Eine Muslima, die am Steuer ausnahmsweise einen Niqab tragen wollte, ist vor dem OVG NRW gescheitert. Die Begründung des OVG lässt aber erahnen: Einen kleinen Teilerfolg hat sie vielleicht doch errungen.
Eine Muslima aus Neuss trägt im Alltag einen Niqab - eine Verschleierung, die das gesamte Gesicht bis auf die Augen verdeckt. Seit 2020 kämpft sie vor Gericht dafür, diese Bekleidung auch beim Autofahren tragen zu dürfen. Denn § 23 Abs. 4 S. 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) verbietet es dem Autofahrer, das Gesicht "so zu verhüllen oder zu verdecken, dass er nicht mehr erkennbar ist."
Die Frau aus Neuss wollte eine Ausnahmegenehmigung bei der Bezirksregierung Düsseldorf erwirken. Ihr Argument: Sie trage den Niqab aus religiöser Überzeugung, Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) gewährleiste ihr eine so umfassende Religionsfreiheit, dass ihr die Ausnahmegenehmigung erteilt werden müsse.
Gefahr für den Straßenverkehr
Das sah das VG Düsseldorf jedoch sowohl im Eilverfahren (Beschl. v. 26.11.2020, Az. 6 L 2150/20) als auch als Vorinstanz in der Hauptsache (Urt. v. 01.12.2021, Az. 6 K 6386/20) anders: Die Religionsfreiheit der Frau sei nur in geringem Maße betroffen. Außerdem gefährde die Vollverschleierung die Verkehrssicherheit, weil Verkehrsverstöße nicht wirksam verfolgt werden könnten. Die Fahrerin sei nicht anhand der Augen zu identifizieren. Und es bestehe noch eine weitere Gefahr, so das VG Düsseldorf: Die für die Sicherheit des Straßenverkehrs dringend erforderliche nonverbale Kommunikation sei durch die Verhüllung ausgeschlossen. "Da der Verkehrslärm und das regelmäßig akustisch abgeschlossene Fahrzeug eine Verständigung der Verkehrsteilnehmer untereinander mithilfe gesprochener Sprache weitgehend ausschließen, kommunizieren sie ganz überwiegend ohne hörbar gesprochene Worte durch Zeichen und Mimik. (...) Diese Verständigungsmöglichkeiten werden spürbar eingeschränkt, wenn für die anderen Verkehrsteilnehmer in einem vollverschleierten Gesicht nur die Augenpartie sichtbar ist", so das Gericht.
Das OVG NRW ändert die Entscheidung des VG Düsseldorf vom Dezember 2021 nun teilweise ab und lässt die Behörde den Fall neu bescheiden (Urt. v. 05.07.2024, Az. 8 A 3194/21). Diese Auffassung hatte das OVG bereits im Mai 2021 angedeutet, als es die Beschwerde der Muslima gegen den Eilbeschluss des VG im einstweiligen Rechtsschutz zurückgewiesen hatte (Beschl. v. 20.05.2021, Az. 8 B 1967/20). Die Klägerin habe zwar in diesem konkreten Fall keinen unmittelbaren Anspruch auf eine Ausnahmegenehmigung, so das OVG NRW. Aber die Behörde habe hier Ermessensfehler gemacht. Abgewogen werden musste die schrankenlos gewährleistete Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1, 2 GG mit den Schutzgut der Sicherheit des Straßenverkehrs. Weil die Behörde die Abwägung nicht hinreichend vorgenommen hat, liegt ein Ermessensfehlgebrauch vor. Unter anderem hat die Behörde ein naheliegendes, milderes Mittel nicht ausreichend als Alternative erkannt: Um die Identifizierung bei Verkehrsverstößen sicherzustellen, könnte die Autofahrerin auch ein Fahrtenbuch führen.
Nonverbale Kommunikation – (Un-)möglich mit Niqab?
Aus der Pressemitteilung ergibt sich noch eine weitere zentrale Positionierung des OVG: "Zu Unrecht hat sie etwa darauf abgestellt, dass das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot auch die nonverbale Kommunikation im Straßenverkehr sichert. Diese ist, soweit sie im Straßenverkehr überhaupt erforderlich ist, durch den Niqab nicht beeinträchtigt." Für die genaue Begründung wird man auf die Urteilsgründe warten müssen.
Ob der Niqab jegliche nonverbale Kommunikation unmöglich macht, ist ein immer wieder auftretender Topos um Verbotsdebatten rundum die Vollverschleierung in verschiedenen Kontexten: Mit dem Argument, der Schleier verhindere die "offene Kommunikation" als Funktionsbedingung des universitären Bildungsauftrages, versuchte die Universität Kiel einer Studentin ihre Religionsausübung in Universitätsräumen zu untersagen. Auch eine Hamburger Schule versuchte die Kommunikation mit Mimik und Gestik als Grund anzuführen, einer 16-jährigen Schülerin den Niqab zu verbieten. Es fehlte jedoch zunächst an einer geeigneten Rechtsgrundlage.
Während das OVG Hamburg 2020 (Beschl. v. 29.01.2020 – 1 Bs 6/20) die Behauptung, eine Vollverschleierung mache nonverbale Kommunikation unmöglich, zu pauschal: "Infolge der beim Niqab noch freien Augen ist durchaus eine nonverbale Kommunikation über einen Augenkontakt möglich; auch eine Gestik (z.B. Melden, Nicken mit dem Kopf oder Schütteln des Kopfes) ist, wenn auch in eingeschränkter Weise, möglich", so das Hamburger Gericht zur Situation in der Schule.
Im Gegensatz dazu hält der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Beschl. v. 22.04.2014 – 7 CS 13.2592, 7 C 13.2593) die offene Kommunikation jedoch für ein valides Argument: "Die offene Kommunikation beruht nicht nur auf dem gesprochenen Wort, sondern ist auch auf nonverbale Elemente angewiesen, wie Mimik, Gestik und die übrige sog. Körpersprache, die zum großen Teil unbewusst ausgedrückt und wahrgenommen werden. Fehlen diese Kommunikationselemente, ist die offene Kommunikation als schulisches Funktionserfordernis gestört. Bei einer gesichtsverhüllenden Verschleierung einer Schülerin wird eine nonverbale Kommunikation im Wesentlichen unterbunden."
Nachdem unterschiedliche Bundesländer wie beispielsweise Niedersachen (§ 58 Abs. 2 S. 2 SchulG Nds) sowie Baden-Württemberg (§ 73 Abs. 3a SchulG BW) sich für Verbotsgesetze in Schulen entschieden hatten, ist ihnen diese Entscheidung in einem vollkommen anderen Kontext noch einmal auf die Füße gefallen: Das Verbot der Gesichtsverhüllung führte während der Pandemie teilweise dazu, dass in Schulen, Schüler:innen keine Masken tragen durften.
Bewusst oder unbewusst: Das OVG NRW hat sich mit dieser Entscheidung in einem immer wieder auftauchenden Ringen um Gesichtverhüllungsverbote positioniert: Mit mangelnder nonverbaler Kommunikation können sie jedenfalls nicht begründet werden.
Red. Hinweis: Aktualisierte Version vom 23.08.2024, 17:50 Uhr. In einer früheren Version wurden an einigen Stellen Eil- und Hauptsacheverfahren und die dazugehörigen Aktenzeichen nicht richtig differenziert. Auch der Tenor der hier besprochenen Entscheidung war unzutreffend wiedergegeben: Unzutreffend hieß es hier, das OVG habe den Fall an das VG Düsseldorf “zurückgespielt”. Zutreffend ist, dass das OVG die Entscheidung des VG Düsseldorf teilweise abänderte und die Behörde neu entscheiden ließ.
OVG zu Ermessensfehler: . In: Legal Tribune Online, 08.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54954 (abgerufen am: 02.12.2024 )
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