, Sachbeschädigung oder einfache Körperverletzung, teilweise aber auch Drogendelikte, und können dabei Haftstrafen von bis zu sechs Monaten verhängen.

Großbritannien – Ausschreitungen/Internetfahndungen: Weil die Gewalt auf britischen Straßen Anfang August mit der Falschmeldung im Internet angefangen hatte, dass ein Messerangreifer ein jüngst illegal eingereister Migrant sei, suchen die Strafbehörden nun auch im Internet nach Tätern, berichtet die Mo-FAZ (Carlota Brandis). Seitdem sei es zu mehreren Festnahmen, Anklagen und Verurteilungen wegen des Anstiftens zu „schwerer Gewalt“ durch Beiträge in den sozialen Medien gekommen. Einer der spektakulärsten Fälle sei dabei der von Farhan A. gewesen, der in der pakistanischen Stadt Lahore festgenommen wurde. Er soll die Ausschreitungen mit angestachelt haben, indem er als einer der ersten auf einer Website die Falschmeldung über den Messerangreifer verbreitete.

Sonstiges

Resilienz der Demokratie: In einem Gastbeitrag für die Mo-FAZ befassen sich die Politikprofessor:innen Sabine Kropp und Florian Grotz mit der Resilienz der bundesdeutschen Demokratie. Sie warnen vor Vorschlägen, die sich situativ nur auf die AfD beziehen, weil dies die Überparteilichkeit des Staats in Frage stelle. Nach Ansicht der Autoren sollte es nicht darum gehen, "Feuer mit Feuer zu bekämpfen". Die Autor:innen schlagen alternativ drei Handlungsoptionen vor, um den Einfluss einer Landesregierung mit populistischer Beteiligung zu begrenzen. Erstens sollten im Bundesrat Enthaltungen bei zustimmungspflichtigen nicht mehr als faktische Nein-Stimmen wirken. Zweitens solle die Beschlussfassung in Fachministerkonferenzen generell nicht mehr einstimmig erfolgen. Gegen renitente Bundesländer sollten drittens finanzielle Sanktionen verhängt werden können.

Digitale Dienste: Im Interview mit netzpolitik.org (Christ Köver) analysiert Jürgen Bering von der Gesellschaft für Freiheitsrechte den Digital Services Act der EU, der vor einem Jahr in Kraft getreten ist. Sein Resümee ist gemischt: Positiv nannte er mehr Transparenz und bessere Verfahrensrechte, meinte aber auch, dass manchmal die Regeln auch nicht weit genug gingen. Das betreffe beispielsweise die Frage, wann etwas wem angezeigt wird. Hier hielten sich die Plattformen gerne bedeckt, kritisiert Bering.

Hass und Hetze: Ex-Bundesrichter Thomas Fischer fasst in seiner spiegel.de-Kolumne zusammen, wie das Strafgesetzbuch verschiedene Formen von Hass und Hetze definiert, und verweist dabei insbesondere auf die Vorschriften gegen Ehrverletzungen, zu denen neben der Beleidigung auch üble Nachrede, Verleumdung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener gehören. Der Tatbestand der Volksverhetzung schütze dagegen nicht vorrangig die angegriffenen Individuen, sondern den "öffentlichen Frieden". Fischer gibt einen Ratschlag: "Ein – wenngleich nur beschränkt wirksames – Mittel, sich vor einem guten Teil von Hass und Hetze zu schützen, könnte sein, an Kommunikationen an oder jenseits der Grenze zum Schwachsinn nicht teilzunehmen".

Restorative Justice: beck-aktuell (Monika Spiekermann) hat sich mit der Diplom-Sozialarbeiterin Daniela Hirt unterhalten, die u.a. als Fachberaterin im Bereich Restorative Justice im Strafvollzug tätig ist. Konkret schildert diese über das von ihr entwickelte Konzept "Betroffenenorientierte Arbeit im Strafvollzug (BoAS)". Dabei sollen Opfer von Straftaten mit Tätern ähnlicher Straftaten ins Gespräch kommen. Täter sollen so die Perspektive der Geschädigten besser verstehen und Opfer sollen besser nachvollziehen können, wie jemand zum Täter wird.

E-Sports-Anwalt: LTO (Marcel Schneider) stellt im Interview den Anwalt Pietro Fringuelli vor, der Veranstalter berät, die mit E-Sport ein Ökosystem aufbauen wollen.

Justitiar in der Bundesliga: Mit dem Justitiar des Fußball-Bundesliga-Aufsteigers Holstein Kiel, Heiko Petersen, hat sich LTO-Karriere (Franziska Kring/Hasso Suliak) unterhalten. Er erstelle zum Beispiel die Transfer-, Spieler- und Vermittlerverträge und bearbeite allgemein die rechtlichen Fragen des Vereins, vor allem im Arbeits-, Vertrags- und Verbandsrecht, berichtet der frühere Fußballprofi. 

RA Braegelmann: Zu Beginn der neuen Interviewreihe "Most wanted" antwortet Rechtsanwalt Tom Braegelmann auf 13 Fragen von LTO (Stefan Schmidbauer) zu Leben und Beruf. 

Recht und Literatur: Im Interview mit beck-aktuell (Maximilian Amos) spricht die Habilitandin Daria Bayer über ihre Dissertation mit dem Titel "Tragödie des Rechts". "Ein Theaterstück erlaubt es, Ambivalenzen zu zeigen und immer eine zweite Ebene mitzudenken: dass das, was gezeigt wird, nur eine Möglichkeit ist und nicht die einzige Realität", sagt sie im Gespräch. 

Harry Potter als Dissertationsthema: Über die Dissertation der Juristin Jannina Schäfer über "Harry Potter und die Gesetze der Macht" schreibt nun auch der Spiegel (Frauke Hunfeld)

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/pf/chr

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 24. bis 26. August 2024: . In: Legal Tribune Online, 26.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55266 (abgerufen am: 08.12.2024 )

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