Die juristische Presseschau vom 4. Dezember 2020: "Unge­reimt­heiten" im Lübcke-Pro­zess / OLG Frank­furt/M. zu Vaterpf­lichten / Appel gewinnt gegen "Käpt'n Iglo"

04.12.2020

Im Prozess um den Lübcke-Mord antwortete Stephan E. jetzt auf Fragen der Familie. Ein Vater muss einmal im Monat seine Kinder sehen – auch wenn er nicht will. Und Feinkost Appel darf mit "älterem Herrn mit Bart und Mütze" werben.

Thema des Tages

Neue "Ungereimtheiten" im Lübcke-Prozess: Auch nach einem halben Jahr Prozessdauer ist nicht klar, wer von den beiden Angeklagten im Prozess vor dem OLG Frankfurt/M. welche Rolle beim Mord am ehemaligen Regierungspräsidenten Walter Lübcke gespielt hat. Mittlerweile gibt es drei Varianten des möglichen Tathergangs. In der mündlichen Verhandlung am Donnerstag hob der Vorsitzende des Staatsschutzsenats hervor, dass es viele neuen "Ungereimtheiten" gebe, schreibt die FAZ (Marlene Grunert). Ganz grundsätzlich müsse man sich mit dem Mord an Walter Lübcke noch einmal befassen, sagte der Richter. Die SZ (Annette Ramelsberger), zeit.de (Martin Steinhagen) und spiegel.de (Julia Jüttner) widmen sich ausführlich den Antworten, die Stephan E. der Familie Lübcke auf ihre Fragen gab und die seinen Mitangeklagten Markus H. nun doch wieder schwer belasteten.

Die FAZ (Oliver Jungen) stellt im Medienteil das von Raymond Leys gedrehte Dokudrama über den Lübcke-Mord vor und stellt dabei die Frage, ob ein Film, der so deutlich urteilt, vielleicht doch das reale Urteil erst abwarten sollte. Der Wettlauf, das Thema als Erster für das Fernsehen aufbereitet zu haben, wirke in diesem Fall zumindest fragwürdig.

Rechtspolitik

Verjährung im Steuerstrafrecht: zeit.de meldet, dass sich die Koalitionsfraktionen darauf geeinigt haben, die Verjährungsfrist für schwere Steuerhinterziehung von 10 auf 15 Jahren zu verlängern. Im Blick stehen dabei insbesondere die sogenannten Cum-Ex-Geschäfte, die vor allem im Zeitraum 2006 bis 2010 erfolgten.

Sanierungs- und Insolvenzrecht: Das Hbl (Heike Anger/Ulf Sommer) stellt den Entwurf für ein Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs-und Insolvenzrechts (SanInsFoG) vor. Unter anderem sind darin neue Instrumente bei drohender, aber noch nicht eingetretener Zahlungsunfähigkeit vorgesehen, die spätere Insolvenzen verhindern sollen. Das neue Gesetz soll noch in diesem Jahr verabschiedet werden und zum 1.1.2021 in Kraft treten.

Parteiverbot: Mit der Möglichkeit, einzelne "Flügel" innerhalb einer Partei zu verbieten, befasst sich der wissenschaftliche Mitarbeiter Jan Keesen im juwiss-Blog. De lege lata ist so etwas nicht möglich, de lege ferenda ist das BVerfG aber der eindeutigen Meinung, dass eine Modifizierung des Regelungskonzepts, insbesondere hinsichtlich der Einführung von Instrumenten unterhalb der Schwelle des Parteiverbots, möglich sei. Damit wäre es Aufgabe des verfassungsändernden Gesetzgebers, eine solche Möglichkeit zu schaffen, meint der Autor.

Desinformation/Pressefreiheit: EU-Kommissarin Vera Jourova hat angekündigt, zwei Gesetzespakete vorzulegen, die digitale Dienste stärker in die Pflicht nehmen gegen Desinformation insbesondere in Wahlkampfzeiten vorzugehen. Die Kommission soll das dann überwachen, schreibt die FAZ (Thomas Gutschker). Außerdem will Jourova Journalisten vor Gerichtsverfahren schützen, die "gegenstandslos oder übertrieben" sind, aber hohe Kosten verursachen.

Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft: Auch LTO berichtet jetzt über die Pläne der Bundesjustizministerin, das Weisungsrecht der Justizministerien gegenüber den Staatsanwaltschaften im Bereich der europäischen Zusammenarbeit einzuschränken. Damit würden die Anforderungen des EuGH an die Unabhängigkeit von Staatsanwaltschaften in der europäischen Zusammenarbeit erfüllt, wird Christine Lambrecht (SPD) zitiert.

Bundesfinanzhof: Den aktuellen Stand der Auseinandersetzung zwischen dem BMJV und dem Bundesfinanzhof über die Anforderungen an die Führung der obersten Bundesgerichte fasst LTO (Markus Sehl) zusammen. Bundesjustizministerin Lambrecht (SPD) möchte für die Neubesetzungen an der Spitze von Senaten beim Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht und Bundesfinanzhof ein neues Anforderungsprofil festlegen. Der Richterverein am BFH wirft der Ministerin vor, dabei die fachliche Qualifikation zu vernachlässigen und die Rechtsprechung in ihrer Leistungsfähigkeit zu gefährden. An diesem Freitag will das BMJV mit den Gerichtspräsidenten über die Anforderungen für diese verantwortungsvollen Posten sprechen.

Rechtspolitik: Erneut wird das Bundesinnenministerium für zu kurze Stellungnahmefristen heftig kritisiert. Konkret geht es um den 52-seitigen Entwurf für das Hasskriminalitäts-Reparaturgesetz, den das BMI am 24. November mit der Bitte an die Verbände versandt hatte, "Anmerkungen oder Ergänzungen zum Gesetzentwurf bis zum 1. Dezember 2020 mitzuteilen". Richterbund, Neue Richtervereinigung, DAV und auch die Strafverteidigervereinigungen haben auf Grund der kurzen Frist keine Stellungnahme eingereicht, berichtet LTO (Hasso Suliak). Die BRAK wies darauf hin, dass eine eingehende Prüfung dieses komplexen Gesetzgebungsvorhabens in der Kürze der Zeit nicht erfolgen konnte.

Justiz

OLG Frankfurt/M. zur väterlichen Verantwortung: Dass ein Vater auch gegen seinen Willen zum Umgang mit seinem Kind gezwungen werden kann, hat laut LTO, spiegel.de und SZ das Oberlandesgericht Frankfurt/M. entschieden. Das Gericht hat die Beschwerde eines Vaters zurückgewiesen, der sich gegen die Verpflichtung wehrte, einmal im Monat tagsüber Umgang mit seinen drei Söhne zu haben. Kinder hätten ein Recht auf Umgang mit ihren Eltern, mit dem eine gesetzliche Verpflichtung der Eltern zum Umgang korrespondiere, heißt es zur Entscheidung in einer Mitteilung des Gerichts.

LG München I zu "Käpt'n Iglo": Nicht nur die Hamburger Firma Iglo darf mit dem Abbild eines älteren Mannes mit Bart und Seemannsmütze werben, hat das Landgericht München I festgestellt und damit eine Klage gegen die in Cuxhaven ansässige Appel Feinkost GmbH & Co. KG, die eine ähnliche Figur für ihre Produkte verwendet, abgewiesen. Das Gericht meinte, dass es naheliegend sei, Fischprodukte mit Küstenbildern zu bewerben und dass allgemeine Ideen oder Motive wie etwa der Himmel, das Wetter, Meere oder eben Küsten freihaltebedürftig seien und nicht vor Nachahmung geschützt werden können. FAZ (Corinna Budras), LTO und zeit.de berichten über die Entscheidung.

EuGH – Flugentschädigung: Wenn ein Flugzeug statt am ursprünglich geplanten auf einen nahe gelegenen Ausweichflughafen umgeleitet wird, führt das nicht zu einem Entschädigungsanspruch, meint EuGH-Generalanwalt Priit Pikamäe in seinen Schlussanträgen. Wie LTO meldet, soll danach eine solche Umleitung nicht als Annullierung gelten. Ein Fluggast von Austrian Airlines hatte eine Ausgleichsleistung nach der Fluggastrechte-Verordnung in Höhe von 250 Euro verlangt, weil sein Flug von Wien nach Berlin nicht wie eigentlich vorgesehen in Tegel, sondern in Schönefeld landete.

BVerfG – Kinderehen: Die SZ (Wolfgang Janisch) beschreibt ausführlich, worum es bei dem derzeit beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren um die sogenannten Kinderehen geht. Anlass ist eine Studie des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Privatrecht, in der die deutsche Rechtslage mit der Situation in anderen Ländern verglichen wird. Das Verfassungsgericht wird zu entscheiden haben, ob das verschärfte deutsche Kinderehengesetz den zu früh Verheirateten wirklich hilft – oder ob es eher Schaden anrichtet.

LG Bonn – Cum-Ex: Die SZ (Jan Willmroth/Nils Wischmeyer) berichtet vom Cum-Ex-Prozess vor dem Landgericht Bonn. In diesem Verfahren ist ein ehemaliger Generalbevollmächtigter der Privatbank M. M. Warburg und damit erstmals ein deutscher Banker angeklagt. Belastet wird er durch die Aussagen eines Kronzeugen.

LG Hamburg – G20-Ausschreitungen: Vor dem Landgericht Hamburg hat der erste Prozess zum Rondenbarg-Komplex begonnen. Den fünf zur Tatzeit minderjährigen Angeklagten wird im Zusammenhang mit dem G-20-Gipfel im Jahr 2018 u.a. schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen. spiegel.de (Simon Langemann) stellt dar, dass es für die Strafbarkeit darauf ankommen könnte, ob hier eine (nicht aufgelöste) Spontandemonstration vorlag. Die Staatsanwaltschaft verneint dies und spricht von einer geschlossen gewaltorientierten Formation. 

LG Frankfurt/M. zu geschlechtsneutraler Anrede: Eine Person, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnet, hat einen Anspruch darauf, beim Fahrkartenkauf im Internet geschlechtsneutral angesprochen zu werden. Das hat, wie LTO und spiegel.de melden, das Landgericht Frankfurt/M. entschieden. Unerheblich soll dabei sein, ob Betroffene schon eine Änderung im Personenstandsregister veranlasst hätten und beim Standesamt die Eintragung eines diversen Geschlechts erfolgt sei. Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie das Recht auf eine der geschlechtlichen Identität entsprechenden Anrede beginne nicht erst mit einer offiziellen Personenstandsänderung, sondern schon bei gefühlter Geschlechtsidentität, so das Gericht.

VG Bremen zu Querdenker-Demo: Über das vom Verwaltungsgericht Bremen bestätigte Verbot der für Samstag in Bremen geplanten Querdenker-Demo schreibt LTO. Das Verbot sei erforderlich, um eine Verbreitung des Coronavirus zu verhindern und im Hinblick auf die epidemische Lage in Deutschland auch verhältnismäßig, heißt es in dem am Mittwoch ergangenen Beschluss des Gerichtes.

AG Bernau – Cannabisbesitz: In einem Verfahren vor dem Amtsgericht Bernau um den Besitz von Canabis gegen einen Heranwachsenden hat die Staatsanwaltschaft laut einer Meldung von LTO einen Befangenheitsantrag gegen den Richter Andreas Müller gestellt. Anlass sei das jahrelange öffentliche Wirken des Richters gegen das Cannabis-Verbot, nicht aber seine entsprechende Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht.

Recht in der Welt

Iran – Anwältin Nasrin Sotudeh: Die SZ (Paul-Anton Krüger) porträtiert die inhaftierte iranische Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotudeh, der am Donnerstag der Alternative Nobelpreis verliehen wurde. Sie hat Frauen verteidigt, die gegen den Kopftuchzwang verstoßen haben, Fälle angenommen von Menschen, die nach den Massenprotesten der Grünen Revolution 2009 verfolgt wurden und sie vertrat Journalisten und Intellektuelle vor Gericht.

EuGH/Ungarn – Rechtsstaatlichkeit: Der zuständige Generalanwalt des EuGH empfiehlt, die Klage Ungarns gegen den Antrag des Europäischen Parlamentes zu einem Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen das Land abzuweisen. Ungarn argumentierte, dass der Antrag nicht zustande gekommen sei, weil die Stimmenthaltungen bei der Abstimmung hätten berücksichtigt werden müssen. Nach einer Vorschrift in der Geschäftsordnung des Parlaments sind Enthaltungen allerdings eindeutig von der Zählung ausgeschlossen, so Generalanwalt Michal Bobek. Es berichten die taz (Christian Rath) und LTO

EU-Kommission/Polen – Rechtsstaatlichkeit: In einer Beschwerde wirft die EU-Kommission der polnischen Regierung vor, eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs nicht umzusetzen. Konkret geht es um die Disziplinarkammer des obersten polnischen Gerichtshofs, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Auffassung der Kommission nicht gesichert ist. Der EuGH hatte im Mai gefordert, die Arbeit der Kammer einzustellen, bis die Vorwürfe geklärt seien. Wie zeit.de meldet, gestattet es Polen dem Gremium allerdings bisher weiter, Entscheidungen zu treffen.

Polen – Rechtsstaatlichkeit: Der grüne Europa-Abgeordnete Sergey Lagodinsky antwortet in einem Gastbeitrag für die Welt auf einen Text seines polnischen Kollegen Professor Zdzisław Krasnodebski von der polnischen PiS. Dessen Kommentar strotze vor "gefühlten Wahrheiten" und schiefen Vergleichen, sagt Lagodinsky. Er spiegele die Position der polnischen Regierung in der sich zuspitzenden Konfrontation mit der EU wieder und sei ein Argumentationsknäuel, das man nur entlarve, wenn irreführende Annahmen Faden für Faden entsponnen werden.

Niederlande – Shell und Klima: In dieser Woche hat vor einem Gericht in Den Haag das Verfahren um die Klage einer Umweltorganisation gegen den Öl- und Gaskonzern Shell begonnen. Die Kläger wollen, dass das Unternehmen die Emissionen, die sich aus seinen weltweiten Geschäften ergeben, bis 2030 um 45 Prozent senkt. Die SZ (Thomas Kirchner) stellt die Klage vor.

Sonstige

Evaluation Anti-Doping-Gesetz: Die praktische Anwendung des vor fünf Jahren in Kraft getretenen Anti-Doping-Gesetzes haben die Rechtsprofessoren Elisa Hoven und Michael Kubiciel in einer Evaluation, über die LTO berichtet, untersucht. Die Auswertung sämtlicher Akten zu Verfahren, die deutsche Staatsanwaltschaften wegen des Verdachts des Selbstdopings geführt haben, zeige, dass der Großteil der Ermittlungsverfahren eingestellt wird, so eines der Ergebnisse des Gutachtens. Als Gründe dafür wird u.a. das Fehlen von Whistleblowern im Sport genannt. Deshalb sollten, so ein Vorschlag, die Kronzeugenregelungen ausgeweitet werden.

Hasskriminalität im Internet: LTO (Hasso Suliak) hat sich mit Sarah-Marisa Wegener vom Berliner Landeskriminalamt über steigende Fallzahlen im Bereich der Hasskriminalität unterhalten. Angesichts von Äußerungen in Foren oder Chats würde sich die Beamtin des Staatsschutzdezernates wünschen, dass "das StGB noch besser eine Antwort auf strafwürdiges Verhalten geben würde, das innerhalb geschlossener Räume im Internet zu beobachten ist".

Corona-Verordnung Berlin: Woran es bei der Umsetzung der Coronamaßnahmen in Berlin hapert, beschreibt spiegel.de (Dietmar Hipp). Im Artikel wird ein leitender Mitarbeiter eines Ordnungsamtes zitiert, der ein "Vollzugsdefizit" attestiert.

LTO Karriere: Auf der Plattform LTO Karriere sammelt LTO ab jetzt alle Infos, News und Werkzeuge für die juristische Ausbildung, den Start in die Berufswelt und die juristische Karriere. In seinem Podcast "Irgendwas mit Recht", der künftig ebenfalls über die neue Plattform läuft, liefert Anwalt Marc Ohrendorf mehrmals im Monat Interviews mit erfolgreichen Persönlichkeiten und zeigt, wie vielseitig und spannend juristische Karrierewege sein können. Head of LTO Christian Dülpers stellt die neue Plattform vor.

Junganwalt in eigener Kanzlei: Henrik von Sonnenstern (Pseudonym) berichtet auf LTO Karriere von seinem Weg zur eigenen Kanzlei.

 

Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen Internet-Angebot des jeweiligen Titels.

Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

lto/pf

(Hinweis für Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 4. Dezember 2020: "Ungereimtheiten" im Lübcke-Prozess / OLG Frankfurt/M. zu Vaterpflichten / Appel gewinnt gegen "Käpt'n Iglo" . In: Legal Tribune Online, 04.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43636/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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