Die juristische Presseschau vom 16. September 2022: Macht EU-Kom­mis­sion ernst gegen Ungarn? / Neue EU-Ver­ord­nung für Medi­en­f­rei­heit? / EGMR ohne Russ­land

16.09.2022

Am Sonntag könnte die EU-Kommission Finanzsanktionen gegen Ungarn vorschlagen. Die EU-Kommission stellt den "Media Freedom Act" vor. Russland ist keine Vertragspartei der EMRK mehr.

 

Thema des Tages

EU/Ungarn - Rechtsstaatlichkeit: An diesem Sonntag wird die EU-Kommission wohl den Vorschlag beschließen, europäische Fördermittel für Ungarn in Milliardenhöhe einzufrieren. Grundlage dafür ist das im April gestartete finanzielle Sanktionsverfahren wegen Rechtsstaatsmängeln. Der EU-Ministerrat müsste dem Vorschlag binnen drei Monaten mit einer qualifizierten Mehrheit zustimmen, die etwa einer Zweidrittel-Mehrheit entspricht. Bis dahin hätte Ungarn noch Zeit, das Einfrieren der Gelder abzuwenden, etwa indem es Forderungen erfüllt, die von der EU-Kommission parallel zum Vorschlag der Mittelkürzung beschlossen werden sollen. Die EU wirft Ungarn unter anderem Korruption, Interessenskonflikte und massive Probleme bei der öffentlichen Auftragsvergabe und der Parteienfinanzierung vor. Das EU-Parlament forderte die EU-Kommission am Donnerstag zum Handeln auf und sprach Ungarn in einem mit großer Mehrheit gefassten Beschluss ab, noch eine Demokratie zu sein. Der Staat sei zu einem "hybriden System der Wahlautokratie" geworden. Ministerpräsident Viktor Orbán steht finanziell unter Druck, weil die EU bereits aus dem Corona-Hilfsfonds 5,8 Milliarden Euro zurückhält. Jüngst hat Ungarn angekündigt, eine neue unabhängige Anti-Korruptionsbehörde zu schaffen und öffentliche Ausschreibungen besser zu kontrollieren. Es berichten SZ (Björn Finke/Cathrin Kahlweit), taz, zeit.de und spiegel.de.

Rechtspolitik

Medienfreiheit: An diesem Freitag will die EU-Kommission eine Medienfreiheitsverordnung ("Media Freedom Act", MFA) vorstellen, die sich gegen massive Eingriffe in den Medienmarkt, wie sie die ungarische und polnische Regierung in den vergangenen Jahren unternommen haben, richtet. Danach dürften Journalist:innen nicht bestraft oder überwacht werden, weil sie ihre Quellen nicht preisgeben – es sei denn, es besteht ein überragendes öffentliches Interesse. Auch der Einsatz von Spionagesoftware wäre verboten und nur ausnahmsweise aus Gründen der nationalen Sicherheit zulässig. Zudem müssten die Mitgliedstaaten unabhängige Stellen schaffen, die Beschwerden nachgehen. Die Überwachung der Medienfreiheit obläge der EU-Kommission, die durch ein neues Aufsichtsgremium unterstützt würde, in dem die nationalen Aufsichtsbehörden der EU-Staaten vertreten wären. Die FAZ (Thomas Gutschker) berichtet.

Michael Hanfeld (FAZ) kommentiert, dass die deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverleger durch den MFA "quasi enteignet werden", weil sie künftig verpflichtend Redaktionsstatuten einführen müssten und keinen Einfluss auf ihre Publikationen nehmen dürften. "Mehr Staat" als durch eine europäische Medienaufsichtsbehörde gehe nicht. Auf dem Verfassungsblog kritisiert die Rechtsprofessorin Judit Bayer (in englischer Sprache), dass das Verbot der Überwachung und Bestrafung von Journalist:innen auf den Fall der verweigerten Quellenpreisgabe beschränkt sei und dass mit dem öffentlichen Interesse zudem ein großes Schlupfloch bestehe. Insgesamt werde der MFA wohl keine bedeutenden Veränderungen in Sachen Medienfreiheit bewirken.

Corona – Schutzmaßnahmen Herbst/Winter: An diesem Freitag wird der Bundesrat über die geplanten Änderungen im Infektionsschutzgesetz abstimmen. Die Kultusminister:innen der Länder kritisieren einmütig, dass für Kitas und Schulen strengere Regeln gelten sollen als für den Rest der Gesellschaft. Kita-Kinder und Schüler:innen müssten sich sowohl im Fall einer Infektion als auch im Fall eines Verdachts freitesten. Dabei bleibe  aber z.B. undefiniert, was ein "Verdacht" sei. Die SZ (Paul Munzinger) berichtet.

Christina Berndt (SZ) kommentiert, dass die Kinder wegen der Regelung des Freitestens wieder das Nachsehen bei der Teilhabe am sozialen Leben hätten. Erwachsene könnten sich nämlich nach fünf Tagen Isolation wieder ohne Auflagen zur Arbeit begeben, was eine eklatante Ungleichbehandlung sei.  

BayVSG: LTO (Markus Sehl) stellt den Gesetzentwurf der bayerischen SPD-Landtagsfraktion für eine weitreichende Änderung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG) vor. Es ist der erste Entwurf nach dem aufsehenerregenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts im April, das viele Befugnisse im BayVSG – mit starker Signalwirkung für andere Länder und den Bund – für verfassungswidrig erklärte. Der SPD-Entwurf verfolgt das Ziel, die Zuständigkeiten von Verfassungsschutz und Polizei klar abzugrenzen und Grundrechtseingriffe auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken. So sollen zum Beispiel besonders intensive Grundrechtseingriffe wie langfristige Observationen, der Einsatz von V-Leuten und die Telekommunikationsüberwachung (TKÜ), nur noch durch ein mit drei Berufsrichter:innen besetztes Gericht angeordnet werden können.

Stillen in der Öffentlichkeit: Nordrhein-Westfalens Familienministerin Josefine Paul (Grüne) wirbt beim Bund für einen gesetzlichen Anspruch von Müttern auf das Stillen in der Öffentlichkeit. Dieser könnte im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verankert werden. Allerdings ist das Stillen in Cafés, Bahnhöfen oder Museen bereits jetzt grundsätzlich zulässig, sofern kein Hausrecht geltend gemacht wird, heißt es in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags aus dem Jahr 2016. LTO berichtet.

NRW-Justizminister Limbach im Interview: Der neue NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) fordert im Interview mit LTO (Pauline Dietrich/Hasso Suliak) von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) deutlich mehr Geld für die Justiz der Länder. Für das an diesem Freitag anstehende Bund-Länder-Gespräch hätten die Länder eine Forderung gestellt, die deutlich über die bisherige Summe von 220 Millionen Euro hinausgehe. Zudem kündigte er an, Führungspositionen in der Justiz für Frauen attraktiver machen zu wollen, etwa indem sich zwei Teilzeitkräfte eine Leitung teilen. Außerdem begrüßte er das Vorhaben eines Jura-Bachelors in NRW und bezeichnete bei der Diskussion zur Vorratsdatenspeicherung den "Quick Freeze" als einen möglichen Kompromiss.

DJT - Altersversorgung von Jurist:innen: beck-aktuell (Tobias Freudenberg) berichtet über das Verhältnis der gesetzlichen Rentenversicherung zu konkurrierenden Sicherungssystemen der Altersversorgung, was auf dem 73. Deutschen Juristentag (djt) in Bonn von der Abteilung Arbeits- und Sozialrecht diskutiert werden soll. Würde sich die Abteilung im Einklang mit den Forderungen ihres Vorsitzenden Rainer Schlegel (Präsident des BSG) dafür aussprechen, die Anwaltsversorgungswerke in der gesetzlichen Rentenversicherung ganz oder teilweise aufgehen zu lassen, so hätte das eine Signalwirkung.

Justiz

EuGH – Corona/Reiserecht: Nach den Schlussanträgen der Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof, Laila Medina, sind Reiseveranstalter zu einer Minderung des Reisepreises verpflichtet, wenn sie einen Pauschalreisevertrag aufgrund der staatlichen Corona-Maßnahmen nicht erfüllen konnten. Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass es sich bei den Maßnahmen um höhere Gewalt handelt. Das Landgericht München I hatte den Fall vorgelegt. LTO berichtet.  

BAG zur Arbeitszeiterfassung: Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Pflicht der Unternehmen, die Arbeitszeit von Mitarbeitenden zu erfassen, bringt die FAZ (Marcus Jung) ein Portrait der BAG-Präsidentin Inken Gallner, die im konkreten Verfahren auch Senatsvorsitzende war. In dem Urteil habe sie sich lediglich mit den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs an den Gesetzgeber aus dem Jahr 2019 auseinandergesetzt. Sie verstehe sich als Unionsrichterin und "wo die Politik über Jahre zögert, schafft die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Fakten", heißt es.  

Die BadZ (Christian Rath) hält es dagegen für möglich, dass das BAG-Urteil genauso verpuffen wird wie die Entscheidung des EuGH von 2019. Der deutsche Gesetzgeber müsse die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung  ausgestalten und das könne sich angesichts unterschiedlicher Interessen in der Bundesregierung noch über Jahre hinziehen. 

LG Bad Kreuznach – Tötung wegen Maskenpflicht: Zwei Tage nachdem das Landgericht Bad Kreuznach den Maskenverweigerer Mario N. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen der Ermordung eines Tankstellen-Mitarbeiters verurteilte, hat die Staatsanwaltschaft Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt. Eine Begründung für diesen Schritt liegt noch nicht vor. Es berichten SZ und zeit.de.

OVG NRW zur Rücknahme einer Einbürgerung/IS: Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat die (zuvor vom VG Aachen festgestellte) Rechtmäßigkeit einer Rücknahme der Einbürgerung eines IS-Unterstützers bestätigt. Der 1991 in Deutschland geborene Mann wurde 2012 eingebürgert und reiste 2013 zur Unterstützung des IS nach Syrien. Das OVG sah es als erwiesen an, dass der Mann schon 2012 verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt hatte. Es berichtet LTO.

LG Itzehoe – KZ-Sekretärin Stutthof: Im Prozess gegen die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard Furchner am Landgericht Itzehoe erwägt der Vorsitzende Richter Dominik Groß einen Ortstermin im ehemaligen deutschen Konzentrationslager Stutthof in Polen. Am Dienstag wolle das Gericht einen Beschluss dazu verkünden. spiegel.de (Julia Jüttner) berichtet.

LG Mühlhausen zu Angriff auf Journalisten: Das Landgericht Mühlhausen hat im Prozess um einen rechtsextremen Angriff auf Journalisten in der Region Fretterode in Nordthüringen aus dem Jahr 2018 zwei Männer zu Strafen verurteilt, die deutlich hinter der Forderung der Staatsanwaltschaft zurückblieben. Der jüngere Angeklagte erhielt 200 Arbeitsstunden, der ältere ein Jahr auf Bewährung. Es sei nicht bewiesen, dass es sich um einen gezielten Angriff auf Journalisten handelte. Es berichten SZ und taz (Michael Trammer).

AG Berlin-Mitte zu Parlamentarierverein DPG: Das Amtsgericht Berlin-Mitte hat wegen einer unzulässigen Blockabstimmung eine einstweilige Verfügung zur Wiederholung der Vorstandswahlen der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft e.V. erlassen. Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner hatte gegen den Parlamentarierverein geklagt, weil bei der Wahl des Vereinsvorstands nicht über einzelne Kandidat:innen, sondern über eine bereits vorgefertigte Liste abgestimmt wurde. LTO (Hasso Suliak) berichtet.

Truppendienstgerichte der Bundeswehr: Die SZ (Ronen Steinke) schildert Disziplinarfälle von Rechtsextremen in der Bundeswehr und wirft die Frage auf, warum Konsequenzen – teilweise trotz zwischenzeitlicher Verurteilung in der Ziviljustiz – durchschnittlich 36 Monate auf sich warten lassen. Die Antwort liege darin, dass die für Disziplinarverfahren und Entlassungen zuständigen Truppendienstgerichte über die Jahre heruntergespart worden seien. Waren es 2006 bundesweit noch 13 solcher Gerichte, sind es heute nur noch acht.

Recht in der Welt

EGMR/Russland: An diesem Freitag läuft die Übergangsfrist des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus und Russland wird fortan keine Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention mehr sein. Im FAZ-Einspruch kommentiert Angelika Nußberger, Rechtsprofessorin und Ex-EGMR-Vizepräsidentin, dass der einen Seite der gute Wille fehlte und der anderen Seite der Mut, Vertragsbrüche ernst zu nehmen und nicht wegzulächeln. Am Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stapelten sich noch rund 16.000 Beschwerden gegen Russland, zu denen man jetzt nur noch "in die Luft geschriebene Urteile" fällen könne.  

EGMR/Polen – Blasphemie: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Polen zu einer Entschädigungszahlung von 10.000 Euro verurteilt, weil ein polnisches Gericht 2010 die Sängerin Doda wegen Gotteslästerung verurteilt hatte. Das Urteil verletze ihr Recht auf freie Meinungsäußerung. Die Künstlerin hatte in einem TV-Interview gesagt, wissenschaftliche Entdeckungen überzeugten sie mehr als "unglaubliche biblische Geschichten", deren Verfasser unter Alkohol- und Drogeneinfluss gestanden hätten. spiegel.de berichtet.

Tschechien – Andrej Babiš: Die FAZ (Andreas Mihm) berichtet ausführlich über den Prozessauftakt am Prager Stadtgericht gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten Andrej Babiš. Er ist wegen Subventionsbetrug angeklagt. weil er mit seinem Konzern 2007 illegal EU-Subventionen für Kleinunternehmen kassiert haben soll. Babiš, der alles abstreitet, droht nach den 13 angesetzten Verhandlungstagen eine jahrelange Haft.

USA – Amazon/Kartellrechtsklage: Der US-Bundesstaat Kalifornien hat Amazon wegen kartellrechtlicher Verstöße verklagt. Das Unternehmen treibe die Preise durch wettbewerbsschädigendes Verhalten nach oben. Unter anderem zwinge Amazon Drittanbietern Knebelverträge auf, die es ihnen verbieten, ihre Waren günstiger auf anderen Handelsplattformen zu verkaufen. Wegen der großen Marktmacht würden die Kund:innen dann letztlich einen "künstlich überhöhten Preis" zahlen. Es berichten SZ (Jürgen Schmieder) und spiegel.de.

USA – R. Kelly: Der ehemalige Popstar R. Kelly ist von einem Gericht in Chicago für schuldig befunden worden, jahrelang Minderjährige sexuell missbraucht und bei den Übergriffen gefilmt zu haben. Das Strafmaß wurde noch nicht verkündet. Der 55-Jährige war vor einigen Wochen schon in New York wegen des Missbrauchs Minderjähriger zu 30 Jahren Haft verurteilt worden. Es berichten FAZ (Christiane Heil) und spiegel.de.

Sonstiges

BKartA zu LNG-Terminals: Das Bundeskartellamt hat zugestimmt, dass die Gasgroßhändler RWE, Uniper und die EnBW-Tochter VNG die geplanten schwimmenden LNG-Terminals im Norden Deutschlands gemeinsam aufbauen und betreiben können. Die Inbetriebnahme soll bereits zum Jahreswechsel 2022/2023 erfolgen. LTO berichtet.

Anwaltschaft im ländlichen Raum: Anwalt Markus Hartung schreibt auf beck-aktuell über abnehmende Zahlen an Rechtsanwält:innen im ländlichen Raum in Ostdeutschland. Neben geographischen Gründen könnten auch Anpassungsprobleme bei der Digitalisierung eine Rolle spielen. Meist in Städten ansässige Spezialisten seien durch das Internet besser erreichbar und stellten eine Konkurrenz zu den "als ‘Feld-, Wald- und Wiesenanwälten‘ bezeichneten Kollegen" dar.

Unternehmen im Wandel: Im Interview mit LTO-Karriere sprechen der Anwalt Robert Michels und der Innovationsmanager Jean-Luc Vey über ihre Tätigkeiten, über gemeinsame Projekte, über das Gendern und über Diversity & Inclusion am Arbeitsplatz, was ein businessrelevanter Faktor geworden sei.


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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/tr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 16. September 2022: Macht EU-Kommission ernst gegen Ungarn? / Neue EU-Verordnung für Medienfreiheit? / EGMR ohne Russland . In: Legal Tribune Online, 16.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49635/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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