Die Bundesnetzagentur setzt die Verpflichtung zur Speicherung von Verkehrsdaten vorerst nicht durch. Außerdem in der Presseschau: Abstimmung zur "Ehe für alle" am Freitag und G-20-Camp könnte grundrechtlich geschützte Versammlung sein.
Thema des Tages
Vorratsdatenspeicherung ausgesetzt: Nachdem in der vergangenen Woche das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in einem von dem Münchner Unternehmen Spacenet geführten Eilverfahren entschieden hatte, dass die eigentlich ab 1. Juli geltende Pflicht zur Speicherung von Verkehrsdaten nicht mit europäischem Recht vereinbar ist, hat jetzt die Bundesnetzagentur mitgeteilt, diese Pflicht auch gegenüber den übrigen Providern nicht durchzusetzen. Die Behörde will bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Hauptsacheverfahrens von Anordnungen und sonstigen Maßnahmen zur Durchsetzung der in § 113b Telekommunikationsgesetz (TKG) geregelten Speicherverpflichtungen gegenüber allen verpflichteten Unternehmen absehen. Unter anderem swr.de (Gigi Deppe), taz (Martin Kaul), FAZ (Hendrik Wieduwilt) und lto.de berichten. Laut SZ (Wolfgang Janisch) fordert der Branchenverband BitKom ein Tätigwerden des Gesetzgebers, um Rechtssicherheit für die Unternehmen zu schaffen. Das Bundesjustizministerium wolle zunächst jedoch die Entscheidung im Hauptsacheverfahren in Sachen Spacenet abwarten. netzpolitik.org (Markus Reuter) hat erfahren, dass die großen Provider wie Deutsche Telekom, Vodafone, Telefonica Deutschland oder 1&1 bis zur endgültigen Klärung der Rechtslage keine Verkehrsdaten speichern wollen.
Wolfgang Janisch (SZ) hofft, dass das "großen Sammeln" eingedämmt wird, als nächstes durch den Europäischen Gerichtshof in Sachen Fluggastdatenspeicherung. Hendrik Wieduwilt (FAZ) erinnert an den Kurswechsel des Bundesjustizministers bei der Einführung der Vorratsdatenspeicherung. Nun falle ihm "die frühe Sünde auf die Füße".
Rechtspolitik
"Ehe für alle": Sämtliche Zeitungen widmen sich ausführlich der kurzfristig für den morgigen Freitag anberaumten abschließenden Parlamentsabstimmung zur "Ehe für alle". Die Zeit (Peter Dausend) bezeichnet auf der Titelseite die bevorstehende Gesetzänderung als "leitkulturellen Quantensprung". Die FAZ (Johannes Leithäuser) gibt einen Überblick über die Diskussion seit dem Beginn der Legislaturperiode und (Majid Sattar) über den zu erwartenden Ablauf bis zur endgültigen Abstimmung am Freitag.
spiegel.de behandelt im Überblick die Begriffe "Gewissensfrage", "Fraktionszwang", "Fraktionsdisziplin". Niklas Stock (juwiss.de) beleuchtet noch einmal die Frage, wie es um das parlamentarische Gesetzesinitiativrecht bestellt ist, wenn, wie hier geschehen, Gesetzentwürfe der Opposition "verschleppt" würden. Die SZ (Susanne Höll) porträtiert Volker Kauder (CDU), der sich stets gegen eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ausgesprochen hat. spiegel.de (Florian Gathmann/Annett Meiritz) und zeit.de (Katharina Schuler) stellen dar, was sich in der Praxis verändern würde, wenn der Bundestag ab Freitag erwartungsgemäß abstimmt. Die SZ (Wolfgang Janisch/Ulrike Heidenreich) beleuchtet besonders den Aspekt der Adoption, die demnächst auch für homosexuelle Paare möglich sein wird.
In der Leitglosse meint Berthold Kohler (FAZ) "die Ehe für alle in ihrem Lauf, hält jetzt wohl auch Ochs und Esel nicht mehr auf". Und auch, dass sich Merkel Zügen, von denen sie glaube, sie seien nicht mehr anzuhalten, noch nie in den Weg gestellt habe. Jost Müller-Neuhof (Tsp) meint, dass die gleichgeschlechtliche Ehe auch in der Verfassung verankert werden sollte. Denn der verfassungsrechtliche Ehebegriff lasse sich nicht so einfach per Gesetz umdefinieren. Eine entsprechende Grundgesetzänderung wäre nicht nur eine Versicherung gegen unpässliche Karlsruher Urteile, sondern auch das politische Signal, dass sich ein Wandel ereignet, der Grundlagen erfasst, so der Autor. Warum allerdings mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ohnehin nicht zu rechnen ist, stellt Christian Rath (taz) dar. Auch nach Meinung von Heribert Prantl (SZ) ist eine Verfassungsänderung nicht erforderlich. Im Leitartikel erinnert Arno Widmann (FR) an die Entwicklung der Schwulenbewegung in den letzten fünf Jahrzehnten.
Gudula Geuther (Deutschlandfunk) hat die inkonsequente Haltung der CDU-Parteispitze kommentiert. Im Nachhinein werde deutlich, dass auch ihr hartes Nein mit Überzeugung nichts zu tun gehabt habe. Ausgerechnet die so christliche und wertkonservative Union mache die Ehe so zum Gegenstand kleinlich-wahltaktischer Manöver.
NSA-Untersuchungsausschuss: Jenseits der Querelen um den Abschlussbericht befasst sich Reinhard Müller (FAZ) im Leitartikel mit der Arbeit des NSA-Untersuchungsausschusses. Der Autor resümiert, dass auch ein offener demokratischer Staat einen Geheimdienst brauche – allerdings mit demokratischer Kontrolle. Wenn aus dem NSA-Ausschuss eine bessere und besser kontrollierte Spionageabwehr hervorgehe, dann habe er seinen Zweck erfüllt.
Strafrecht: Ronen Steinke (SZ) fasst die wichtigsten Änderungen im Strafrecht, die in der zu Ende gehenden Legislaturperiode aus dem Bundesjustizministerium gekommen sind, zusammen. So wird beispielsweise das Stehlen aus einer Wohnung künftig schärfer bestraft als das Niederbrennen des kompletten Wohngebäudes. Kritisch merkt der Autor an, dass der Bundesjustizminister allzu bereitwillig dem Ruf nach Strafen gefolgt sei.
NetzDG: In der Zeit werden die praktischen Auswirkungen des geplanten Netzwerkdurchsetzungsgesetzes grafisch dargestellt.
Der Blogger und Netzaktivist Markus Beckedahl befasst sich in der SZ kritisch mit dem von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) vorgelegten Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Der effektivere Weg, gegen Hasskriminalität vorzugehen, sei es, Täter zu ermitteln und vor Gericht zu stellen. Das sei deutlich abschreckender als die Benachrichtigung, dass ein Hasskommentar gelöscht wurde. Im Übrigen gehöre zu einer besseren Rechtsdurchsetzung auch eine besser ausgestattete Justiz, die sich mit dem Netz auskenne. Dietmar Neurer (Hbl) meint im Leitartikel, dass sicherlich Restzweifel bleiben, ob der eine oder andere Regulierungsschritt vielleicht doch zu weit geht oder zu viel Interpretationsspielraum lässt, das neue Gesetz aber insgesamt überfällig sei.
Prepaid-Karten: Ab 1. Juli muss beim Kauf beziehungsweise der Aktivierung von Prepaid-Sim-Karten ein Personalausweis vorgelegt werden. Die SZ (Nils Wischmeyer) erläutert, was die Gesetzesänderung für den Verbraucher bedeutet.
In einem separaten Kommentar stellt Nils Wischmeyer (SZ) die Effektivität der Neuregelung in Frage: Ohne EU-weite Standards könne das Gesetz leicht ausgehebelt werden.
Justiz
EGMR zum Kindeswohl eines sterbenden Kleinkindes: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat den behandelnden Ärzten erlaubt, bei einem unheilbar kranken Kleinkind die lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden. Das berichtet u.a. swr.de (Gigi Deppe). Die Eltern hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, sie wollten ihren Sohn zu einer experimentellen Behandlung in die USA bringen. Die Straßburger Richter gaben ihren britischen Kollegen recht, die entschieden hatten, dass das Kind bei einem Transfer in die USA sehr leiden und dass die Therapie dort nichts bringen würde.
Jakob Simmank (zeit.de) sieht das Urteil kritisch, denn es billige, dass Gerichte darüber entschieden, wann ein Leben lebenswert sei.
EuGH – Anwendung Dublin III: Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität Graz Stefan Salomon (verfassungsblog.de) stellt die Schlussanträge der Generalstaatsanwältin Eleanor Sharpston in den Verfahren A.S und Jafari vor, in denen es um die Anwendung der Dublin-III-Verordnung geht.
BVerfG – Videoüberwachung: Politiker der Piratenpartei haben laut SZ Verfassungsbeschwerde gegen das Videoüberwachungsverbesserungsgesetz erhoben. Das Gesetz, das im März vom Bundestag verabschiedet wurde und Anfang Mai in Kraft trat, erleichtert den Einsatz privater Überwachungskameras im öffentlichen Raum. Die Piraten kritisieren, dass das Gesetz keine Begrenzung der Überwachungsmaßnahmen vorsehe und die Weiterverarbeitung der Daten erlaube.
BVerfG zum G-20-Protest-Camp: Das Bundesverfassungsgericht hat das geplante Protestcamp von G-20-Gegnern in Hamburg zumindest vorsorglich als grundgesetzlich geschützte Versammlung anerkannt, melden SZ (Wolfgang Janisch) und lto.de (Maximilian Amos). Die Karlsruher Richter haben in einem Eilverfahren das generelle Verbot des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts aufgehoben, das dem Camp die Eigenschaft als politische Meinungskundgebung abgesprochen hatte. Die Stadt Hamburg muss jetzt noch einmal neu über die angemeldete Demonstration versammlungsrechtlich entscheiden.
BFH zur Absetzbarkeit von unterschlagenem Kaufpreis: Wer einem betrügerischen Grundstücksmakler Bargeld in der Annahme übergibt, der Makler werde damit den Kaufpreis für ein bebautes Grundstück bezahlen, kann den Verlust bei den Werbungskosten aus Vermietung und Verpachtung abziehen. lto.de stellt die Entscheidung dar.
BGH zur Sicherungsverwahrung I: Im Fall Silvio S., der 2015 vom Landgericht Potsdam wegen des Missbrauchs und der Tötung der beiden Kinder Elias und Mohamed verurteilt wurde, hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass erneut die Gefährlichkeit des Täters und entsprechend die Anordnung einer Sicherungsverwahrung geprüft werden muss. Laut Tsp (Alexander Fröhlich) hatten die Potsdamer Richter den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Sicherungsverwahrung abgelehnt, da ein Gutachter keine gesicherte Gefährlichkeitsprognose erstellen konnte. Der BGH ist dagegen der Auffassung, dass nicht ausreichend bewertete wurde, dass S. beide Taten binnen kurzer Zeit und sehr brutal verübt habe.
BGH zur Sicherungsverwahrung II: Wie die taz (Christian Rath) berichtet, hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass eine Sicherungsverwahrung auch neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe angeordnet werden kann. Der Gesetzgeber habe dies durch eine Gesetzesänderung 2002 ausdrücklich ermöglicht, wird der Vorsitzende Richter Ekkehard Appl zitiert.
BGH zum Transplantationsskandal: Der Bundesgerichtshof hat am Mittwoch den Freispruch für den Göttinger Transplantationsmediziner Aiman O. bestätigt, berichten FAZ (Helene Bubrowski), SZ (Christina Berndt/Wolfgang Jansich), taz (Christian Rath) und auf lto.de der Rechtsanwalt Arnd Pannenbecker. Dem Angeklagten war ursprünglich vorgeworfen worden, Totschlag in elf Fällen begangen zu haben, weil er bei Lebertransplantationen die Organzuteilung manipuliert hatte. Der Karlsruher Richter bestätigten die Entscheidung des Landgerichts Göttingen, wonach der Mediziner nicht mit Tötungsvorsatz gehandelt habe.
LG München I – HRE: Das Hbl (Christian Schnell) berichtet vom Prozess gegen die beiden HRE-Vorstandmitglieder Georg Funke und Markus Hell, denen vorgeworfen wird, 2007 und 2008 die finanzielle Situation der HRE (Immobilienbank Hyo Real Estate) verschleiert und beschönigt zu haben. Das Verfahren werde wohl länger dauern als ursprünglich gedacht, mit hohen Strafen sei jedoch nicht zu rechnen, heißt es.
LG Kassel zu "Probehaft": lto.de berichtet jetzt auch über den Proberichter, der einen Angeklagten für etwa eine Minute in eine Haftzelle eingeschlossen hatte, um ihm zu zeigen, "was ihm blühen könnte", und der jetzt dafür vom Landgericht Kassel zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde.
AG Bad Hersfeld zu WhatsApp: Rechtsanwalt Carsten Ulbricht analysiert auf lto.de die Entscheidung des Amtsgerichts Bad Hersfeld, wonach WhatsApp-Nutzer das Einverständnis zur Datenweitergabe aller ihrer Kontakte im Adressbuch einholen müssen. Er kommt zu dem Schluss, dass anders als teilweise in der Berichterstattung suggeriert, eine "Abmahnwelle" nicht zu erwarten sei.
Christian Rath (taz) wundert sich, weshalb in einem familiengerichtlichen Verfahren, in dem es eigentlich um den elterlichen Umgang ging, Datenschutzprobleme eine so große Rolle spielen konnten
Sonstiges
Referenden in Europa: Der Assistenzprofessor für Öffentliches Recht am Fachbereich für Recht und Rechtsgeschichte der Tilburg Law School in den Niederlanden Gerhard van der Schyff (verfassungsblog.de) befasst sich in englische Sprache mit der Frage, ob in der Europäischen Union mehr auf direkte Demokratie gesetzt werden sollte. Grundsätzlich ist der Autor offen dafür, Voraussetzung sei aber, dass sowohl bei der Frage, ob überhaupt ein Referendum durchgeführt wird, als auch bei der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung die Grundrechte unbedingt gewahrt bleiben müssen.
Post-Brexit: Die Zukunft der EU-Bürgerschaft und die Rolle des Europäischen Gerichtshofes nach dem Brexit thematisiert in englischer Sprache auf verfassungsblog.de Christopher McCrudden, u.a. Professor an der Queen's University Belfast.
Anwaltlicher G-20-Notdienst: Etwa 120 Rechtsanwälte haben sich zusammengeschlossen, um Demonstranten gegen den G-20-Gipfel in Hamburg im Bedarfsfall rechtlich zur Seite zu stehen. spiegel.de (Alexander Schulz) hat den Initiator Matthias Wisbar interviewt.
Ersatzfreiheitsstrafe: Das Modell der Ersatzfreiheitsstrafe stellt die Welt (Hannelore Crolly) vor. Nach Angaben des Bundesjustizministeriums saßen zum Stichtag 30. November 2016 etwa 4.500 Personen eine Geldstrafe im Gefängnis ab.
Betrügerische Rechtsanwälte: Die Zeit (Marcus Rohwetter) berichtet von einem Fall aus Jena, in dem Rechtsanwälte mehrere Tausend Kapitalanleger betrogen haben sollen. Der Rechtsstaat werde durch solche "juristischen Trolle" beschädigt, meint Rohwetter.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/pf
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 29. Juni 2017: Vorratsdatenspeicherung ausgesetzt / Ausweitung der Ehe / BVerfG hebt Verbot von G-20-Camp auf . In: Legal Tribune Online, 29.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23316/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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