Die juristische Presseschau vom 27. Februar bis 1. März 2021: Lud­wigs­burg weitet NS-Ermitt­lungen aus / Telekom-Ver­fahren zurück­ver­wiesen / Wieder kein BGH-Urteil zu Ther­mo­fens­tern

01.03.2021

Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen will ihre Untersuchungen erweitern. Das Telekom-KapMuG-Verfahren wurde vom BGH an das OLG Frankfurt zurückverwiesen. Und es gibt wieder kein höchstrichterliches Urteil zu Thermofenstern.

Thema des Tages

Zentrale Stelle Ludwigsburg - Kriegsgefangenenlager/Einsatzgruppen: Wie Mo-SZ (Robert Probst) und Mo-taz (Klaus Hillenbrand) berichten, will die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg ihre Ermittlungen ausweiten. Die Rechtsprechung des "Demjanjuk-Urteils" des Landgerichts München I und des "Gröning-Beschlusses" des Bundesgerichtshofs soll auch auf Massenverbrechen gegen sowjetische Kriegsgefangene und die Morde der Einsatzgruppen angewandt werden. Das LG München I hatte 2011 im Fall Demjanjuk festgestellt, dass schon die bloße Mitarbeit in Vernichtungslagern ausreicht, um als Mordhelfer bestraft werden zu können. Bis dahin herrschte jahrzehntelang die Auffassung vor, man müsse NS-Tätern konkrete Einzeltaten oder deren Förderung nachweisen, um sie für Mord oder Beihilfe zum Mord verurteilen zu können.

Rechtspolitik

Bundesfinanzhof: Im Streit um die Neubesetzung der Führungsposten am Bundesfinanzhof (BFH) hat das Bundesjustizministerium eine Entscheidung getroffen, wie die Sa-FAZ (Corinna Budras) berichtet. Zwar habe das Ministerium noch keine Namen genannt, es spreche aber viel dafür, dass Ministerin Christine Lambrecht (SPD) bei ihrer bisher bekannten Auswahl geblieben ist: Hans-Josef Thesling, derzeit Leiter der Zentralabteilung im CDU-geführten Ministerium der Justiz in Nordrhein-Westfalen, als Präsident und Anke Morsch, Präsidentin des Finanzgerichts des Saarlandes, als Vizepräsidentin.

BND-Gesetz: Die Mo-FAZ (Helene Bubrowski) berichtet über die Experten-Anhörung des Bundestags-Innenausschusses zur Anpassung des BND-Gesetzes an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Geschildert wird vor allem der Konflikt um den vom Gericht geforderten "Unabhängigen Kontrollrat", der den BND einer gerichtsähnlichen und einer administrativen Rechtskontrolle unterstellt. Abgeordnete befürchten, dass damit ihr Parlamentarisches Kontrollgremium (PKGr) bei der Geheimdienskontrolle an den Rand gedrängt wird. 

Suizidhilfe: Jost Müller-Neuhof (Tsp) kritisiert das Schweigen des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU) in der Debatte um eine Neuregelung der Suizidhilfe. Niemand wisse so viel über die Situation von Sterbenden und die legislativen Möglichkeiten zur Hilfe wie Spahn und seine Verwaltung, heißt es im Text. Er müsste eigentlich alles Wissen in die beginnende Debatte einbringen. Doch das geschieht nicht, weshalb der Eindruck entstehe, dass hier einer eine Debatte entscheiden möchte, bevor sie geführt werden kann.

Kriminalstatistik und Frauenhass: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) zeigt sich offen für eine separate Erfassung frauenfeindlicher Straftaten in der Kriminalstatistik. Das melden Spiegel (Katrin Müller/Martin Knobbe u.a.) und zeit.de. Bisher hatte das Innenministerium die Forderung abgelehnt.

Hasskriminalität: Die Mo-taz (Christian Rath) gibt ein Update über den aktuellen Stand beim Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität. Der Innenminister von Niedersachsen Boris Pistorius hatte am Wochenende Grüne und FDP dafür verantwortlich gemacht, dass das Gesetz noch immer nicht in Kraft treten konnte. Diese hätten das Gesetz im Bundesrat gestoppt, ohne klar zu sagen, was ihnen nicht passe. Jetzt muss im Vermittlungsausschuss eine Einigung gefunden werden.

EU-Handelspolitik: Warum die von der EU vorgestellte "Open, Sustainable and Assertive Trade Policy" sich nicht eignet, Arbeitnehmerrechte und Umweltschutzstandards in EU-Freihandelsverträgen durchzusetzen, erläutert der wissenschaftliche Mitarbeiter Franz Christian Ebert im Verfassungsblog.

Gendern in Gesetzen: Nach Ansicht von Rechtsprofessor Arnd Diringer in seiner Kolumne in der WamS würde die Umsetzung der Genderempfehlungen des Handbuchs der Rechtsförmlichkeit zu einem sprachlichen Chaos führen. Und es drohe noch schlimmer zu werden, da das Bundesjustizministerium das Handbuch derzeit überarbeitet.

"War on drugs": Für mehr Pragmatismus in der Drogenpolitik plädiert Ex-Bundesrichter Thomas Fischer in seiner Kolumne auf spiegel.de. Das Betäubungsmittelstrafrecht sei derzeit ein Ort des normativen Wahns und der polizeilich-organisatorischen Raserei, meint Fischer.

Justiz

BGH zu Telekom-Börsengang: Im KapMUG-Verfahren zu fehlerhaften Angaben im Verkaufsprospekt zum dritten Börsengang der Telekom hat der Bundesgerichtshof den Musterentscheid des OLG Frankfurt/M. aufgehoben und das Verfahren zurückverwiesen, melden die Sa-FAZ (Marcus Jung), LTO und beck-aktuell (Joachim Jahn). Wie die Sa-SZ (Wolfgang Janisch) schreibt, hat der BGH jetzt aber auch bestätigt, dass es der Telekom nicht gelungen sei, sich hinsichtlich des Fehlers vom Vorwurf der groben Fahrlässigkeit zu entlasten. Das OLG Frankfurt/M., das zum dritten Mal in der Causa verhandeln wird, muss jetzt mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens klären, ob ein schwerwiegender Fehler in dem Börsenprospekt tatsächlich der Auslöser für den Absturz der T-Aktie war.

BGH – Dieselskandal: Erneut wurde ein Verfahren vor dem BGH in Sachen Dieselabgasmanipulationen durch die Rücknahme der Revision beendet. Wie LTO berichtet, habe es laut Daimler keinen Vergleich gegeben. Tausende Besitzer eines Mercedes-Diesel werfen Daimler wegen des Einsatzes sogenannter Thermofenster die Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen vor.

Die Mo-Faz (Carsten Germis/Marcus Jung u.a) schreibt, dass sich mittlerweile die Vorzeichen geändert hätten und nunmehr eher die Automobilunternehmen an einer höchstrichterlichen Klärung in Bezug auf die Thermofenster interessiert seien. VW-Rechtsvorständin Hiltrud Werner meint sogar, "dass sich in Deutschland eine Klageindustrie entwickelt hat, der es nicht mehr um die rechtliche Klärung für ihre Mandanten geht, sondern um die eigenen Gebühren".

EGMR – Klimaklage: Im Verfahren um die Klimaklage von sechs portugiesischen Jugendlichen sind die EU-Staaten sowie Großbritannien, Norwegen, Russland, die Schweiz, die Türkei und die Ukraine mit ihrem Einwand, der sich gegen eine prioritäre Einstufung des Falles richtete, gescheitert. Die Staaten müssen jetzt bis zum 27. Mai 2021 ihre Stellungnahmen abgeben, wie die Mo-taz meldet.

BVerfG zu Abschiebung nach Afghanistan: Vor der Abschiebung eines Flüchtlings in dessen Heimatland müssen Gerichte die dortigen aktuellen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Bedingungen berücksichtigen. Das hat das Bundesverfassungsgericht laut Sa-FAZ entschieden. Dazu könne auch die Prüfung gehören, ob der Flüchtling trotz der Corona-Pandemie ein Existenzminimum erwirtschaften kann.

OLG Koblenz zu Folter in Syrien: Sabine am Orde (Sa-taz) blickt noch einmal auf das am Mittwoch beendete Verfahren gegen Eyad A. zurück. Der Syrer wurde zu viereinhalb Jahren Haft wegen Beihilfe zu Folter und schwerwiegender Freiheitsberaubung verurteilt. Das Gericht habe erstmals die Gräueltaten des Regimes von Baschar al-Assad an seiner eigenen Bevölkerung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit juristisch festgeschrieben und damit einen Präzedenzfall geschaffen, der international Auswirkungen haben werde, schreibt die Autorin.

OLG München – rechtsextreme Gewalt/Heilpraktikerin: Der Spiegel (Maik Baumgärtner/Luise Glum) berichtet über die Anklage des Generalbundesanwalts gegen die Heilpraktikerin und überzeugte Neonazi-Aktivistin Susanne G., die Mitglied der Partei "Dritter Weg" ist. Der "Dritte Weg" sieht sich als Elite der deutschen Neonazi-Bewegung. Der Generalbundesanwalt wirft Susanne G. unter anderem die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat vor. Die Polizei hatte Utensilien zum Bau von Spreng- und Brandvorrichtungen und Ausspähdaten über islamische Gebetsräume sowie detaillierte Aufzeichnungen zu Fahrzeugen und Privatwohnungen von Polizeibeamten und dem fränkischen Landrat bei ihr gefunden.

OLG München – U-Haft Ex-Wirecard-Chef: Das Oberlandesgericht München hat die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den früheren Wirecard-Chef Markus Braun angeordnet. Die beiden Haftgründe der Fluchtgefahr und der Verdunkelungsgefahr, auf deren Grundlage das Amtsgericht München die Untersuchungshaft angeordnet hatte, hätten weiter Bestand, schreiben Sa-SZ (Klaus Ott/Jörg Schmitt) und Sa-FAZ (Henning Peitsmeier). Die Staatsanwaltschaft wirft Braun mehrere schwere Delikte vor: Bandenmäßiger Betrug in Milliardenhöhe, Bilanzfälschung, Manipulation des Aktienkurses von Wirecard und Veruntreuung von Konzernvermögen.

OLG Köln zu Rechtswahlklauseln von Ryanair: Dass die irische Fluggesellschaft Ryanair ihre Fluggäste nicht per Rechtswahlklausel auf das irische Recht verweisen kann, hat das Oberlandesgericht Köln entschieden. Die Rechtswahlklausel sei intransparent und irreführend, so das Gericht, laut LTO.

OLG Dresden/OLG Karlsruhe zu Gewerbemiete und Corona: Rechtsprofessor Volker Römermann hat sich für LTO zwei OLG-Entscheidungen zur Gewerbemiete während der Corona-Pandemie angeschaut. Das Oberlandesgericht Dresden forderte eine Anpassung des Vertrages. Dagegen entschied das Oberlandegericht Karlsruhe, dass es Mieterinnen und Mietern bei einer Corona-bedingten Schließungsanordnung nur dann unzumutbar wäre, den vollständigen Mietzins zu zahlen, wenn dies ihr wirtschaftliches Fortkommen zumindest schwerwiegend beeinträchtige und auch die Interessenlage des Vermietenden eine Vertragsanpassung erlaube. Voraussichtlich wird nun der BGH mit der Frage befasst werden und dabei eine gesetzliche Neuregelung von Ende 2020 zum Zuge kommen.

AGH NRW gegen Zulassung eines Leih-Anwalts: Wer als Projektjurist im Wege der Arbeitnehmerüberlassung in einer Kanzlei tätig ist und auch für diese nach außen auftreten soll, kann nicht als Anwalt zugelassen werden, hat der Anwaltsgerichtshof Nordrhein-Westfalen festgestellt. Die möglichen Angestelltentätigkeiten einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwalts habe der Gesetzgeber im Zuge der Neuregelung des Rechts der Syndikusanwälte abschließend geregelt, den Außenauftritt für die Kanzlei wie ein angestellter Rechtsanwalt, der aber gerade nicht bei der Kanzlei angestellt ist, sei nicht vorgesehen, so das Gericht. Rechtsanwalt Martin W. Huff erläutert auf LTO die Entscheidung.

LG Bremen – Sozialbetrug: Der Bremer Sozialbetrugsprozess werde voraussichtlich am Mittwoch zu Ende gehen, schreibt die Sa-taz (Benno Schirrmeister). Es geht um diverse Bremer Vereine, die Scheinarbeitsverhältnisse abgeschlossen hatten, auf deren Grundlage dann Sozialleistungen beantragt wurden. Auf 6,1 Millionen Euro wird der materielle Schaden beziffert. Es sei allerdings nicht erkennbar, dass mit dem Prozess die Filzstrukturen und Verkrustungen aufgelöst worden seien, die es erlaubt hatten, drei Jahre lang mit diesem Modell Profite zu erwirtschaften, heißt es im Text.

AG Berlin-Tiergarten – Fler: Im Prozess gegen den Berliner Rapper Fler fordert die Staatsanwaltschaft eine Haftstrafe: Da sie keine positive Prognose sehe, komme eine Bewährungsstrafe für den Rapper nicht in Betracht, sagte die Staatsanwältin laut spiegel.de in ihrem Plädoyer zum Abschluss des Verfahrens.

Strafverfolgung in Berlin: Im Interview mit dem Spiegel (Jörg Diehl/Dietmar Hipp) beklagt der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel die mangelhafte technische und personelle Ausstattung der Strafverfolgungsbehörde. Das schlage sich auch in der Qualität der Arbeit nieder, viele Ermittlungsverfahren würden vorzeitig beendet, Diebstähle, Betrügereien, Körperverletzungen blieben oft ungestraft.

welt.de stellt das neue Buch Knispels vor, der auch Vorsitzenderi der Vereinigung Berliner Staatsanwälte ist. Das Buch trägt den Titel "Rechtsstaat am Ende".

Juristische Ausbildung

Reform der Juristenausbildung: LTO (Markus Sehl) hat sich mit den beiden Rechtsprofessorinnen Anne Sanders und Barbara Dauner-Lieb über die Zukunft der Juristenausbildung unterhalten. Anne Sanders meint, dass die Juristenausbildung wieder mehr zum Denken und weniger zum Auswendiglernen anregen müsse. Barbara Dauner-Lieb fordert u.a. bessere Korrekturen. Es gebe so manchen Korrektor, der vergessen habe, wie es sich anfühle, das Examen zu machen; da werde nur noch anhand der Lösungsskizze abgehakt und bewertet. Beide Professorinnen plädierten für eine Einführung eines Bachelor-Abschlusses für Juristen. Jener dürfe aber nicht als "Verlierer-Führerschein" angesehen werden, mahnte Dauner-Lieb.

Videoaufzeichnung beim Examen: Gegen die Videoaufzeichnung während einer Online-Klausur sowie die Speicherung derDaten hat ein Jurastudent mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) einen Eilantrag beim Oberverwaltungsgericht Münster eingereicht. Mit der Überwachung sollten Unregelmäßigkeiten oder Täuschungsversuche erkennbar werden. Das geplante Vorgehen der Hochschule verstoße aber gegen die Datenschutzgrundverordnung und gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, wird David Werdermann, Jurist bei der GFF, von spiegel.de (Armin Himmelrath) zitiert.

Sonstiges

Urlaubsanspruch: Rechtsanwalt Martin Biebl erläutert auf LTO-Karriere den rechtlichen Umgang mit dem so genannten Resturlaub. Damit ein Urlaubsanspruch aus dem Vorjahr verfallen kann, müsse der Arbeitgebende seiner europarechtlich begründeten Mitwirkungspflicht gerecht werden und seine Arbeitnehmenden zur Inanspruchnahme des Urlaubs auffordern und dabei ausdrücklich auf die Rechtsfolge des Verfalls hinweisen.

KI und Recht: Die Mo-FAZ (Jochen Zenthöfer) stellt zwei neue Bücher zum Thema "Algorithmen und Justiz" vor: David Nink mache in seinem klugen Überblickswerk klar, dass Maschinen nicht über Strafhöhen entscheiden sollten und fordert, dass Gerichte alle Entscheidungen anonymisiert veröffentlichen müssten. Und auch Christoph Rollberg warnt vor zu viel Einsatz von „Legal Tech“ im Zivilprozess. Technik könne nur für schematische Prüfungen sinnvoll verwendet werden, insbesondere bei mathematischen Berechnungen.

Magie und Recht: Wann Juristen auch heute noch mit Hexerei oder zumindest dem Glauben daran zu tun haben, beschreibt Martin Rath (LTO) in seiner Kolumne.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/pf

(Hinweis für Journalisten)

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.

 

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 27. Februar bis 1. März 2021: Ludwigsburg weitet NS-Ermittlungen aus / Telekom-Verfahren zurückverwiesen / Wieder kein BGH-Urteil zu Thermofenstern . In: Legal Tribune Online, 01.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44380/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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