Die juristische Presseschau vom 30. November bis 2. Dezember 2019: VG Gießen zu "Mig­ra­tion tötet" / Bes­se­re Op­fer­ent­schä­d­i­gung / EuGH lobt BVerfG

02.12.2019

VG Gießen mit NPD-artiger Begründung eines Urteils zur NPD-Wahlwerbung. Außerdem in der Presseschau: Bundesrat stimmt neuem Opferentschädigungsrecht zu, EuGH-Präsident lobt Urteil zum "Recht auf Vergessenwerden".

 

Thema des Tages

VG Gießen zu "Migration tötet": Das Verwaltungsgericht Gießen hat mit der Begründung, die Parole sei nicht volksverhetzend, sondern entspreche teilweise der Realität, ein Wahlplakat der NPD mit der Aufschrift "Migration tötet" für zulässig erklärt. Die Gemeinde Ranstadt hatte die Plakate vor der Europawahl im Mai 2019 abhängen lassen, wogegen die NPD geklagt und im August 2019 recht bekommen hatte. Das Plakat erfülle nicht den Tatbestand der Volksverhetzung, da es sich bei der Einwanderung von Flüchtlingen tatsächlich um eine "Invasion" gehandelt habe, so der Richter in seiner Begründung. Der objektive Aussagegehalt von "Migration tötet" sei eine empirisch zu beweisende Tatsache. Über die Entscheidung berichten die Mo-FAZ (Julian Staib), Mo-SZ (Robert Probst), Sa-taz (Christian Rath) und lto.de (Pia Lorenz). Gegen die Entscheidung wurde Berufung eingelegt.

Alexander Haneke (Mo-FAZ) meint, dass sich der Gießener Richter seiner Verantwortung, die die richterliche Unabhängigkeit mit sich bringe, nicht bewusst gewesen sein könne. Es hätte spannendere Rechtsfrage gegeben, die zu behandeln gewesen wären, stattdessen sei der Richter in seinem Urteil um die Binse gekreist, dass die Kriminalitätsrate von Migranten höher sei als die der Mehrheitsgesellschaft und habe über "den Islam und die Gefahren für die deutsche Kultur" sinniert.

Rechtspolitik

Hass gegen Politiker: Einen Gesetzentwurf zur härteren Bestrafung von Hassäußerungen und Verleumdungen von Politikern hat der Bundesrat am vergangenen Freitag beschlossen, wie lto.de (Hasso Suliak) berichtet. In § 188 Strafgesetzbuch (Üble Nachrede/Verleumdung gegen Personen des öffentlichen Lebnes) sollen Kommunalpolitiker und ehrenamtlich Engagierte ausdrücklich geschützt werden. Auch ein gesonderter Strafantrag des Betroffenen wäre nicht mehr erforderlich. Bei § 241 (Bedrohung) soll der Strafrahmen erhöht werden.

Wiederaufnahme von Mordverfahren: Der Deutsche Richterbund unterstützt das Vorhaben der Bundesregierung, freigesprochene Mordverdächtige unter bestimmten Umständen nachträglich verurteilen zu können. Das meldet der Spiegel. Der Spiegel hatte in der Vorwoche berichtet, dass das Bundesjustizministerium prüfen will, wie bei Mord oder Völkermord eine Wiederaufnahme ermöglicht werden kann, wenn etwa an vorhandenen Beweisstücken belastende DNA-Spuren gefunden werden.

Strafrecht gegen Antisemitismus: Der Bundesrat will das Strafgesetzbuch ändern, um antisemitische Straftaten künftig "gezielter und härter" ahnden zu können. Dazu sollen nach dem Willen der Länderkammer in den Katalog der Strafzumessungsregeln des § 46 StGB auch antisemitische Motive strafschärfend aufgenommen werden. Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte sich in der Justizhaushaltsdebatte am Donnerstag den Bundesratsvorschlag inhaltlich komplett angeeignet, obwohl es aus ihrem Haus noch wenige Tage zuvor hieß, der Gesetzgeber habe schon bei der Ergänzung des § 46 Abs. 2 StGB Ende 2015 ausdrücklich betont, dass unter diese allgemeine Formulierung gerade auch antisemitische Motive fallen. Über den Vorstoß berichtet lto.de (Hasso Suliak).

Opferentschädigung: Für Heribert Prantl (Sa-SZ) ist das Gesetz zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts, dem der Bundesrat am vergangenen Freitag zugestimmt hat, ein "Jahrhundertgesetz", mit dem hoffentlich die Geringschätzung von Opfern von Straftaten umfassend beendet werde. Das neue Gesetz sieht die Einführung eines neuen SGB XIV vor, in dem das Soziale Entschädigungsrecht ab 2024 separat geregelt wird.

Kinderrechte ins Grundgesetz: In der FAS sprechen sich Helene Bubrowski für und Constantin van Lijnden gegen die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz aus. Dafür spräche, dass damit der Staat ein Argument hätte, sich früher zu kümmern, schreibt Bubrowski. Für van Lijnden wäre es dagegen "reine Verfassungslyrik".

Justiz

BVerfG – Soldat ohne Handschlag: Ein muslimischer Soldat, der sich geweigert hatte, Frauen mit Handschlag zu begrüßen, hat in Karlsruhe gegen seine Entlassung aus der Bundeswehr geklagt. Jost Müller-Neuhof (Tsp) findet in seinem Kommentar, dass der Freiheit ein schlechter Wehrdienst erwiesen werde, wenn Grußförmlichkeiten zum Entlassungsgrund herangezogen werden könnten – egal ob in der Truppe oder außerhalb. Händeschütteln gehöre zu den Kulturpraktiken, die besser ohne Gerichte verhandelt würden.

BVerfG zum "Recht auf Vergessenwerden": In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht zwei vielbeachtete und vielkommentierte Entscheidungen zum Grundrechtsschutz in der EU getroffen. Es geht in "Recht auf Vergessen I" und "Recht auf Vergessen II" um die Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsschutz und dem Recht auf Informationen bei Veröffentlichungen im Internet und um den Prüfungsmaßstab für Grundrechtsverletzungen. In "Recht auf Vergessen II" hat das Bundesverfassungsgericht dabei erstmals ausschließlich die europäischen Grundrechte herangezogen. Auf verfassungsblog.de befassen sich jetzt auch der Richter Jens Milker und der Rechtsprofessor Thomas Klein mit den Entscheidungen und geben jeweils ihre Einordnungen.

BVerfG und EuGH: Am Tag nach den Karlsruher Entscheidungen hat sich das Triberger Symposium mit dem Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof befasst. Er habe sich über das Karlsruher Urteil gefreut, sagte dort EuGH-Präsident Koen Lennaerts, wie taz.de (Christian Rath) berichtet. Der ebenfalls anwesende BVerfG-Vize Stephan Harbarth hielt sich dagegen auf der Veranstaltung mit einer politischen Einschätzung zurück, heißt es in der taz und in einem ebenfalls zusammenfassenden Bericht in der Sa-FAZ (Rüdiger Soldt).

BGH zu "wenigermiete.de": Im Handelsblatt-Rechtsblog erläutern die beiden Rechtsanwälte Christoph Baus und Stefan Patzer die Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Sachen "wenigermiete.de". Der zuständige Senat hatte am vergangenen Mittwoch seine Entscheidung bekanntgegeben, wonach eine Erlaubnis zur Erbringung von Inkassodienstleistungen weit zu verstehen sei und auch Dienstleistungen wie die auf "wenigermiete.de" angebotenen umfasse. Die Entscheidung des BGH sei nicht nur für die gesamte Legal Tech-Branche von Bedeutung, die weit überwiegend aufgrund einer ebensolchen Inkasso-Lizenz operiert, sondern auch für die deutsche Anwaltschaft, so die Autoren.

In der Mo-SZ (Katrin Berkenkopf/Herbert Fromme) wird aus Anlass der Entscheidung das Legal Tech-Unternehmen "Justix" vorgestellt, das zur Rechtsschutzversicherung Arag gehört. Mit "Justix" wolle der Rechtsschutzversicherer europaweit in einen Markt einsteigen, der hohe Gewinne verspricht – und das traditionelle Geschäftsmodell der Rechtsschutzversicherer frontal angreife, heißt es im Text.

BGH – Bewertungen auf Yelp: Anlässlich eines beim Bundesgerichtshof anhängigen Streites befasst sich die Mo-FAZ (Hendrik Wieduwilt) mit der Frage nach der Verlässlichkeit von Kundenbewertungen auf Onlineplattformen. Das Bundeskartellamt führe hierzu gerade eine Sektoruntersuchung durch.

LG Hannover zur Grätsche in einem Fußballspiel: Für ein Foul in einem Fußballspiel in der vierten Kreisklasse hat das Landgericht Hannover einen Amateurkicker wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 40 Euro verurteilt. Der Fußballer hatte einem Gegenspieler mit einer Grätsche von hinten das Waden- und Schienbein gebrochen, wie lto.de berichtet.

BVerwG zur Zweitwohnungssteuer: Weil die Erhebung der Zweitwohnungssteuer in vielen Gemeinenden auf alten Zahlen beruht, darf sie dort nicht mehr erhoben werden. Das hat vorige Woche das Bundesverwaltungsgericht entschieden und dabei auch die Möglichkeit einer Übergangsfrist ausgeschlossen. Der Rechtsanwalt und Rechtsprofessor Dennis Klein erläutert auf lto.de das Urteil.

AG München zu Radtour: Die Klage mehrerer Mountainbiker, die an einer "Transalp Rad Tour" teilgenommen hatten, aber mit den sportlichen Herausforderungen nicht zufrieden waren und deshalb die volle beziehungsweise teilweise Rückzahlung des Reisepreises forderten, hat das Amtsgericht München jetzt abgewiesen. Das Gericht wies diese Begehren unter anderem mit der Begründung zurück, dass in den Reiseunterlagen keine bestimmte Strecke zugesichert worden sei und aus der Reisebeschreibung zudem nicht hervorgehe, "dass die Reise als ein sportliches (Hochleistungs-)Programm angeboten wurde, um den Teilnehmer einen bestimmten Trainingserfolg zu versprechen", meldet lto.de.

Toll Collect: Laut einer Meldung des Spiegel (Sven Becker/Gerald Traufetter) hat ein italienisches Bieterkonsortium das Bundesverkehrsministerium auf Schadensersatz verklagt. Das Unternehmen hatte sich an der geplanten Privatisierung des Lkw-Mautsystems Toll Collect beteiligt, die jedoch im Januar überraschend abgesagt worden war. Das Konsortium aus Italien fordert nun seine Kosten von rund fünf Millionen Euro vom BMVI zurück.

Elektronischer Rechtsverkehr: Bereits ab Beginn des kommenden Jahres müssen Rechtsanwälte und Behörden Schriftsätze an die Arbeitsgerichte Schleswig-Holsteins elektronisch einreichen. Wie lto.de (Annelie Kaufmann) berichtet, macht das Land damit von einer Opt-in-Regelung im Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten Gebrauch.

Sonstiges

Naming-Right-Verträge: Rechtsanwalt Jonas Kahl und wissenschaftlicher Mitarbeiter Franziskus Horn erläutern auf lto.de die Rechtslage bei so genannten Naming-Right-Verträgen. Das sind in der Regel Vereinbarungen bei denen Namensrechte für Veranstaltungsorte durch Sponsoren erworben werden. Der Wolfsburger Autohersteller VW hatte einen solchen Vertrag mit dem Betreiber der Braunschweiger Stadthalle geschlossen und anlässlich des AfD-Parteitages dort durchgesetzt, dass der Schriftzug des Unternehmens für die Dauer der Veranstaltung abgehängt wird.

Papiers Warnung: Christian Rath hat für lto.de das neue Buch des ehemaligen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier mit dem Titel "Die Warnung" gelesen. Die "Warnung" bezieht sich dabei auf eine "Aushöhlung des Rechtsstaates", wie es im Untertitel des Buches heißt. Fest macht Papier diese Entwicklung beispielsweise an der aus seiner Sicht verfassungswidrigen Beteiligung der Bundeswehr an der Anti-IS-Mission, an der Einführung der "Ehe für alle" ohne eine entsprechende Grundgesetzänderung und, am schwersten wiegend, an der Offenhaltung der Grenzen für Flüchtlinge, mit der, so Papier, deutsches Recht missachtet wurde. Christian Rath stimmt in den meisten Bewertungen nicht mit Papier überein. Zur Diskussion um die Auslegung der Dublin-III-Verordnung meint Rath, dass Papier das geltende Recht nicht akzeptieren wolle und mit ergebnisorientierten Auslegungen auszuhebeln versuche.

Vom Gestapo-Mann zum Notar: Martin Rath beleuchtet auf lto.de mehrere juristische Karrieren, die in der Nazizeit erfolgreich begonnen und nach Kriegsende nicht minder erfolgreich fortgesetzt wurden. So befand der BGH 1969, dass einem vormaligen Gestapo-Beamten auch die Bestellung zum Notar nicht aus Gründen seiner Persönlichkeit zu verweigern sei.

 

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lto/pf

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 30. November bis 2. Dezember 2019: VG Gießen zu "Migration tötet" / Bessere Opferentschädigung / EuGH lobt BVerfG . In: Legal Tribune Online, 02.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38443/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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