Die juristische Presseschau vom 20. April 2023: Inter­essens­kol­li­sion bei Rei­chelt-Anwalt? / BMJ zu § 184b StGB / Pläd­oyer für Lina E.

20.04.2023

Julian Reichelts Anwaltskanzlei vertritt auch ein vermeintliches Opfer. Das Justizministerium will den Tatbestand der Kinderpornografie bis Jahresende überarbeiten. Anwälte von Lina E. fordern Freispruch im Prozess gegen militante Antifa.

Thema des Tages

Kanzlei Irle Moser: In der Diskussion um eine mögliche Interessenskollision in der Berliner Kanzlei Irle Moser wertet Heribert Prantl (SZ) im Feuilleton das Verhalten der Kanzlei als "unverfroren, dreist und rechtswidrig." Es liege ein klarer Verstoß gegen § 43a Abs. 4 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) vor und das Vertreten von widerstreitenden Interessen gehöre zum Schlimmsten, was man einem Anwalt vorwerfen könne. Prantl kritisiert zudem, dass die Berliner Rechtsanwaltskammer nicht eingreife und sich "mit allgemeinen Erklärungen aus der Affäre zu ziehen" versuche. Anwalt Ben M. Irle vertritt Bild-Chef Julian Reichelt in seiner Auseinandersetzung mit dem Springer-Verlag, während Anwalt Christian-Oliver Moser eine Frau vertritt, die Reichelt strukturellen Machtmissbrauch vorwirft. Die Kanzlei verweist auf eine vorsorglich errichtete "chinese wall" zwischen den Partnern.

LTO (Martin W. Huff) schildert ausführlich die Rechtslage. Entscheidende Voraussetzung für eine Ausnahme vom Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen sei, dass beide Mandatsseiten über die mögliche Interessenkollision in Textform informiert werden und ausdrücklich zustimmen. Während sich die Kanzlei dazu bisher nicht äußerte, habe die Mandantin gegenüber Medien bereits verneint, dass sie informiert wurde und zugestimmt habe. Naheliegende Rechtsfolge eines Rechtsverstoßes wäre eine "Anschuldigung" durch die Berliner Generalstaatsanwaltschaft. Gem. § 114 BRAO drohen erhebliche Konsequenzen, die von einer Geldstrafe bis zum Entzug der Zulassung reichen können. "In Fällen der Vertretung widerstreitender Interessen und bei einem nur erstmaligen Verstoß gegen die Verschwiegenheitspflicht werden in aller Regel erst einmal nur Geldstrafen ausgesprochen."

Rechtspolitik

Kinderpornografie: Nachdem die Große Koalition im Jahr 2021 beim Besitz kinderpornografischer Inhalte gem. § 184b Strafgesetzbuch (StGB) eine ausnahmslose Hochstufung zum Verbrechen vorgenommen hat, hat das Bundesjustizministerium angekündigt, bis zum Jahresende einen Reformvorschlag vorlegen zu wollen, damit "die Justiz wieder den nötigen Spielraum hat, um den Einzelfällen gerecht zu werden." Zuletzt hatten neben Praktiker:innen auch 16 Landesjustizminister:innen und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) eine Rückgängigmachung gefordert. Die Neuregelung führe dazu, dass sogar gegen Lehrer:innen ermittelt werden müsse, die kinderpornografisches Material an sich nehmen, ohne  dass es ihnen auf den Besitz des Inhalts selbst ankäme. Strafprozessual sei Ermittler:innen mit der Heraufstufung zum Verbrechen die Möglichkeit genommen worden, Verfahren in bestimmten Konstellationen einzustellen. LTO (Hasso Suliak) berichtet.

Kindesmissbrauch: Ronen Steinke (SZ) unterstützt die bayerische Forderung nach einem Straftatbestand "Förderung des sexuellen Missbrauchs von Kindern", der auch schon fahrlässiges Verhalten von Vorgesetzten oder anderen Aufsichtspersonen mit Strafe bedrohen würde. Bisher fehle es an strafrechtlichen Instrumenten, sofern solche Personen nicht genau wussten, was in ihrem Einflussbereich bevorstand. Faktisch gelinge ein solcher Vorsatz-Nachweis nie. Dass ein derartiger Tatbestand nötig ist, zeige erneut das jetzt veröffentlichte Ergebnis einer Arbeitsgruppe zum Verhalten des ehemaligen Freiburger Erzbischofs Robert Zollitsch. Er soll in einer früheren Funktion jahrelang sexuelle Übergriffe gegen Kinder gefördert haben, indem er Priester, die als Missbrauchstäter beschuldigt wurden, in andere Gemeinden versetzte, ohne die Gemeinden über den Hintergrund zu unterrichten. 

Disziplinarrecht/Extremismus: Das Bundeskabinett hat beschlossen, seine Pläne für eine schnellere Entfernung von Verfassungsfeind:innen aus dem öffentlichen Dienst auch auf Richter:innen auszuweiten. Der Bundesrat hatte zuvor gebeten, zu prüfen, ob die richterrechtlichen Beendigungsgründe so angepasst werden können, dass bei strafrechtlichen Verurteilungen wegen Volksverhetzung gleiche Maßstäbe zwischen Beamt:innen und Richter:innen gelten. Es berichten SZ und spiegel.de.

Dokumentation der Hauptverhandlung: Der Deutsche Richterbund (DRB) ist auch mit dem Kompromissvorschlag von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zur Aufzeichnung der Hauptverhandlung im Strafverfahren nicht zufrieden. Es sei zwar zu begrüßen, dass Videobilder nicht mehr verpflichtend sein sollen, aber auch bei Tonaufnahmen bestehe die Gefahr, dass Mitschnitte ihren Weg in die Öffentlichkeit finden. Daneben befürchtet der DRB, dass sich Gerichte künftig mit einer Art "Beweisaufnahme über die Beweisaufnahme" befassen müssten, was einen erheblichen technischen und personellen Mehraufwand bedeute, dem kein erkennbarer Nutzen für die Wahrheitsfindung gegenüberstehe. LTO berichtet.

Hasskriminalität im Internet: Die SZ (Constanze von Bullion) stellt kritische Reaktionen zu dem von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vorgestellten Eckpunktepapier für ein "Gesetz gegen digitale Gewalt" vor. So moniert etwa die Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg (Linke), dass die geplante Auskunftspflicht über IP-Adressen auch für Messengerdienste wie Whatsapp gelten soll, womit auf höchstpersönliche Kommunikation zugegriffen werde.  

Klimaschutz und Naturschutz: Die FAZ (Katja Gelinsky) berichtet ausführlich über die Ende März vom Bundeskabinett beschlossene Anpassung des Klimaschutzgesetzes, wonach an die Stelle der bislang rechtsverbindlichen sektorenspezifischen Klimaziele "eine sektorenübergreifende und mehrjährige Gesamtrechnung" treten soll. Wenn die bisherige Pflicht der einzelnen Ressorts zur Aufstellung von Klimaschutz-Sofortprogrammen wegfällt, werde die Klimapolitik der Bundesregierung weniger angreifbar. Außerdem wird über die in dem Papier beschlossene Beschleunigung und Effektivierung des Naturschutzes berichtet.

Arbeitszeiterfassung: Über den Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums zur Arbeitszeiterfassung berichten vertieft SZ (Benedikt Peters/Roland Preuss), Hbl (Frank Specht), spiegel.de (Florian Gontek) und die Rechtsanwälte Thomas Niklas und Thomas Köllmann im Expertenforum Arbeitsrecht.  Im Interview mit LTO (Tanja Podolski) bewertet Rechtsanwalt Michael Fuhlrott den Entwurf im Wesentlichen als eine "Eins-zu-eins-Umsetzung" der Vorgaben von Bundesarbeitsgericht und Europäischem Gerichtshof. Er sei ein Minimalkonsens, der primär auf den zwingenden Vorgaben beruhe, die der Staat ohnehin hätte umsetzen müssen.

Arbeitsverhältnisse an Hochschulen: Auf dem JuWiss-Blog führen der Doktorand Arnold Arpaci und Simon Pschorr die Regelungswerkzeuge Befristungshöchstquote und Anschlusszusage aus dem Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) einer grundrechtlichen Analyse zu. Im Ergebnis habe der Gesetzgeber einen sehr weiten Gestaltungsspielraum.

Justiz

OLG Dresden – militante Antifa/Lina E.: Im Prozess gegen Lina E. vor dem Oberlandesgericht Dresden hat nach der Bundesanwaltschaft nun auch die Verteidigung ihr Plädoyer gehalten und einen Freispruch gefordert. Die Teilnahme und führende Rolle von Lina E. an Gewalt gegen Rechtsextremisten seien nicht bewiesen worden. Die Verteidigung warf Gericht und Bundesanwaltschaft einen Schulterschluss vor und dass Lina E. von Anfang an von einer "politischen Justiz" vorverurteilt worden sei. Außerdem kritisierte die Verteidigung die "exzessiven" Sicherheitsvorkehrungen mit hohem Personalaufwand samt Polizeikonvoi als unverhältnismäßig. Es berichten SZ (Iris Mayer), FAZ (Stefan Locke), taz (Konrad Litschko) und spiegel.de.

BVerfG – Bundestags-Wahlrecht: Auf dem Verfassungsblog analysieren die wissenschaftlichen Mitarbeiter Jannik Klein und Yannik Breuer die mündliche Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zum 2020 von der Großen Koalition beschlossenen aktuellen Bundestagswahlrecht und konstatieren eine Tendenz des Zweiten Senats, im Wahlrecht dogmatisch ein Gebot der Normenklarheit entwickeln zu wollen. Es sei Grundlegendes zu erwarten, was dann wohl auch Einfluss auf die rechtliche Bewertung der aktuellen Wahlrechtsreform haben könnte.

Auf LTO kritisiert Christian Rath, dass eine mündliche Verhandlung angesichts aktuell wichtigerer Themen "reiner Luxus" gewesen sei. Es sei Peter Müllers letzte Chance gewesen, die These vom unverständlichen und deshalb verfassungswidrigen Wahlrecht zur Diskussion zu stellen. Ein simples Wahlgesetz sei aber schlichtweg ein "Blütentraum" und es sei normal, dass sich ein Teil der Gesetze an Spezialisten richtet. Zudem habe das BVerfG mit seinem "Hin und Her" bei den Überhangmandaten und bei der Suche nach negativen Stimmgewichten den Gesetzgeber übervorsichtig werden lassen und so selber einen Beitrag zur Komplexität geleistet.  

BGH-Revisionen im Strafrecht: Die BGH-Richterin Angelika Allgayer gibt in der FAZ eine Replik auf den FAZ-Beitrag des Rechtsanwalts Martin Stucke vom 23. März, in welchem er dem BGH vorwarf, die Überprüfung von Strafurteilen der Landgerichte im Wesentlichen aufgegeben zu haben. Strafgerichte würden nicht unter zu wenig Kontrolle leiden, so Allgayer, sondern unter Überlastung. Fehlentwicklungen in der Tatsacheninstanz müssten daher in erster Linie dort korrigiert werden und nicht erst über den Umweg der Revisionsinstanz.

LG München I – Ex-Wirecard-Chef Braun: Vor dem Landgericht München I hat im Prozess gegen den Ex-Wirecard-Chef Markus Braun der KPNG-Mitarbeiter Franz Haider ausgesagt, der 2020 das Drittpartnergeschäft von Wirecard überprüfen sollte. Weil er bei Wirecard immer wieder ins Leere gelaufen sei, habe er die Drittpartner etwa in Singapur oder Manila aufgesucht und sei dort aber nur auf kleine Büros gestoßen, die nicht zu den gehandelten Milliardenbeträgen gepasst hätten. Die SZ (Stephan Radomsky) berichtet.

LG München II - Ex-Audi-Chef Stadler: Am Landgericht München II zeichnet sich nach 162 Verhandlungstagen ein Ende des Dieselprozesses gegen die früheren Audi-Manager Rupert Stadler und Wolfgang Hatz und gegen den ehemaligen Audi-Ingenieur Giovanni P. ab. Das Gericht hatte kürzlich Bewährungsstrafen im Fall eines Geständnisses in Aussicht gestellt und jetzt hat es die Verhandlung unterbrochen, um über eine Verständigung zu diskutieren. Es berichten SZ (Klaus Ott) und Hbl (Volker Votsmeier/René Bender u.a.).

LG Augsburg – Anästhesist/Hepatitis C.: Vor dem Landgericht Augsburg hat ein Prozess gegen einen Anästhesisten begonnen, der während der Operationen Opioide zum sofortigen Eigenkonsum abgezweigt haben soll und dabei auf noch ungeklärtem Wege mindestens 50 Menschen mit Hepatitis C infizierte. Dem 60-Jährigen wird gefährliche Körperverletzung, Unterschlagung von Medikamenten und die Nutzung mangelhafter Arzneien vorgeworfen. Es sind zwölf Verhandlungstage angesetzt. Es berichten SZ (Florian Fuchs) im München-Teil und spiegel.de.

AG Mönchengladbach zu Lützerath-Räumung: Das Amtsgericht Mönchengladbach hat im ersten Hauptverfahren gegen gewalttätige Gegner:innen der Lützerath-Räumung eine 23-jährige trans Studentin wegen Landfriedensbruchs, Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und weiterer Delikte zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Sie hatte gestanden, einen Pflasterstein und einen Molotowcocktail auf Polizeibeamte geworfen zu haben. Es berichtet bild.de (Tilman Luz).

Recht in der Welt

USA – Desinformation/Fox News: Nun berichten auch SZ, FAZ (Sofia Dreisbach) und taz (Dorothea Hahn) über den 787,5 Millionen Dollar schweren Vergleich zwischen dem US-Fernsehsender Fox News und dem Wahlmaschinenhersteller Dominion.

Jürgen Schmieder (SZ) kommentiert, dass die Vergleichssumme zwar viel Geld sei, aber ein geringer Preis dafür, dass Fox News jetzt weiter existieren könne.

USA – Abtreibungspille: Wie spiegel.de berichtet, hat der US-Supreme Court angekündigt, seine Entscheidung zu dem umstrittenen Verbot der Abtreibungspille Mifepriston doch erst am Freitag bekannt zu geben. Ursprünglich war Mittwoch angedacht.

Sonstiges

Ausländer und Kriminalstatistik: Die Zeit (Tin Tischer) bringt einen ausführlichen historischen Bericht darüber, wie der "kriminelle Ausländer" den Weg in die Kriminalstatistik fand und so zum "Dauergast in fast jeder Migrationsdebatte" wurde. Erstmals sei er im Jahr 1882 in der ersten Reichskriminalstatistik aufgetaucht, was eine Folge der großen Datenerhebungen im Zuge der Industrialisierung und Nationalstaatsbildung gewesen sei.

Schadenersatz für Impfschäden: zdf.de (Samuel Kirsch) legt dar, unter welchen Voraussetzungen man nach einem Impfschaden gegen die Impfstoff-Hersteller vorgehen kann und wie staatliche Leistungen beantragt werden können. Rechtsprofessor Anatol Dutta sieht hohe Hürden für einen Schadensersatzanspruch, was an der nachzuweisenden Kausalität liege und daran, dass gewöhnliche Impfschäden nach der bisherigen Rechtsprechung nicht von der arzneimittelrechtlichen Gefährdungshaftung erfasst seien. Allenfalls gravierende Langzeitschäden seien gedeckt.

Das Letzte zum Schluss

Falscher Alarm: In München sind Einsatzkräfte der Feuerwehr und Polizei von einem Passanten wegen eines vermeintlichen Gaslecks in einem Einkaufszentrum alarmiert worden. Während die Feuerwehr die Gaskonzentration maß und die Polizei sich zur Räumung bereithielt, entpuppte sich eine Durian-Frucht als Ursache, die auch unter dem Namen Stinkfrucht bekannt ist. Ihr Geruch erinnert an verschwitzte Sportsocken oder verrottetes Fleisch. spiegel.de berichtet.

 

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LTO/tr/chr

(Hinweis für Journalist:innen

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 20. April 2023: Interessenskollision bei Reichelt-Anwalt? / BMJ zu § 184b StGB / Plädoyer für Lina E. . In: Legal Tribune Online, 20.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51585/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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