Die juristische Presseschau vom 2. bis 4. Januar 2021: VW-Vor­ständin zu Unter­neh­mens­sank­tionen / "Pri­vi­le­gien" für Geimpfte? / Anpas­sung des Ber­liner Neu­tra­li­täts­ge­setzes?

04.01.2021

Im Interview mit der FAZ äußert sich Hiltrud Werner, Mitglied im VW-Vorstand, zum geplanten Unternehmenssanktionsrecht. Die Diskussionen um die Corona-Impfungen dauern an und das Berliner Neutralitätsgesetz soll entschärft werden.

Thema des Tages

Unternehmenssanktionen: VW-Rechtsvorständin Hiltrud Werner äußert sich im Gespräch mit der Mo-FAZ (Carsten Germis/Marcus Jung) grundsätzlich positiv zu den Plänen der Bundesregierung für ein Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft. Es sei zu begrüßen, dass es in Deutschland bald ein Gesetz gibt, dass nicht nur sanktioniert, sondern den Unternehmen auch Vorgaben und Anreize für mehr Integrität und präventive Maßnahmen gibt, so Werner. Kritisch sieht sie allerdings die im bisherigen Gesetzentwurf vorgesehene unbegrenzte Kooperation mit den Verfolgungsbehörden während der Untersuchung. Übertragen auf den Diesel-Skandal bei VW hätte das fünf parallele und unabhängige Untersuchungen im Unternehmen bedeutet und Mitarbeiter wären vier- oder fünfmal von unterschiedlichen Verantwortlichen befragt worden. Außerdem geht es im Interview um den Schutz von Hinweisgebern und um die Besetzung von Vorstandsposten mit Frauen.

Rechtspolitik

Corona-Impfung: Die FAS (Constantin van Lijnden/Justus Bender u.a.) fasst die aktuelle Diskussion um eventuelle "Privilegien" für jene, die eine Covid-19-Schutzimpfung bekommen haben, zusammen. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet spricht dabei von einer Drohdebatte. Jan-Marco Luczak, der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion von einer Phantomdiskussion. Solange man nicht wisse, ob Menschen nach einer Impfung nicht mehr ansteckend seien, stelle sich die Frage einer Privilegierung nicht.

Ex-BGH-Richter Thomas Fischer weist in seiner spiegel.de-Kolumne darauf hin, dass das Aufheben nicht erforderlicher Grundrechtseingriffe kein Gnadenakt oder Privileg, sondern rechtliche Notwendigkeit sei. Im Übrigen meint er, dass eine Ungleichbehandlung zwischen Geimpften und Ungeimpften nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten wäre, wenn sich tatsächlich herausstellt, dass die Impfung nicht nur vor Erkrankung, sondern auch vor Infektiosität geimpfter Personen schützt.

Auch für die wissenschaftliche Mitarbeiterin Lamia Amhaouach scheint es, wie sie im Verfassungsblog schreibt, aus verfassungsrechtlicher Sicht mehr als fraglich, ob das Ziel der Herstellung von Gleichheit eine Freiheitseinschränkung rechtfertigen kann, durch die es im Ergebnis niemandem besser geht. Im Rahmen der Gleichheitsdogmatik seien jedenfalls reine "Neidklagen", durch die man seine Situation gar nicht verbessern kann, vernünftigerweise bisher nicht zugelassen worden.

Constantin van Lijnden (FAS) spricht sich gegen pauschale Alles-oder-nichts-Regelungen aus, die der Komplexität des Lebens und den Anforderungen der Verfassung nicht gerecht werden.

Corona und Parlamente: Der rechtspolitische Sprecher der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus Sebastian Schlüsselburg beschreibt im FAZ-Einspruch, wie Parlamente sicherstellen können, dass trotz verfassungsrechtlich gebotener physischer Anwesenheitspflicht die Beschlussfähigkeit aufrechterhalten werden kann, auch wenn Abgeordnete aufgrund einer nachgewiesenen Infektion oder aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe nicht physisch an Sitzungen teilnehmen könnten oder wollten. In Berlin habe man sich dazu auf eine minimalinvasive und befristete Änderung der Verfassung und der Geschäftsordnung geeinigt, nach der das Quorum für die Beschlussfähigkeit abgesenkt werden kann.

Corona und Grundrechte: Heribert Prantl (Sa-SZ) warnt in seiner Kolumne vor einer Aufweichung der Grundrechte. Die Gefahr sei, dass sich Menschen daran gewöhnen, dass heftige Einschränkungen der Grund- und Bürgerrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Krise gehören – und dass das Unverhältnismäßige in Krisen als verhältnismäßig gilt. Die Individual-Grundrechte veränderten so komplett ihren Charakter – sie würden "gebraucht, verbraucht und vernutzt", um Kollektivgüter zu schützen.

Neutralitätsgesetz Berlin: Der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt hat eine Neufassung des Berliner Neutralitätsgesetzes angekündigt. Wie die Mo-taz (Bert Schulz) schreibt, soll damit das Tragen religiöser Kleidung und Symbole an Schulen erlaubt werden. Er will damit das Urteil des Bundesarbeitsgerichts von August umsetzen, sobald die schriftlichen Gründe vorliegen. Innerhalb der Berliner rot-rot-grünen Koalition hatten sich bislang vor allem Teile der SPD gegen die Aufgabe des Neutralitätsgebots ausgesprochen.

Personenkennziffer: Die Mo-taz (Christian Rath) erläutert die Pläne der Bundesregierung für die Einführung einer einheitlichen Identitätsnummer auf Grundlage der Steuer-Id, um die digitale Verwaltung zu erleichtern. Gegen das Vorhaben hat sich bereits der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber ausgesprochen. Die Modernisierung der Verwaltung sei auch ohne einheitliche Personenziffer möglich, sagte er in einer Anhörung im Bundestag Mitte Dezember.

Gewerbemietrecht: Rechtsanwalt Michael Selk stellt im zpoblog eine kurz vor Jahreswechsel verabschiedete Neuerung im Gewerbemietrecht vor. Es geht dabei vor allem um den neu eingefügten § 44 EGZPO, nach dem Verfahren über die Anpassung der Miete oder Pacht wegen staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19 Pandemie vorrangig und beschleunigt zu behandeln sind.

Brexit und justizielle Zusammenarbeit: Im FAZ-Einspruch fasst Rechtsanwalt Peter Bert zusammen, wie sich die Rechtslage im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen mit Großbritannien gestalten wird. Das Brexit-Abkommen sehe für diesen Bereich keine Regeln vor, so dass damit zum neuen Jahr die gesamte bisherige zivilprozessuale Arbeitsgrundlage zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU entfallen sei.

Justiz

EGMR 2020: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im vergangenen Jahr mit hochpolitischen Themen zu tun: Unter anderem haben die Straßburger Richterinnen und Richter festgestellt, dass Russland Internetseiten der Opposition zu schnell gesperrt hatte, Verurteilungen deutscher Gerichte rechtswidrig waren, weil die Taten durch V-Leute provoziert worden waren und Spaniens direkte Zurückweisung von Flüchtlingen direkt an der Grenze (so genannte Push backs) rechtmäßig waren. Spannend wird es auch weitergehen, denn das Gericht hat eine Klimaklage junger Portugiesen gegen 33 Länder, darunter Deutschland, zugelassen, wie LTO (Marcel Schneider) schreibt.

BVerfG zu Auslieferung nach Rumänien: Rechtsprofessor Mattias Wendel erläutert im Verfassungsblog den Schwenk des Bundesverfassungsgerichts bei der Prüfung von Grundrechtsverletzungen. Mit seinem kurz vor Jahreswechsel veröffentlichten Beschluss in Sachen Europäischer Haftbefehl erkenne nun auch der Zweite Senat die Unionsgrundrechte als unmittelbaren Prüfungsmaßstab einer Verfassungsbeschwerde an und folge damit der Linie des Ersten Senates. 

BFH 2020: LTO (Anja Hall) fasst fünf wichtige Entscheidungen des Bundesfinanzhofes aus dem Jahr 2020 zusammen: Das Gericht in München befasste sich unter anderem mit Folgen hoher Vorstandsvergütungen für die Gemeinnützigkeit, mit der Entfernungspauschale, mit steuermindernden Prozesskosten und der Gewerbesteuerpflicht von externen Datenschutzbeauftragten.

Digitalisierung bei Arbeitsgerichten: Die Rechtsanwälte Markus Hartung und Paul Krusenotto haben sich für LTO angeschaut, inwieweit die Arbeitsgerichte von dem im Frühjahr eingeführten § 114 Abs. 3 des Arbeitsgerichtsgesetzes Gebrauch gemacht haben. Die Norm appelliert als Soll-Vorschrift an die Arbeitsgerichte, in einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite mündliche Verhandlungen als Videoverhandlungen durchzuführen. Die Autoren stellen fest, dass die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden und Hoffnungen auf eine Pandemie-beschleunigte Digitalisierung der Arbeitsgerichte bisher unerfüllt geblieben sind.

Recht in der Welt

Großbritannien – Julian Assange: Für Montag wird eine Entscheidung im Auslieferungsprozess gegen den Wikileaks-Gründer Julian Assange erwartet. Wie schon der UN-Sonderberichterstatter zweifelt auch der CDU-Bundestagsageordnete Frank Heinrich an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Von der Bundesregierung hätte er sich daher auch die ein oder andere diplomatische Aussage gewünscht, sagte der Parlamentarier im Interview mit der Mo-taz (Tobias Schulze). Er rechnet jetzt damit, dass die im Prozess unterlegene Partei Rechtsmittel beim EGMR einlegen werde. Heinrich hatte sich im Dezember mit Abgeordneten anderer Parteien für eine Freilassung Assanges eingesetzt. Die Mo-Welt (Angela Richter) hat sich mit der Anwältin Julian Assanges, der Australierin Jennifer Robinson, über ihre Verteidigung unterhalten.

Sonstiges

von Schirach – "Feinde": In der Sa-FAZ (Heike Hupertz) wird die TV-Aufarbeitung des Falles um die Folterdrohung eines Frankfurter Polizeivizepräsidenten gegen einen Entführer kritisch rezensiert. Wie auch bei vorherigen Projekten Ferdinand von Schirachs wird am Ende wieder das Publikum um seine Rechtsmeinung befragt, was die SA-FAZ aber weniger als Bildung, sondern vielmehr als eine "jurapopulistische Erziehung" sieht. Die FAS (Harald Staun) setzt sich insgesamt mit den bisherigen Filmen von Ferdinand von Schirach – "Terror" zum Abschuss eines entführten Zivilflugzeuges und "Gott" zum Thema Suizidhilfe – auseinander, in denen klassische ethisch-moralische Dilemmata wie in einem Gerichtsprozess verhandelt werden.

Rechtsgeschichte – "Staatsnähe" der evangelischen Kirche: Martin Rath zeigt auf LTO anhand der Besoldungsstruktur für Bedienstete der evangelischen Kirche und eines Rechtsstreites um Wohngeld für eine Pfarrerswitwe, wie staatsnah die evangelischen Christen in Deutschland waren.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.

Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/pf

(Hinweis für Journalisten)

Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.

 

Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 2. bis 4. Januar 2021: VW-Vorständin zu Unternehmenssanktionen / "Privilegien" für Geimpfte? / Anpassung des Berliner Neutralitätsgesetzes? . In: Legal Tribune Online, 04.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43878/ (abgerufen am: 17.04.2024 )

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